„Weg mit Erhard und seiner bankrotten Wirtschaftspolitik“, so tönte es vor siebzig Jahren. „Wir wollen Planung und Lenkung der Wirtschaft.“ Im November 1948 stand auf der Kippe, ob Ludwig Erhard politisch überleben würde. Die Gewerkschaften hatten mehr als neun Millionen Beschäftigte zu einem eintägigen Generalstreik mobilisiert.

Die Militärverwaltung der Bizone war bereit, von der Preisfreigabe wieder abzurücken und die Liberalisierung wieder zurückzudrehen. Selbst die Mitarbeiter seines eigenen Amts – der Wirtschaftsverwaltung – seien „an der Richtigkeit der Thesen des Chefs irre geworden“, notierte Ludwig Erhard später in „Wohlstand für Alle“. Doch Erhard blieb stur. Ja, die Preise seien gestiegen, gab er zu. Doch das werde nur vorübergehend ein Problem bleiben. Der Wettbewerb werde dazu führen, dass die Preise wieder gedämpft werden.

Heute wird Ludwig Erhard als „Vater des Wirtschaftswunders“ der Wiederaufstieg Westdeutschlands zugeschrieben. In den Anfangsjahren war seine Politik aber extrem umstritten. Fast vergessen ist, dass es am 12. November 1948 – also vor siebzig Jahren – sogar den bislang einzigen Generalstreik in der Bundesrepublik gab. Die Not in den Nachkriegsjahren war groß; Millionen Menschen hungerten und hausten in unbeheizten Baracken und Ruinen. Für das alte, praktisch wertlose Geld konnten die Bürger kaum etwas kaufen. Die Produktion der Wirtschaft lag darnieder.

Preisfreigabe: Sprung ins kalte Wasser

Anfang 1948 war Ludwig Erhard zum Direktor der Verwaltung für Wirtschaft in der amerikanisch-britischen Bizone, einer Art Vorgängerregierung vor Gründung der Bundesrepublik mit Sitz in Frankfurt, ernannt worden. Im Juni 1948 wagte er einen ökonomisch revolutionären Schritt: den „Sprung ins eiskalte Wasser der freien Preise“, wie seine Gegner warnten. Es gab erbitterte Proteste der SPD und KPD im Wirtschaftsrat und auch viele Bedenken bürgerlicher Politiker, als er die von den Amerikanern vorbereitete Währungsreform nutzte, um gleichzeitig einen Großteil der seit der NS-Zeit geltenden Preiskontrollen und Bewirtschaftungsvorschriften abzuschaffen. Etwa 90 Prozent der Preisvorschriften hat Erhard eigenmächtig aufgehoben, schätzte der Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt. Laut einer neueren Schätzung von Irmgard Zündorf waren es vielleicht doch nur zwei Drittel aller Preisvorschriften. Aber immerhin.

„Das war ein mutiger, ja tollkühner Befreiungsschlag“, resümiert der Historiker Daniel Koerfer, der an der Freien Universität Berlin lehrt. Die alten Preisvorgaben lähmten, denn sie gaben falsche Preisrelationen wider, zu denen niemand Waren verkaufen wollte; nur auf dem Schwarzmarkt gab es ein breites Angebot zu überhöhten Preisen. Erhard erkannte, dass die staatlichen Preiskontrollen und Bewirtschaftungsvorschriften die Wirtschaft total blockierten. Die Währungsreform allein hätte wenig gebracht, wenn man nur das Geld austauscht; ohne freie Preise, die reale Knappheiten ausdrücken, wäre die Wirtschaft weiterhin paralysiert. Nur wenige Ökonomen im Wissenschaftlichen Beirat, darunter Walter Eucken aus Freiburg, unterstützten den Kurs von Ludwig Erhard.

Die Preisfreigabe löste einen sensationellen Effekt aus. Plötzlich waren die Schaufenster der Geschäfte voll mit allen möglichen Waren: Lebensmittel, Kleidung, Schuhe – alles gab es wieder frei im Angebot, was vorher nur gegen streng rationierte Bezugskärtchen erhältlich war. Zuvor hatten die Ladeninhaber und Produzenten die Waren und Rohstoffe gehortet; nach der Preisfreigabe wurden sie offen angeboten. Aber gleichzeitig schossen die Preise in die Höhe und die Einkommen der Deutschen blieben zurück, denn die Löhne blieben eingefroren; die Freigabe der Löhne sollte erst einige Monate später, im November, in Kraft treten.

„Gekeife der Kollektivisten“

Auf die kurze Begeisterung der Bürger folgte Ernüchterung, weil die Preise im Sommer 1948 viel schneller stiegen als gedacht. Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln, Rind- und Schweinefleisch, Butter und Eier wurden um 30 Prozent teurer im Vergleich zu den vorigen festgesetzten Preisen. „Ein neuer Anzug, der 1938 acht Mark und vor der Währungsreform 17 Reichsmark gekostet hatte, kostete jetzt plötzlich 40 D-Mark, wurde Erhard von SPD-Abgeordneten im Wirtschaftsrat vorgehalten“, erinnert Koerfer. „Die neue D-Mark war ein knappes Gut. Die Menschen hatten kaum Geld, um das zu kaufen, was sie wollten und ohne, wie sie vielfach fanden, Wucherpreise zahlen zu müssen.“ Auf dem Münchner Viktualienmarkt brach ein „Eierkrieg“ aus, wütende Bürger plünderten die Stände. In Stuttgart kam es nach Demonstrationen sogar zu Ausschreitungen.

