Wir dokumentieren die Rede, die Wolfgang Steiger, Generalsekretär des Wirtschaftsrates der CDU, auf dem ersten Europa-Forum in Berlin gehalten hat. Die gemeinsame Veranstaltung der Ludwig-Erhard-Stiftung und des Wirtschaftsrates fand am 20. November 2018 in Berlin statt.

„Je freier die Wirtschaft, umso sozialer ist sie.“ Dieser Schlüsselsatz von Ludwig Erhard wird heute sicherlich nicht mehr von der Mehrheit der Bürger geteilt. In Umfragen wird regelmäßig der „Gleichheit“ ein höherer Stellenwert als der „Freiheit“ eingeräumt. Nicht einmal in der Partei Ludwig Erhards wird das Bekenntnis zur Freiheit noch auf ungeteilte Zustimmung stoßen.

Umso wichtiger ist der Schulterschluss aller überzeugten Anhänger der Sozialen Marktwirtschaft. Mit der Ludwig-Erhard-Stiftung und dem Wirtschaftsrat haben sich zwei natürliche Partner gefunden: Die Stiftung trägt den Vater des Wirtschaftswunders im Namen. Wir wurden auch auf Initiative von Ludwig Erhard gegründet, und unsere Satzung formuliert unseren Auftrag glasklar: „Zweck des Wirtschaftsrates ist es, an der Verwirklichung und Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft mitzuarbeiten.“ Der Satzungsauftrag der Stiftung liest sich fast wortgleich.

Wirtschaftsrat und Stiftung sind in ihrem Engagement überparteilich aufgestellt. Zahlreiche Persönlichkeiten engagieren sich in beiden Organisationen. Und Wirtschaftsrat wie Ludwig-Erhard-Stiftung verbindet die große gemeinsame Hoffnung: auf eine Rückkehr der Politik zu den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft – zum Grundvertrauen in das Recht, in den Markt und in die Menschen.

Überbordender deutscher Sozialstaat

Ich wiederhole den Kernsatz von Ludwig Erhard: „Je freier die Wirtschaft, umso sozialer ist sie.“ Letztlich ist es besser für alle, Marktkräfte zu nutzen, um einen größeren Kuchen zu backen, statt einen vorhandenen trickreicher zu verteilen.

Doch Deutschland ist dabei, die Quellen seines Wohlstandes zuzuschütten, indem es sich schrittweise von der Sozialen Marktwirtschaft entfernt, leider auch unter der CDU-geführten Bundesregierung: Während 1960 noch weniger als jede dritte Mark durch öffentliche Kassen floss, liegt die Staatsquote mittlerweile bei rund 45 Prozent. Allein für Soziales gibt die Bundesrepublik knapp eine Billion Euro jährlich aus, rund 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. 1960 waren es lediglich 18 Prozent.

Der überbordende deutsche Sozialstaat widerspricht eklatant dem Subsidiaritätsprinzip, und er widerspricht eklatant dem Appell der christlichen Soziallehre an die Eigenverantwortung des Einzelnen. Staatsgläubige aller Parteien wollen dem Staat die Verantwortung für das persönliche Wohlergehen zuschieben. Dabei ist dieses Prinzip vor weniger als 30 Jahren krachend gescheitert. Wir sollten endlich aus Erfahrungen klüger werden.

Ich persönlich halte mich lieber an den Kompass von Ludwig Erhard: „Ich will mich aus eigener Kraft bewähren; ich will das Risiko des Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal selbst verantwortlich sein. Sorge du, Staat, dafür, dass ich dazu in der Lage bin.“

Ludwig Erhard hat mit Blick auf Europa gewarnt: „Wer der Harmonisierungstheorie folgt, darf der Frage nicht ausweichen, wer die Opfer bringen und womit die Zeche bezahlt werden soll. In der praktischen Konsequenz muss ein solcher Wahn, naturnotwendig zur Begründung sogenannter ‚Töpfchen‘ führen, das heißt von Fonds, aus denen alle diejenigen, die im Nachteil sind oder es zu sein glauben, entweder entschädigt oder künstlich hochgepeppelt werden. Das sind aber Prinzipien, die mit einer Marktwirtschaft nicht im Einklang stehen.“

