„Wir laufen unrealistischen Plänen hinterher.“ Hessens Ex-Regierungschef fordert höhere CO2-Preise statt der Verbote des Wirtschaftsministers und eine Entfesselung des Markts. – Nachfolgend dokumentieren wir ein Interview von Felix Hackenbruch und Christoph von Marshall mit dem Vorsitzenden der Ludwig-Erhard-Stiftung, Roland Koch. Das Interview erschien zunächst in Der Tagesspiegel vom 19. März 2023.

Roland Koch spricht aus zwei Perspektiven: der des Politikers und der des Wirtschaftsmanagers. Von 1999 bis 2010 war er hessischer Ministerpräsident. Danach leitete er drei Jahre den international agierenden, deutschen Baukonzern Bilfinger. Nun ist er Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung – benannt nach dem Kanzler, der die Soziale Marktwirtschaft erfand.

Was lässt sich vom Vater des Wirtschaftswunders für Klimaneutralität ohne Wohlstandsverluste lernen? Die Themen reichen vom Bau von Wind- und Solaranlagen über das Verbot von Gasheizungen, das Fliegen mit E-Fuels, Atomkraftkraft und Bratwürste aus Blumenkohl bis zu Schwarz-Grün und die Hessenwahl.

Herr Koch, nächste Woche stimmt Berlin in einem Volksentscheid darüber ab, ob die Stadt bis 2030 klimaneutral werden soll. Wie würden Sie votieren?
Ich bin skeptisch, wenn Politik daraus die Legitimation ableitet, das ganze Leben auf dieses eine Ziel hin zu organisieren. Es ist richtig, dass wir unsere Lebensweise in Einklang mit der Umwelt bringen müssen.

Der Glaube aber, das könne man per Gesetz anordnen und dann wäre es geschafft, wird zu Enttäuschung über die Demokratie führen. Und zum Vorwurf einer Missachtung des Bürgerwillens, wenn das Ziel nicht auf Knopfdruck erreicht wird.

Wie steht es generell um das Verhältnis von Wunsch und Wirklichkeit in der deutschen Klimapolitik?
Meine Generation hat das Ziel nicht mit der nötigen Intensität verfolgt. Europa hat sich auf dem Vorteil ausgeruht, nach der Wende viele schmutzige Betriebe im Osten schließen zu können. Das hat den Handel mit Verschmutzungsrechten torpediert.

„Der CO2-Preis müsste über 100 Euro pro Tonne liegen statt heute 30 Euro.“

Dabei haben wir Europäer das System der Emissionszertifikate in den 1980er Jahren erfunden. Konsequent angewendet hat es übrigens Arnold Schwarzenegger in Kalifornien. Der CO2-Preis müsste über 100 Euro pro Tonne liegen statt den heute 30 Euro, um Anreize zu setzen.

Gelingt der Wandel nicht schneller mit klaren Vorgaben, wie es der Volksentscheid fordert?
Der Zorn der jungen Generation ist verständlich. Es führt aber zu nichts Gutem, mit dem Fuß aufzustampfen und mit Verboten und Anordnungen zu arbeiten nach dem Motto: Das kommt übermorgen so.

Das wird die Gesellschaft spalten und den Prozess verlangsamen. Und wir werden Wohlstand verlieren, den wir nicht verlieren müssen. Das Gewünschte lässt sich nicht per Befehl so idealtypisch erreichen, wie es grüne Politik suggeriert.

„Die Regierung will fünf Windräder pro Tag errichten. Im ersten Halbjahr 2022 haben wir ein Zehntel davon geschafft. Es gibt nicht genug Material, nicht genug Investoren.“

Warum?
Die Bundesregierung arbeitet mit Plänen und Zielen für 2030, die nach der Erfahrung der letzten Jahre unrealistisch sind. Sie will vier bis fünf Windräder pro Tag errichten. Im ersten Halbjahr 2022 haben wir eine halbe Anlage pro Tag geschafft, ein Zehntel. Sie will 30 Gaskraftwerke bis 2030 errichten, obwohl wir bisher binnen sechs Jahren nicht einmal ein einziges Genehmigungsverfahren durchbringen.

Sie will täglich die Fläche von 40 Fußballfeldern mit Solaranlagen bebauen. Kein Mensch glaubt das. Daher trägt es nicht mal zur Beruhigung bei. Das sind aberwitzige Szenarien. Es gibt nicht genug Material, nicht genug Investoren. Die Stromleitungen reichen nicht für die geplante Vermehrung von Wärmepumpen und E-Autos.

