Die aus den USA stammende „Modern Monetary Theory“ findet als sogenannte Kopernikanische Wende der Geldpolitik zunehmend mehr Anhänger. Mit ihrer Kritik an der Trennung von Geldpolitik und Fiskalpolitik und damit an der Unabhängigkeit der Notenbanken erweist sie sich jedoch als ordnungspolitischer Irrweg.

Im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts stehen die politischen Entscheidungsträger national und international erstens mit der Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen, die die Corona-Pandemie hinterlässt, zweitens mit der Bekämpfung des Klimawandels sowie drittens mit dem durch Wanderungs- und Fluchtbewegungen nach Europa entstandenen Migrationsproblem vor gewaltigen finanziellen und konzeptionellen Herausforderungen.

Die Notenbanken, auf Europa bezogen die Europäische Zentralbank (EZB) und die anderen Notenbanken des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB), verfügen über die Ressource, die Politiker nach historischer Erfahrung zur – nicht notwendig immer ursachengerechten – Problemlösung bevorzugen: Geld und Geldschöpfungsmöglichkeiten in einem Papiergeldsystem.

Überlegungen zur Zielvorgabe

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass in der gesellschaftlichen und politischen Debatte Überlegungen angestellt werden, ob die eindeutige Festlegung der EZB auf das Primärziel Preisstabilität angebracht ist beziehungsweise zu eng interpretiert wird. So kündigte die Präsidentin der EZB, Christine Lagarde, bei einer Anhörung im Europäischen Parlament an, im Zuge einer Strategieüberprüfung der Geldpolitik baldmöglichst zu prüfen, ob und wie grüne Anleihekäufe von Staaten und Unternehmen durchgeführt werden können, um ein nachhaltiges, umweltorientiertes Finanzsystem zu fördern.1Vgl. Dietrich Schönwitz, Geldpolitik weiter auf Abwegen – „Green Finance“ durch Quantitative Easing?, 28. November 2019; https://www.ludwig-erhard.de/erhard-aktuell/forum/geldpolitik-weiter-auf-abwegen/

Im Zusammenhang mit der ursachengerechten Bekämpfung des Migrationsproblems durch Kapitalbeschaffung für Investitionsprogramme in Afrika wird die Emission sogenannter „Afrikabonds“ durch die EU beziehungsweise ihre Entwicklungsbanken diskutiert. Dabei stellt sich die Frage, ob diese Anleihen nicht nur privates Kapital mobilisieren sollen, sondern auch von der EZB angekauft werden könnten.2Vgl. Martin Schoeller/Daniel Schönwitz, Afrika First – Die Agenda für unsere gemeinsame Zukunft, Vorwort Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Berlin 2020, Seiten 213 ff. Und zur Unterstützung der Regierungen bei der Bewältigung der Auswirkungen der Corona-Pandemie wurde vom Rat der EZB bereits ein bis zum Jahr 2022 laufendes Anleiheankaufsprogramm in Höhe von 1,85 Billionen Euro beschlossen.

Gravierender Geburtsfehler des Euro?

Erkennbar ist somit eine Tendenz, der EZB und den Notenbanken des ESZB Aufgaben zuzuweisen, die über ihr eigentliches Mandat – Preisstabilität als Fundament für Wachstum und Beschäftigung zu gewährleisten – hinausgehen, es sogar gefährden können. Nach der zunehmend diskutierten Modern Monetary Theory (MMT)3Siehe Bert Rürup, Die ewige Angst vor der Inflation, in: Handelsblatt, Nr. 246, 2020, Seite 12. sind Mehrfachmandate der Notenbanken zu befürworten. Für Stephanie Kelton, namhafte Vertreterin der MMT an der Stony Brook University in New York und Beraterin des demokratischen Präsidentschaftsbewerbers Bernie Sanders, ist deshalb die im Vertrag von Maastricht vorgesehene strikte Trennung von Geldpolitik und Fiskalpolitik der „gravierende Geburtsfehler“ des Euro.4Stephanie Kelton, Wer soll das alles bezahlen? Interview, in: Die Zeit, Nr. 52, 2020, Seite 65.

