Während der Präsident der US-Notenbank ins Kalkül zieht, dass die Inflationsrate höher und beharrlicher sein könnte als erwartet, hält die EZB auch mit ihrer neuen geldpolitischen Strategie am expansiven Kurs fest. Das könnte zum Problem für die ordnungspolitisch so wichtige Stabilität des Geldwertes werden, meint Dietrich Schönwitz.

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat sich mit ihrer neuen geldpolitischen Strategie mehr Flexibilität bei der Verfolgung ihres Primärzieles Preisstabilität verschafft. Angesichts von Preissteigerungstendenzen und reichlicher Liquiditätsversorgung im Euroraum ist es jedoch problematisch, dass der neue Spielraum genutzt wurde, um die expansive Geldpolitik mittelfristig fortzusetzen.

Die am 8. Juli 2021 verkündete neue Strategie der EZB beinhaltet als Kernelement eine symmetrische Definition des Inflationszieles. Mittelfristig werden zwei Prozent Preissteigerung angestrebt. Die zuvor gültige Zielvorgabe sah Preissteigerungen von unter, aber nahe bei zwei Prozent vor. Damit sollte einerseits genügend Abstand zu deflationären Entwicklungen gewährleistet und andererseits eine leicht verständliche Obergrenze vorgegeben werden. Nach der neuen Zielvorgabe sind zwar positive ebenso wie negative Abweichungen von der Zielvorgabe unerwünscht. Das Mehr an Flexibilität in der Geldpolitik zeigt sich jedoch darin, dass – so die EZB in ihrer Erklärung zur geldpolitischen Strategie – die Inflation vorübergehend auch leicht über dem Zielwert liegen kann. Preissteigerungen wären dann ein transitorisches Phänomen.

Uneingeschränkte Anleiheankäufe bis Ende 2022

Gemäß Beschluss des EZB-Rats vom 22. Juli 2021 wird die lockere Geldpolitik trotz im Euroraum bestehender Aufwärtsrisiken für die Preisentwicklung fortgesetzt, indem der Leitzins weiterhin bei 0,00 Prozent belassen wird, sowie die Anleihekäufe im Rahmen des Programms zum Ankauf von Vermögenswerten (Asset Purchase Programme, APP) und des Pandemie-Notfallkaufprogramms (PEPP) bis mindestens Ende 2022 fortgeführt werden sollen. Bundesbankpräsident Jens Weidmann hat im EZB-Rat gegen den Beschluss zu diesem geldpolitischen Ausblick gestimmt. Ihm sei „die potenziell zu lange Fortschreibung zu weitgehend.“ Weidmann hatte zuvor – ohne einen Zeitpunkt zu nennen – in einer Keynote „Wirtschaft und Geldpolitik auf dem Weg aus dem Krisenmodus“ vorgeschlagen, dass die Anleihekäufe im Rahmen des PEPP schrittweise zurückgeführt werden könnten, um einen abrupten Ausstieg zu vermeiden. Damit würde ein Überdenken des geldpolitischen Kurses signalisiert. Mit Blick auf die weltwirtschaftliche Einbindung der Geldpolitik ergibt sich mit dem uneingeschränkten Festhalten der EZB an ihrer expansiven Geldpolitik eine bemerkenswerte Konstellation, indem von der Vorgehensweise der US-Notenbank Federal Reserve (Fed) abgewichen wird und nachhaltige Inflationsbefürchtungen nicht zum Tragen kommen.

Fed überdenkt Niedrigzinspolitik

Die Fed hat im Juni 2021 erstmals eine Änderung ihrer Niedrigzinspolitik angekündigt. Für Ende 2023 erwartet sie einen Anstieg ihres Leitzinses in zwei Etappen um insgesamt 0,5 Prozentpunkte. In einer ergänzenden Stellungnahme signalisierte Jerome Powell, Präsident der Fed, dass eine Strategieänderung diskutiert werde. Dabei gehe es beim Abbau der Anleihekäufe vor allem um Timing, Geschwindigkeit und Ausgestaltung. Es könnte sich zeigen, so Powell am 28. Juli 2021, „… that inflation could turn out to be higher and more persistent than we expected.“ Damit wird eingeräumt, dass die auch in den Vereinigte Staaten zu beobachtenden Preissteigerungen nicht nur ein transitorisches Phänomen aufgrund pandemiebedingter Störungen der Lieferketten und sich einregulierender Nachfrageüberschüsse sein könnten. Eine solche Schlussfolgerung liegt angesichts der bestehenden Aufwärtsrisiken für die Preisentwicklung auch für den Euroraum nahe. Die Vorgehensweise der EZB erweist sich insofern als problematisch.

Aufwärtsrisiken für die Preisentwicklung

Im Juni 2021 lag die Preissteigerungsrate im Euroraum zwar mit 1,9 Prozent noch unter dem Zielwert von 2 Prozent, es zeigte sich in der ersten Jahreshälfte jedoch ein tendenzieller Anstieg der Preissteigerungsraten um knapp einen Prozentpunkt. Für Deutschland teilt das Statistische Bundesamt mit, dass die Inflationsrate im Juli 2021 nach einer ersten Berechnung um 3,8 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat zugenommen hat. Aufwärtsrisiken für die Preisentwicklung könnten im Zusammenwirken mit Preissteigerungen ausgleichenden Lohnforderungen zu einer Verfestigung der inflationären Entwicklung führen, die in Deutschland zunächst vor allem durch steigende Energiepreise und den Wegfall der Mehrwertsteuersenkung bedingt sein mag. Derartige Risiken im Euroraum spiegeln sich im durch Anleihekäufe verursachten Anstieg der Bilanzsumme der EZB von 257 Milliarden Euro im Jahr 2015 auf 569 Milliarden Euro im Jahr 2020 und in einer deutlichen Erhöhung der kaufkraftwirksamen Geldmenge bei inländischen Nichtbanken (M3) um rund 3.670 Milliarden Euro im gleichen Zeitraum wider. Hinzu kommt, dass ein Teil der Geldflut in den Euro Ländern infolge von Konsumeinschränkungen während der Pandemie als unfreiwillige Ersparnisbildung in eine Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Sparquote Privater von rund 13 Prozent im Jahr 2019 auf rund 20 Prozent im Jahr 2020 geflossen ist. Mit Abklingen der Pandemie stellt auch dies Potenzial für Konsumgüternachfrage und weiter preistreibende Entwicklungen dar.

Preisstabilität ist konstituierendes Prinzip

Entscheidend wird nun sein, ob diese Einflussfaktoren in einen sich selbst verstärkenden Inflationsverlauf führen – wenn dem nicht rechtzeitig gegengesteuert wird. Die Fed hat hierfür eine Inflationsrisiken abwägende Vorgehensweise aufgezeigt. Ordnungspolitisch ist zu wünschen, dass die gewonnene Flexibilität der EZB nicht in eine Haltung mündet, die Inflationsrisiken unterschätzt und Preisstabilität als „konstituierendes Prinzip“ – wie Walter Eucken es ausdrückte – marktwirtschaftlicher Ordnungen angesichts hoher Staatsverschuldung im Euroraum und daraus resultierendem Interesse an einem Niedrigzinsumfeld nicht mehr hoch genug gewichtet.

Prof. Dr. Dietrich Schönwitz, Rektor der Hochschule der Deutschen Bundesbank im Ruhestand

DRUCKEN
DRUCKEN