Wir laufen unrealistischen Plänen hinterher. Sich darauf zu verlassen, dass sie funktionieren und andere Energiequellen abzuschalten, ist hochgefährlich.

Das muss nicht so bleiben. Das Wirtschaftsministerium hat 2021 22 Gesetze zum Energiemarkt verabschiedet und Genehmigungsverfahren vereinfacht, um die Dinge zu beschleunigen.
Ich halte es für möglich, mehr als 500 Windräder pro Jahr zu bauen. Die Frage ist: wann. Die Bürger, die die allgemeinen Ziele sicher aus vollem Herzen begrüßen, aber gegen ein konkretes Projekt vor ihrer Haustüre sind, werden auf ihre Einspruchsrechte nicht verzichten.

„Der Bund hat die Vorgaben geändert: lieber ein paar mehr tote Vögel als keine Energie.“

Um die Dinge zu beschleunigen, hat der Bund die Vorgaben geändert: lieber ein paar mehr tote Vögel als keine Energie. Das macht dem Beamten die Abwägung bei der Genehmigung leichter. Aber in der Demokratie werden Anlagen nicht auf Befehl der Regierung gebaut.

Wegen der Eingriffe von oben ist die Bereitschaft, in erneuerbare Energien zu investieren, zurückgegangen. Das kann man ändern durch die richtigen Anreize.

Was ist der Gegenvorschlag?
Die Methode ist falsch. Die Bundesregierung gibt sektorspezifisch Einsparziele mit apodiktischer Verbindlichkeit vor. Wenn Zweifel aufkommen, ob das geht, heißt es: Dann machen wir noch ein Verbot. Damit versetzt sie die Bürger in Panik und zerstört jede innovative Dynamik.

Wir müssen umgekehrt die Kreativität der Leute nutzen, um die Klimaziele zu erreichen. Die Schwarmintelligenz der Menschen kommt auf Ideen, auf die Regierungen nicht kommen, und erreicht sie schneller. Ich kritisiere nicht die Klimaziele, sondern die Verbissenheit, einen bestimmten Weg vorzugeben

Trägt die Union da eine Mitschuld? Robert Habeck muss aufholen, was die Regierung Merkel hat schleifen lassen.
Ich nehme die Union da nicht aus. Aber es waren vor allem Sozialdemokraten, die die Nachhaltigkeit von CO2-Abgaben bekämpft haben. Der Ministerpräsident von Niedersachsen, Stephan Weil, wollte das weder der Autoindustrie noch den Arbeitnehmern zumuten.

Der Aufholprozess bei der CO2-Reduzierung verursacht Schmerzen. Mit den Einnahmen aus einem CO-2-Preis von 100 Euro kann man das sozial abfedern.

„Das Verbot von Gasheizungen halte ich für falsch. Man muss den massiven Druck des Preises zulassen, damit die Leute sich dagegen entscheiden.“

Das Verbot von Gasheizungen halte ich für falsch. Wer will, dass die Leute sich umstellen, darf nicht erst Gas durch Subventionen verbilligen und dann mit dem Verbot kommen. Er muss den massiven Druck des Preises zulassen, damit die Menschen kalkulieren können und sich gegen Gasheizungen entscheiden. Dann bauen sie auch nicht kurz vor dem Verbot noch schnell eine Gasheizung ein.

Ein deutlich höherer CO2-Preis würde Fleisch, Sprit und Heizen verteuern. Wäre das sozial ungerecht?
Genau mit dieser Frage hat sich sehr substantiell ein Sondergutachten der Wirtschaftsweisen in 2019 beschäftigt. Das Geld, das mit einer CO2-Abgabe gewonnen wird, muss zu bestimmten Teilen den Bürgern zur Abfederung sozialer Härten zurückgegeben werden.

Beides gehört zusammen und es ist dann die Entscheidung der Bürger, wie sie die zusätzlichen Mittel in ihrem persönlichen Interesse nutzen. Aber die soziale Frage ist kein gutes Argument gegen die Bepreisung von CO2.

Ist das 1,5 Grad-Ziel noch realistisch?
Da muss man differenzieren. Der deutsche Beitrag zu diesem Ziel ist erreichbar. Es ist nicht ganz klar, in welchem Jahr.