Italien: Das Endspiel um den Euro

Fakt ist, bei vielen aktuellen Vorschlägen beraten wir über Maßnahmen, die mit einer Marktwirtschaft nicht im Einklang stehen. Wie sollen über eine Europäische Fiskalkapazität verteilte Milliarden die astronomisch hohen Lohnnebenkosten in Italien senken, die dortige Strukturschwäche beheben oder etwas daran ändern, dass Italien eines der ineffizientesten Rechtssysteme der Welt besitzt? Gerade die Entwicklungen in Italien zeigen uns doch, dass wir eine Neubewertung und einen Richtungswechsel vornehmen müssen.

Es wird deutlich, dass wir die Euro-Krise keineswegs überwunden haben. Wir haben mit der Geldpolitik nur den Pausenknopf gedrückt. Hinter der Fassade nehmen die Spannungen unübersehbar zu und suchen nach Entladung. Italien hat die höchsten Target-Verbindlichkeiten, den größten Berg an faulen Krediten in den Bankbilanzen, die engste Vermischung von Bank- und Staatsschulden und die höchste Abhängigkeit vom Staatsanleihekaufprogramm der EZB.

Das Dilemma ist offensichtlich: Ein hartes Spar- und Reformprogramm machen die Bürger Italiens nicht mehr mit. Die haben jetzt über zehn Jahre Flaute hinter sich – das Pro-Kopf Einkommen liegt unter dem von 2007. Italien ist das einzige Land der Eurozone, dessen Wohlstandsniveau seit Einführung der Gemeinschaftswährung gesunken ist.

Die Alternative, eine Transferunion, bei der die fehlende Wettbewerbsfähigkeit dauerhaft durch Gelder aus anderen Ländern finanziert wird, machen die Bürger der nordischen Länder nicht ewig mit. Warum sollten sie auch? Mehrere Studien belegen, dass das Median-Vermögen in Italien mehr als doppelt so hoch ist wie das deutsche. Deshalb ist jetzt nicht europäische Solidarität gefragt, sondern eine kluge nationale Steuergesetzgebung in Italien.

Ich bleibe dabei: In Italien findet das Endspiel um den Euro statt. Aber der Schlüssel, um das italienische Dilemma zu lösen, liegt in Wirklichkeit nur in Italien. Und Potenzial gibt es dort reichlich. Natürlich ist Italien überschuldet und mit tiefgehenden strukturellen Schwächen belastet. Es ist aber auch mit einer enormen industriellen Substanz ausgestattet. Italiens wichtigste Exportbranche ist immerhin die Königsdisziplin der Industrie: der Maschinenbau. 2017 fuhr sie das beste Exportergebnis aller Zeiten ein.

Gestalten statt retten!

Die Politik des Zeit-Kaufens, der Risikoteilung und der Solidarität basiert auf der Erwartung, dass sie eine Dynamik der Eigenverantwortung entfacht. „Hilfe zur Selbsthilfe“ oder „Gelder nur gegen Reformen“ waren immer wieder die Narrative, mit denen die Feuerwehreinsätze gerechtfertigt wurden. Doch wie gehen wir jetzt damit um, dass diese Begründung immer mehr an Substanz verliert?

Manfred Weber, der EVP-Spitzenkandidat für die Europawahl, hat angekündigt, die Europäische Identität zum Schwerpunkt seiner Kampagne zu machen. Demokratie, Rechtsstaat, Soziale Marktwirtschaft lautet sein überzeugender Dreiklang. Aber das bedeutet doch auch, dass wir unseren Blickwinkel wieder stärker hin zum Gestalten und damit weg vom Retten richten müssen. Einige Grundsätze dazu:

Erstens: Bei zu vielen Reformvorschlägen geht es um Geld – in Form eines Budgets, eines Fonds oder der Leistung von finanziellen Garantien. Es geht zu wenig um politische Ideen und konkrete Politikbereiche, die man verwirklichen möchte und die eine Finanzierung notwendig machen.