Die öffentliche Debatte drehte sich gefährlich gegen Erhard: Viele Bürger wünschten eine Rückkehr zur staatlichen Bewirtschaftung und zu Preiskontrollen. Laut einer Umfrage, die Ende 1948 durchgeführt wurde, lehnten 70 Prozent der Deutschen die Marktwirtschaft ab. Ludwig Erhard blieb fest überzeugt, dass er auf dem richtigen Weg sei. Doch er selbst merkte die große Unsicherheit; SPD, KPD und die Gewerkschaften machten kräftig Stimmung gegen ihn. Der Wirtschaftsverwaltungsdirektor goss zusätzlich Öl ins Feuer, als er die Kritik als „Gekeife der Kollektivisten“ abtat.

Für den 12. November 1948 riefen die Gewerkschaften zu einem Generalstreik gegen Erhards Politik auf, den die britische und die amerikanische Militärverwaltung, letztere unter General Lucius D. Clay, nach einigem Zögern und mit strengen Auflagen genehmigten. Die Briten hatten zuhause eine scharf linke Labour-Regierung, die in Deutschland die Gewerkschaften unterstützte; die Amerikaner waren zögerlich; die Franzosen hatten in ihrer Besatzungszone den Streik untersagt. Generalstreiks hat es in Deutschland im 20. Jahrhundert nur drei gegeben: Der Streik vom November 1948 war der einzige Generalstreik in Westdeutschland in der Nachkriegszeit (die Gewerkschaften sprachen allerdings von einer „Streikdemonstration“); in der DDR kam es am 17. Juni 1953 zu einer Art Generealstreik gegen die stalinistische Wirtschaftspolitik; im Jahr 1920 hatten die Gewerkschaften und Beamten mit einem Generalstreik den rechten Kapp-Putsch in Berlin gestoppt.

Rettung des marktwirtschaftlichen Kurses

Der Streik gegen Erhard erreichte eindrucksvolle Dimensionen: Von den 11,7 Millionen Arbeitnehmern in der amerikanisch-britischen Besatzungszone konnten die Gewerkschaften etwa neun Millionen mobilisieren. Als erstes gingen die Bergarbeiter im Ruhrgebiet in den Ausstand. In Tausenden Betrieben stand alles still. „Ein solcher Massenprotest, wie Deutschland ihn zuletzt 1920 gegen den Kapp-Putsch gesehen hatte, war doch ein mehr als bedrohliches Signal“, sagt der Historiker Koerfer, der in Ludwig Erhards Geburtsstadt Fürth in diesem Jahr als Kurator den Aufbau eines Erhard-Zentrums samt Museum und Forschungsstelle betreut hat. In Fürth und anderen Orten trugen die Streikenden Plakate mit sich, auf denen „Weg mit Erhard und seiner bankrotten Wirtschaftspolitik“ stand. Der „Spiegel“ notierte über die Streiks in Frankfurt, dass die Hauptforderung neben der Verkündung des wirtschaftlichen Notstands die „Sozialisierung und Demokratisierung der Wirtschaft unter Gewerkschaftsbeteiligung“ lautete.

Doch da der Streik nur einen Tag dauerte, verpuffte die Wirkung ein wenig. Erhard wich in der Hauptsache nicht zurück: keine neuen allgemeinen Preiskontrollen. Allerdings forcierte Erhard das sogenannte Jedermann-Programm: Hunderttausende Schuhe, Kindermäntel, Stoff für Kleider wurden verbilligt an die Bevölkerung abgegeben. Das Material stammte zum Teil aus Armeebeständen. Zur Hilfe kam Erhard auch, dass der Marshall-Plan anlief, der die Rohstoffversorgung etwas verbesserte. So überstand Erhard die Novemberkrise, und der marktwirtschaftliche Kurs war gerettet. Im folgenden Jahr schon wuchs die Produktion; ab 1950 kam es mit Ausbruch des Koreakriegs, der die Nachfrage stark erhöhte, zu einem starken Aufschwung mit einem Produktionsanstieg um zehn Prozent in der Industrie. In der folgenden Hochkonjunktur mit durchschnittlich acht Prozent Wachstum in den 1950er Jahren wurde die hohe Arbeitslosigkeit nach und nach abgebaut, und ab Mitte des Jahrzehnts kam Vollbeschäftigung in Sicht. Das vielbesungene „Wirtschaftswunder“ begann. Die Erinnerung an die dramatischen, elenden Anfangsjahre verblasste.

Die CDU, die im Ahlener Parteiprogramm von 1947 noch die Verstaatlichung von wichtigen Industrien, Banken und Versicherungen gefordert hatte und eine marktwirtschaftliche Liberalisierung für Teufelszeug hielt, hat sich unter dem Eindruck von Erhards Erfolg gedreht: „Marktwirtschaft statt Planwirtschaft“ plakatierte sie zur Bundestagswahl 1949. Die SPD erklärte 1959 im Godesberger Programm zwar grundsätzlich, dass sie Marktwirtschaft akzeptiere, wenngleich Vorbehalte blieben. Erhards fundamentalen Optimismus, dass Marktkräfte und Wettbewerb die richtigen Kräfte sind, um die Wirtschaft zu „lenken“ und Wohlstand zu schaffen, haben bis heute nur wenige verstanden.

Der Autor ist Wirtschaftsredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 2009 wurde er mit dem Ludwig-Erhard-Förderpreis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet.

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