Ich bin skeptischer, ob es gelingt, die internationalen Abkommen weltweit durchzusetzen. Die Wahrscheinlichkeit steigt, wenn wir den billigsten Weg finden, und sinkt, wenn wir den brutalsten Weg wählen.

Wir werden nicht zum Vorbild, wenn wir der Welt sagen, dass wir auf das Bruttosozialprodukt von 1978 zurückfallen müssen, damit die Welt sauber ist. Das funktioniert nicht in Deutschland – und im „Rest der Welt“ ohnehin nicht. Mein Eindruck ist, dass die Welt sich nicht nach deutschen Oberlehrern sehnt.

Kann Klimaneutralität ohne Verzicht gelingen?
Im Prinzip ja, aber es muss Verhaltensänderungen geben. Wir werden weiterhin duschen und heizen – das war eine absurde Diskussion, die wir diesen Winter erlebt haben. Lebensgewohnheiten werden sich verändern, allein schon durch Preise. Welche, das ist aber gesellschaftlich noch offen.

„Viele wettern gegen das Fliegen. Ich möchte BioFuels für Flugzeuge, damit junge Menschen die Welt kennenlernen.“

Es gibt viele Menschen, die gegen das Fliegen wettern. Ich möchte lieber BioFuels für Flugzeuge, denn ich halte es für wichtig, dass alle, vor allem auch junge Menschen in ihrem Leben die Chance haben, die Welt und die Diversität unseres Globus kennen zu lernen. Dass das gerade jungen Menschen verwehrt war, war eine traurige Begleiterscheinung von Corona. Dieser Austausch fördert unser friedliches Zusammenleben.

Unseren Fleischkonsum werden wir dagegen überdenken, da gibt es jetzt schon viele tolle Ersatzprodukte. Die Bratwurst, die zu 70 Prozent aus Blumenkohl und nur zu 30 Prozent aus Rindfleisch besteht, kann ich nicht von einer herkömmlichen Bratwurst unterscheiden. Ich bin bestimmt kein ideologischer Veganer, aber wieso soll ich diese Bratwurst nicht essen? Aber ich muss es frei entscheiden können.

Robert Habeck spricht sich für eine sozial-ökologische Marktwirtschaft aus. Was sagt der Vorsitzende der Ludwig-Erhard-Stiftung dazu?
Die Soziale Marktwirtschaft ist so gestaltet, dass sie alle ökologischen Aspekte beinhaltet. Es ist nicht klug, immer nur den Namen von irgendetwas zu ändern. Der Begriff ist ein Qualitätsmerkmal, aber mit ihm muss gearbeitet werden. Der faire Ausgleich muss heute viel mehr mitgedacht werden.

Erhards zentrale Formel „Wohlstand für alle“ ist hochaktuell, weil sie unser Menschenbild und die demokratische Stabilität zusammenfasst. Interessengegensätze müssen gemanagt, das kapitalistische Gewinnstreben muss moderiert werden. Die Soziale Marktwirtschaft ist die Antwort.

Wird der Weg zur deutschen Klimaneutralität ohne Wohlstandsverluste ablaufen?
Das halte ich nicht für entschieden, aber für möglich. Die Wahrscheinlichkeit, Wohlstandsverluste zu verhindern, steigt, je mehr Alternativen wir auf unserem Weg zulassen. Jede Alternative kann ein Stück zum Erfolg beitragen und damit volkswirtschaftlichen Gewinn und Arbeitsplätze darstellen.

„Die Leute, die nach Alternativen suchen, müssen große Freiheit haben und nicht große Reglementierung.“

Welche Techniken und Methoden würden Sie forcieren?
Es geht um den Unterschied in der Methode. Schritt eins. Was man nicht haben will, etwa CO2, muss teuer werden. Schritt 2: Die Leute, die nach Alternativen suchen, müssen große Freiheit haben und nicht große Reglementierung.

Bei E-Fuels zum Beispiel meint die Bundesregierung, dass die nicht ausreichend und billig zur Verfügung stehen werden. Warum geben wir der Industrie nicht den Anreiz, wirtschaftlich große Erfolge damit zu erzielen, solche Treibstoffe schneller und billiger anzubieten, als bisher gedacht? Das hilft unseren Umweltzielen, denn in dem Jahr, in dem Neuwagen mit Verbrenner verboten sind, werden wir doch noch für lange Zeit klimaneutralen Treibstoff für viele Millionen älterer Autos brauchen.

Und wir müssen das CO2 aus der Luft holen, Stichwort CCS und CCU. Da sind wir Deutsche technisch Weltmeister und in der Umsetzung bei Null. Die USA sind da viel weiter.

