Der Corona-Schock sei aus ökonomischer Sicht vergleichsweise gut verdaulich, so Gabriel Felbermayr und Stefan Kooths. Nachhaltiger als die pandemiebedingten Schäden würden jedoch politikbestimmte Defekte den Wohlstand bedrohen.

Während der Zeit der Corona-Pandemie wurde wirtschaftliche Aktivität massiv unterbrochen, die Produktionsstrukturen wurden dadurch im Wesentlichen aber nicht infrage gestellt. Der Wirtschaftspolitik kommt in einer solchen Situation die Aufgabe zu, die marktfähigen Unternehmen über die Durststrecke des Stillstands zu bringen. Je besser das gelingt, desto leichter fällt der  Wirtschaft die Erholung aus eigener Kraft.

Während der Pandemiezeit hielten die privaten Haushalte massiv Kaufkraft zurück, die dann umso mehr diejenigen Branchen anregen wird, die zuvor besonders gelitten haben. Weil Kaufkraft damit kein Engpass für den Erholungsprozess ist, gingen Konjunkturprogramme wie eine Mehrwertsteuersenkung am Kern der Krise vorbei. Nicht die Auslastung vorhandener Kapazitäten durch mangelnde Nachfrage war das Problem, sondern ihr Brachliegen durch seuchenpolitische Stilllegung.

Das als Wumms-Politik gepriesene Viel-hilft-viel-Denken trieb weitere Blüten mit schädlichen Folgen über die Pandemiezeit hinaus. Es ist polit-ökonomisch ein bekanntes Muster, dass in Wirtschaftskrisen Projekte auf (Wieder-)Vorlage kommen, die in normalen Zeiten keine Mehrheit finden. Mit dem Anti-Krisen-Etikett wird zweifelhaften Ausgaben nun aber ein vermeintlicher makroökonomischer Mehrwert zugeschrieben.

Weite Teile des im vergangenen Jahr verabschiedeten „Zukunftspakets“ und des sogenannten EU-Wiederaufbauprogramms fallen in diese Kategorie. Es sind im Wesentlichen politische Transformationsprojekte, die erst zum Tragen kommen, wenn die Pandemie ausgestanden ist. Manche darin enthaltene Infrastrukturmaßnahme mag sinnvoll sein — zur Krisenabwehr tragen diese Maßnahmen indes nichts bei.

Stabilisierungspolitik und Strukturpolitik sind zwei Paar Schuhe: Stabilisierungspolitik soll kurzfristig bestehende Kapazitäten während einer Krise stützen. Strukturpolitik kann immer nur längerfristig erfolgreich sein und operiert idealerweise nicht mit diskretionären Interventionen, sondern mit einer Anpassung des Ordnungsrahmens, innerhalb dessen sich die ökonomischen Akteure durch die Ausrichtung ihres Verhaltens an Preissignale anpassen.

Politik im Anti-Krisenreflex

Die Pandemie liefert keinerlei Gründe, davon abzuweichen. Gegen die Krise helfen industriepolitische Fiskalprogramme nicht, weil die von Shutdowns betroffenen Branchen gerade nicht diejenigen sind, die von den neuen Subventionen profitieren. Weil alle Länder aus der Krise ökonomisch geschwächt hervorgehen, haben sich die strukturellen staatlichen Ausgabespielräume nicht erweitert, sondern eher verengt.

Im Ergebnis wird so in einem Anti-Krisenreflex eine Politik betrieben, die weder stabilisiert noch strukturpolitisch sinnvolle Instrumente einsetzt. Beides macht die Menschen über die Folgen der Pandemie hinaus ärmer. Auf der Ebene der EU beziehungsweise des Euroraums sind die politischen Folgeschäden der Krisenreaktion noch gravierender, weil der Ordnungsrahmen weiter deformiert wurde. Nachdem schon in der europäischen Schuldenkrise die Nichtbeistandsklausel des Maastricht-Vertrags über Bord ging, fiel in der Corona-Krise das Verschuldungsverbot für den EU-Haushalt, ohne dass sichergestellt worden wäre, dass damit investive Vorhaben mit europäischem Mehrwert finanziert würden.

Dabei dürfte es kaum bei einer einmaligen Ausnahme bleiben. Einige Mitgliedsländer befinden sich fiskalisch in einer so angespannten Lage, dass sie bereits vor der Pandemie den uneingeschränkten Zugang zum Kapitalmarkt verloren hatten. In Italien ist im Streit über die Verwendung der EU-Gelder bereits eine Regierung zerbrochen, was symptomatisch für die eigentlichen Schwierigkeiten in den Problemländern ist. Und auch solvente Länder müssen nun Gelder, für die sie selbst bürgen, zuvor bei der EU-Kommission beantragen. So entsteht eine Fiskalebene, die dem Subsidiaritätsprinzip zuwiderläuft.