In den USA zeigen sich bereits erste Auswirkungen der MMT. Jerome Powell, Präsident der US Federal Reserve Bank (Fed), hat anlässlich der internationalen Notenbankkonferenz der Federal Reserve Bank of Kansas City im August 2020 einen Strategiewechsel bekanntgegeben.5Jerome Powell, New Economic Challenges and the Fed’s Monetary Policy Review, 27. August 2020; https://www.federalreserve.gov/newsevents/speech/powell20200827a.htm; siehe hierzu Dietrich Schönwitz, Strategiewechsel der US-Notenbank – Modellcharakter für die EZB?, 4. September 2020; https://www.ludwig-erhard.de/strategiewechsel-der-us-notenbank-modellcharakter-fuer-die-ezb Das Vollbeschäftigungsziel wird nunmehr als „key national goal“ im Sinne einer Maximalauslastung der Beschäftigung neben das Preisstabilitätsziel gesetzt. Lars Feld, Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, urteilte in Bezug auf diesen Strategiewechsel: Es bestehe kein Anlass, die Vorgehensweise der Fed in Europa zu kopieren. Die EZB solle ihr eindeutig definiertes Mandat beibehalten.6Lars Feld, Interview, in: Steingarts Morning Briefing, 1. September 2020.

Fiskalpolitische Dominanz durch MMT

In der Tat ist die Aufgabe der Trennung von Geldpolitik und Fiskalpolitik und die mit ihr einhergehende politische Abhängigkeit der Notenbanken ein gefährlicher Weg, der aller Erfahrung nach dazu führen kann, dass andere wirtschaftspolitische Ziele zulasten der Preisstabilität verfolgt werden. Gemäß den Vertretern der MMT kann der Gefahr fiskalpolitischen Überschwangs durch institutionelle Vorkehrungen für festgelegte staatliche Budgetvorgaben begegnet werden.

Die Erfahrung im Euroraum zeigt jedoch, dass vorgegebene Stabilitäts- und Verschuldungskriterien auf politischen Druck hin relativiert werden, wenn zu ihrer Einhaltung unpopuläre Maßnahmen erforderlich sind. Die nach dem Vertrag von Maastricht mit der Unabhängigkeit der EZB bestehende ordnungspolitische Orientierung würde somit zugunsten einer fiskalpolitischen Dominanz aufgegeben, indem die Notenbank zum Instrument politisch zugewiesener Aufgaben wird. Eine mögliche Relativierung der Bedeutung von Preisstabilität ist demzufolge im Konzept der MMT angelegt.

In der Debatte um aktuelle gesellschaftliche Probleme werden Aufgabenausweitungen der EZB nicht nur von Vertretern der MMT propagiert. So machen Befürworter einer grünen Geldpolitik geltend, dass diejenigen, die grüne Anleihekäufe ablehnen, sich auf eine zu enge Auslegung des Mandats berufen. Die EZB habe nach Artikel 2 ihrer Satzung zusätzlich zur Gewährleistung der Preisstabilität die „allgemeine“ Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft zu unterstützen, soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist. Das rechtfertige grüne Geldpolitik, zumal die mittelfristigen Preissteigerungsaussichten nach Prognosen der Experten in der EZB unter der Zielvorgabe von unter, aber nahe bei zwei Prozent des harmonisierten Preisindex liegen. Man müsse also das Mandat nicht ändern.

Planwirtschaftliche Tendenzen

Verkannt wird bei dieser Argumentation, dass Umweltpolitik keine „allgemeine“ Wirtschaftspolitik ist, sondern Strukturpolitik. Wenn man den Weg eines „going green“ der Geldpolitik gehen wollte, dann könnte ein nächster Schritt sein, andere strukturpolitische Mandate der Notenbank einzufordern, zum Beispiel finanzielle Hilfen für die Automobilindustrie, die Luftfahrtindustrie oder zur Förderung der Digitalisierung. Es bleibt also dabei: Umweltpolitik ist nicht Aufgabe der europäischen Notenbanken.

Jens Weidmann merkte dazu in einem Vortrag für die Humboldt Universität zu Berlin am 16. Dezember 2020 an: „Es ist allerdings nicht unsere Aufgabe als Notenbank, bestimmte Wirtschaftszweige zu bestrafen oder zu fördern. Solche Entscheidungen verschieben die Verteilung von Ressourcen und Einkommen in hohem Maße und erfordern daher eine starke demokratische Legitimation. Deshalb ist Klimapolitik Aufgabe gewählter Regierungen und Parlamente.“7Jens Weidmann, Zu möglichen langfristigen Folgen der Coronakrise für Wirtschaft und Politik, Humboldt Universität zu Berlin, 16. Dezember 2020; https://www.bundesbank.de/de/presse/reden/zu-moeglichen-langfristigen-folgen-der-coronakrise-fuer-wirtschaft-und-geldpolitik-854124 Auch Ankäufe von Afrikabonds zur Kapitalbeschaffung für Investitionen in Entwicklungsländern des afrikanischen Kontinents sind als sicherlich bedeutsame Entwicklungsstrukturpolitik demnach keine geldpolitische Aufgabe.