CO2 ist im Übrigen ein Rohstoff, den die Chemie-Industrie nutzen könnte. Technisch ist das alles machbar, aber wenn ich nur ideologisch ein Enddatum beschließe und nur mit Verboten arbeite, schaffe ich keine wirtschaftlichen Anreize, Teil der Lösung zu sein.

Befürchten Sie eine Abwanderung deutscher Konzerne ins Ausland wegen der Energiekosten?
Wenn wir weiter entkoppelt vom Rest der Welt die Energiepreise hochtreiben, werden wir eine Verlagerung von Produktionen erleben. Unsere Politik in Deutschland macht es für Unternehmen leider reizvoll, in andere Regionen mit preiswerteren Energiekosten abzuwandern.

Ist die Stromversorgung in Zukunft gesichert?
Realistischer Weise kann man davon ausgehen, dass wir viel mehr Strom benötigen als heute. 2040 können wir den eventuell aus Erneuerbaren Energien produzieren. Wir müssen aber auch die Übergangszeit bedenken.

„Europas Strom wird in den kommenden 15 Jahren zum großen Teil aus Atomkraft stammen.“

Ich würde die CO2-freien Kernkraftwerke weiterlaufen lassen, aber der Zug scheint abgefahren. Deswegen müssen wir wenigstens einen europäischen Stromverbund gewährleisten, den wir nicht ablehnen dürfen, nur weil unsere Nachbarn sogar neue moderne Kernkraftwerke bauen. Dieser europäische Stromverbund wird uns die kommenden 15 Jahre absichern, wenn wir Dunkelflaute haben. Und wird zum großen Teil aus Atomkraft stammen.

Sie kennen beide Seiten: Entscheidet die Politik oder die Wirtschaft über das Gelingen der Energiewende?
Als Ministerpräsident hatte ich deutlich mehr Gestaltungsmacht als in der Privatwirtschaft. Schon die Frage, ob sich ein Unternehmen ansiedeln kann, wird politisch entschieden. Auch mit Subventionen und Steuern lenkt die Politik.

Wir sind kein Staat, der nur zuschaut, wie sich die Dinge entwickeln. Die Frage ist, ob Politik intelligente Rahmen setzt und die Akteure dann machen lässt. Oder ob man sich mit Verboten dressierte Affen hält.

„In Hessen haben wir gute Erfahrungen mit Schwarz-Grün gemacht.“

Sie haben in diesem Gespräch vor allem die Grünen-Politik in der Bundesregierung kritisiert. Wieso sollte dann Schwarz-Grün in Hessen nach den Wahlen im Herbst fortgesetzt werden?
In Hessen haben wir gute Erfahrungen mit diesem Bündnis gemacht. Beiden Seiten waren zu Kompromissen bereit.

Beim Grundverständnis des Verhältnisses von Staat und Bevölkerung sind CDU und Grünen einander näher als der Sozialdemokratie. Die SPD hat die Ordnungsvorstellung, dass Menschen betreut werden müssen. Die Grünen empfinden den Menschen als selbstständig, wollen ihn aber stärker lenken.

Mit dem hessischen Spitzenkandidaten der Grünen, Tarek Al-Wazir, haben Sie früher eine Feindschaft gepflegt. Haben sich die Rollen verändert?
Wahlkampf hat etwas mit Kampf zu tun. Auseinandersetzungen dürfen auch mal pointiert und scharf sein – Ihren Begriff Feindschaft würde ich mir jedenfalls niemals zu eigen machen.

Tarek Al-Wazir ist im Land ein sehr verlässlicher Regierungspartner. Er hat dafür teils seine ideologische Basis gegen sich aufgebracht, aber das muss man manchmal tun, wenn man das ganze Land im Blick hat.

Wer gewinnt denn nun die Hessenwahl?
Demoskopisch lässt sich eine Landtagswahl erst sechs Wochen vor der Wahl erkennen, davor sehen wir nur den Bundestrend. Der CDU in Hessen ist mit Boris Rhein aber ein erfolgreicher Wechsel gelungen.

Nun muss sie klar stärkste Kraft bleiben, damit Grüne und SPD sich nicht gegen sie verbünden. FDP und Linke haben derzeit eher schwache Umfragewerte, das trägt zusätzlich zur Spannung bei. Hessenwahlen sind immer spannend – und die CDU muss stark sein.

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