Zweitens: Es geht um staatliches Handeln und um mehr Staat. Geschaffen werden soll ein öffentlicher Haushalt, ein staatlicher Fonds, ein staatliches Einlagensicherungssystem oder eine Aufstockung des zwischenstaatlichen europäischen Stabilisierungsfonds. Emmanuel Macron gibt die Richtung vor. Seine Maxime: „Der Staat muss natürlich stets eine zentrale Rolle spielen. Diese Rolle muss sogar verstärkt werden, denn auf vielen Gebieten brauchen wir viel mehr Staat“ – ein klarer Standpunkt von Emmanuel Macron, der Frankreich in den letzten Jahrzehnten zu einem Sanierungsfall gemacht hat. Die Fokussierung auf staatliches Handeln ist aus französischer Sicht vielleicht verständlich, denn hier hat der Staat traditionell eine zentrale, lenkende Rolle für die Wirtschaft. Ein solcher Weg steht aber im Widerspruch zu den erfolgreichsten Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft, wo der Staat Schiedsrichter ist, nicht mitspielender Akteur

Drittens: Es geht zu sehr um die Umverteilung bestehenden Wohlstands durch Zahlungen oder Garantien. Es geht zu wenig um die Schaffung neuen Wohlstands. Mehr staatliches Geld hat aber keine nachhaltigen Beschäftigungswirkungen, denn es kommt einher mit höheren Steuern und Abgaben oder mit mehr Schulden. Wir müssen erkennen, dass man mit neuen Schuldentürmen, dem Drucken von Geld oder europäischen Transfers, keinen Wohlstand schaffen oder Probleme dauerhaft lösen kann.

Viertens: Auf keinen Fall kann eine gemeinsame Union so weit sein, dass Kooperationen nicht mehr politisch gestaltet, sondern erzwungen werden. Es kann und darf niemals unser Geist sein, dass Europa nur noch auf der Basis von Drohungen zusammengehalten wird. Das ist der Anfang vom Ende der europäischen Idee.

Gemeinsame Unternehmungen statt Umverteilung

Wenn wir alle Länder – auch die, die mit ihrem Verhalten vorsätzlich und rücksichtslos die Gemeinschaftswährung gefährden – ohne Wenn und Aber im Euro halten, könnte es uns am Ende gehen, wie dem Fischer Santiago, der Hauptfigur in Hemingways „Der alte Mann und das Meer“. Wir kommen zwar mit dem Fisch zurück an Land, aber der Fisch ist nur noch Gerippe. Das Fleisch, die Substanz, die europäische Idee ist auf der Reise verloren gegangen. Was ist dieser Fisch dann noch wert?

Nur ein Europa, das sich Vertrauen, Verlässlichkeit und Regeltreue auf die Fahnen schreibt, wird bei den Bürgerinnen und Bürgern Akzeptanz finden. Die EU muss deshalb den Ordnungsrahmen dringend so gestalten, dass Handeln und Haften zueinanderpassen und die No-bail-out-Regel wieder glaubwürdig gelebt wird.

Vor allem muss Europa sich auf das besinnen, was es stark gemacht hat. Die Gründerväter Europas wollten Europa durch konkrete gemeinsame Unternehmungen voranbringen, nicht durch die Umverteilung von Geldern. Wir haben enorme Potenziale im Bereich der europäischen Sicherheitspolitik, in der Luft- und Raumfahrt, bei den Infrastrukturthemen, in der Vertiefung der Energieunion oder der Gestaltung des digitalen Ordnungsrahmens. Durch entschlossenes Voranschreiten in diesen Bereichen muss Europa wieder seine Legitimation herstellen.

Und wir sollten auch bei der Bankenunion weniger über die Vergemeinschaftung von Risiken durch eine gemeinsame Einlagensicherung sprechen, sondern mehr über die Chancen einer Kapitalmarktunion. Wir sollten viel stärker herausstellen, dass Europa ein Powerhouse ist, von dessen Strahlkraft alle Mitglieder profitieren: In keiner anderen Region der Welt ist Freiheit als Fundament des Fortschritts unter dem Dach der Demokratie derart fest verankert wie in Europa.