Die verschiedenen Instrumente der Haftungsvergemeinschaftung (Gemeinschaftsschulden, monetäre Staatsfinanzierung) erhöhen die Schuldentragfähigkeit über alle Länder. Damit zögern sie den Prozess der Gesamtüberschuldung aber nur hinaus. Statt umzukehren, ging man im Zuge der Corona-Krise abermals große Schritte in die falsche Richtung.

Diese fiskalische Großzügigkeit engt auch die Handlungsfähigkeit der EZB ein. Das Regelwerk, das davor einst schützen sollte, ist mittlerweile so durchlöchert, dass die Risiken für die Währungsstabilität immer größer werden. Und wie einst aus der temporären Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus eine Dauerinstitution wurde, droht mit den als Ausnahme deklarierten neuen EU-Schulden der Einstieg in ein anderes Fiskalregime. Wenn in Krisenzeiten zentrale Stabilitätspfeiler wiederholt mit Ad-hoc-Maßnahmen geschleift werden, leidet auch das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit.

Ein Ordnungsrahmen hilft den Akteuren, Erwartungen zu bilden. Er muss daher gerade in Krisenzeiten verlässlich sein. Für einen anderen Ordnungsrahmen bedarf es einer öffentlichen Debatte. Je nach ihrem Ausgang sollte man dann entweder die EU-Verträge ändern oder den Weg zurück in die ursprünglich vereinbarte Stabilitätsordnung bahnen. Beides sind Kraftakte. Sie immer weiter vor sich herzuschieben, mag kurzfristig die einfachste Lösung sein, langfristig ist es mit Sicherheit die teuerste.

„Weiter so“ unkluge Devise

Nicht nur auf EU-Ebene, sondern auch in der deutschen Wirtschafts-und Finanzpolitik ist ein „Weiter so“ eine unkluge Devise. Seit der Jahrtausendwende nimmt der Zugriff des Staats auf die Wirtschaftsleistung im Trend zu. Vor der Corona-Pandemie erreichte die Staatseinnahmenquote mit 46,7 Prozent einen gesamtdeutschen Rekordwert. Die Steuerlast dehnt sich dabei seit Längerem besonders dynamisch aus. Seit einigen Jahren steigen zudem die Sozialversicherungsbeiträge kräftiger als die Einkommen. Dabei stehen die Folgen des demografischen Wandels erst noch bevor.

Umso größer werden die Verteilungskonflikte in den 2020er-Jahren. Auch deshalb, weil die Niedrigzinsphase den Finanzministern seit der Finanzkrise das Leben allzu leicht gemacht hat. Die Politik hat sich an einen Modus gewöhnt, neuen Begehrlichkeiten durch Mehrausgaben zu entsprechen, statt Prioritäten zu setzen. Auch die Debatte um die Schuldenbremse krankt daran.

Das ordnungspolitische Grundproblem der Politik lässt sich als Gulliver-Syndrom beschreiben: Wie auch Gulliver nicht von einem einzigen Faden am Boden gehalten wurde, ist es nie eine einzelne Regulierung oder ein einzelnes Ausgabenvorhaben, wodurch die wirtschaftliche Dynamik leidet. Es ist die Summe solcher Maßnahmen, deren schiere Quantität die Qualität der Wirtschaftsordnung angreift. So mag ein neues Großvorhaben, das zwei Prozent der Wirtschaftsleistung in Anspruch nimmt, für sich genommen attraktiv erscheinen. Wenn aber 50 von solchen Vorhaben angegangen werden, dann bleibt auch theoretisch von der Marktwirtschaft nichts übrig.

Die praktischen Grenzen werden freilich schon viel früher akut. Anstatt diese Grenze auszutesten, sollte die Politik wieder einen Sicherheitsabstand einziehen. Das geht nur mit den Marktkräften und nicht gegen sie. Und es braucht einen ordnungspolitischen Kompass — gerade in Krisenzeiten. Andernfalls entfernt man sich mit jeder Krise weiter von der marktwirtschaftlichen Ordnung.

Dieser Beitrag ist zuerst im Heft „Wohlstand für Alle – Vorteil Marktwirtschaft“  von Juli 2021 erschienen. Das Heft kann unter info@ludwig-erhard-stiftung.de bestellt werden; oder lesen Sie es hier als PDF.

Prof. Gabriel Felbermayr PhD ist Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. Am 1. Oktober 2021 übernimmt er die Leitung des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO). Prof. Dr. Stefan Kooths ist Direktor Konjunktur und Wachstum am Kieler Institut für Weltwirtschaft.

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