Allenfalls den Erwerb von Staats- und Unternehmensanleihen zur Abfederung der Folgen der Ausnahmesituation Corona-Pandemie kann man bei nicht enger Auslegung als Unterstützung der allgemeinen Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft betrachten. Allerdings sollte neben der strikten Befristung des Notfallprogramms und unter Berücksichtigung aktueller Prognosen der Preisentwicklung eine Zwischenüberprüfung der Angemessenheit noch vor 2022 erfolgen. Dabei bedeutet die Primärzielvorgabe Preisstabilität, dass das ohnehin sehr hoch dimensionierte Programm zurückzuführen ist, wenn die Preisaussichten dies erfordern.

Katalysatorfunktion der EZB

Die grundlegende Überprüfung der geldpolitischen Strategie der EZB ist noch nicht abgeschlossen. Bereits jetzt zeichnet sich jedoch ab, dass das ESZB auch ohne grüne Anleihekäufe zu einem Katalysator für einen nachhaltiger werdenden Finanzmarkt werden soll, indem zur Bonitätsbeurteilung und Notenbankfähigkeit von Anleiheemittenten nur Ratingagenturen zugelassen werden, die Klimarisiken in ihre Beurteilung einbeziehen. Oder indem nur Anleihen von Unternehmen angekauft beziehungsweise als Pfand für Notenbankkredite an Banken zugelassen werden, die eine differenzierte Umweltberichterstattung vorlegen.8Siehe Jens Weidmann, Zu möglichen langfristigen Folgen der Coronakrise für Wirtschaft und Politik, Humboldt Universität zu Berlin, 16. Dezember 2020; https://www.bundesbank.de/de/presse/reden/zu-moeglichen-langfristigen-folgen-der-coronakrise-fuer-wirtschaft-und-geldpolitik-854124 Das alles befindet sich in der Entwicklung. Es bedeutet: Ein umweltpolitischer Beitrag ist ohne Mandatsüberschreitung möglich.

Um das weiterzuentwickeln haben sich mehr als 70 Notenbanken aus aller Welt zu einem „Network for Greening the Financial System“ (NGFS) zusammengeschlossen.9Vgl. Sabine Mauderer, Climate Risk – the Merits of Transparency and the Role of Central Banks, 24. November 2020; https://www.bundesbank.de/en/press/speeches/climate-risk-the-merits-of-transparency-and-the-role-of-central-banks-851634. Erste Auswirkungen der Vorbild- und Katalysatorfunktion zeigen sich bereits. Ende 2020 hat der Bund in Deutschland, nachdem andere Länder der Eurozone – wie Frankreich, Belgien und die Niederlande – vorgezogen sind, erste grüne Anleihen mit Erfolg platziert.10Vgl. Andrea Cünnen, Deutschland braucht so viel Geld wie nie, in: Handelsblatt, Nr. 246, 2020, Seite 32. Das dabei eingesammelte Geld soll nur für umweltpolitische Projekte eingesetzt werden. Weitere grüne Anleihen des Bundes sollen in der zweiten Jahreshälfte 2021 folgen. Hinzu kommt, dass dreißig institutionelle Großinvestoren sich verpflichtet haben, bis zum Jahr 2050 das von ihnen verwaltete Geld nur noch grün anzulegen.

Als Fazit bleibt festzuhalten: Der bisherige ordnungspolitische Rahmen des ESZB bietet hinsichtlich gesellschaftlichen und politischen Aufgabenanforderungen an die europäische Geldpolitik klare Orientierung. Mit der MMT wird auf eine solche Orientierung verzichtet, indem der Weg zu fiskalpolitischer Dominanz mit nicht vorherbestimmter Aufgabenzuweisung zulasten der Preisstabilität geöffnet wird.

Prof. Dr. Dietrich Schönwitz, Rektor der Hochschule der Deutschen Bundesbank i.R., war vormals wissenschaftlicher Mitarbeiter der Deutschen Monopolkommission.

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