Der EU-Binnenmarkt ist der größte gemeinsame Wirtschaftsraum der Welt. Es gibt eine starke gemeinsame Wettbewerbspolitik. 60 Prozent der weltweiten Hidden Champions sind in Europa zuhause. Der amerikanische Vordenker Jeremy Rifkin bringt es genial auf den Punkt: „Wenn Europa alles richtig macht, kann es die USA überholen.“ Deshalb gilt es, sich mit Eigenverantwortung, Subsidiarität und Wettbewerb auf Erfolgsgaranten der europäischen Einigung, auf die Erfolgsgaranten Ludwig Erhards zu berufen, die in den Konzepten von Macron und Juncker kaum eine Rolle spielen.

Ludwig Erhard als Vorbild

Wir freuen uns deshalb besonders, heute Entscheidungsträger bei uns zu haben, die mit ihrer Sicht auf Europa prägend sind. Wir haben den Teilnehmerkreis bewusst klein gehalten, weil wir offen reden und offen miteinander diskutieren wollen. Uns war es besonders wichtig, verschiedene Perspektiven aus Wirtschaft, Administration, Parlament und Medien einzuholen. Herzlich willkommen deshalb an:

  • Bettina Stark-Watzinger MdB, die sich als Vorsitzende des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages, mit den für die Finanzstabilität Europas entscheidenden Themen wie Bankenunion und Einlagensicherung oder dem Abbau der faulen Kredite befasst.
  • Claudia Dörr-Voß, die Staatssekretärin, die für Minister Altmaier im Bundeswirtschaftsministerium Europa gestaltet und neben Italien-Krise und Brexit auch dafür sorgen soll, dass neue Wachstumskräfte freigesetzt werden. In diese Legislatur fällt ja auch noch die deutsche Ratspräsidentschaft 2020.
  • Prof. Dr. Thomas Mayer, ehemaliger Chefvolkswirt der Deutschen Bank und Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institutes – einer der einflussreichsten Ökonomen des Landes und wohl der hierzulande angesehensten Vertreter der österreichischen Schule in Tradition von von Hayek und von Mises.
  • René Höltschi von der Neuen Zürcher Zeitung – er hat in Paris, Wien und zuletzt jahrelang in Brüssel als Wirtschaftskorrespondent gearbeitet. Einen europäischeren Blick kann man also kaum haben.

Wir haben ganz konkrete Vorschläge, wie die Politik ihren Kompass wieder stärker an der Sozialen Marktwirtschaft ausrichten kann. Umso energischer werden wir für einen Kurswechsel kämpfen. Stiftung und Wirtschaftsrat sollten und werden hierfür noch stärker als bisher gemeinsam streiten. Manche der aufgezeigten Weichenstellungen in Richtung Freiheit sind sicherlich unpopulär.

Auch hier sollte sich die Politik ein Vorbild an Ludwig Erhard nehmen. Der Vater des Wirtschaftswunders setzte 1948 die Aufhebung der Preisbindung gegen die große Mehrheit der Deutschen durch. Und von der „Zeit“-Herausgeberin Gräfin Dönhoff musste er sich ob seiner wirtschaftspolitischen Agenda anhören: „Gott schütze uns davor, dass Ludwig Erhard einmal Wirtschaftsminister wird. Das wäre nach Hitler und der Zerstückelung Deutschlands die dritte große Katastrophe.“

Doch Ludwig Erhard hatte einen klaren Kompass, und er blieb allen Anfeindungen zum Trotz bei seiner Überzeugung. Er wurde Wirtschaftsminister und zum Vater des deutschen Wirtschaftswunders. Mit dieser Haltung ist Ludwig Erhard zurecht unser Vorbild – für Ludwig-Erhard-Stiftung und Wirtschaftsrat und, ich hoffe noch immer, für die Politik in Deutschland und vielleicht sogar bald in Europa.

Hier finden Sie weitere Informationen mit Redebeiträgen und Fotos vom ersten Europa-Forum von Ludwig-Erhard-Stiftung und Wirtschaftsrat der CDU.

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