„Unter den jetzigen Mitgliedern der Ludwig-Erhard-Stiftung bin ich wohl diejenige, die Ludwig Erhard am längsten gekannt hat. Das erste Gespräch – von ungezählten Sendungen in Rundfunk und Fernsehen – führte ich mit ihm für den Nordwestdeutschen Rundfunk unmittelbar nach seinem Amtsantritt als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebiets.“, schrieb Julia Dingwort-Nusseck im Jahr 2012 in unserer Zeitschrift „Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik“, als wir die Mitglieder der Ludwig-Erhard-Stiftung nach persönlichen Erfahrungen mit Ludwig Erhard gefragt haben.

Durch einen glücklichen Umstand kannte sie den Termin der Währungsreform von 1948 und konnte so über dieses historische Ereignis direkt vom Ort des Geschehens berichten. „Für einen Wirtschaftsjournalisten war es wichtig, am Tag X dort zu sein, ‚wo die Musik spielte‘ – in Frankfurt“, so gab sie 1998 zu Protokoll. „Der damalige Finanzsenator Hamburgs, Walter Dudek, hatte zum Konklave deutscher Fachleute in Rothwesten gehört. Er gab mir den Rat: ‚Mädchen, Iösen Sie morgen eine Rückfahrkarte nach Frankfurt!‘. Frankfurt, 18. Juni 1948: Mein Kollege vom Hessischen Rundfunk und ich durften die Gesetzestexte studieren und erste allgemeinverständliche Erläuterungen vorbereiten.“

Wenn Julia Dingwort-Nusseck erzählt, dann werden deutsche Nachkriegsgeschichte, die Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft, die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse und das sogenannte Wirtschaftswunder, das Ludwig Erhard nicht als solches betitelt haben wollte, lebendig, erfahrbar und quasi greifbar: „Für uns Wirtschaftsjournalisten begann mit der Wirtschafts- und Währungsreform eine faszinierende Zeit: Soziale Marktwirtschaft war für die deutschen Bürger völlig neu. Wir mussten und wollten es unternehmen, in einem Massenmedium Laien Zusammenhänge zu erläutern, Material für eine eigene Urteilsbildung zu geben, Fachbegriffe zu erklären, Politiker kritisch zu fragen und sie in öffentlichen Diskussionen mit den Sorgen und Meinungen von ‚Normalbürgern‘ zu konfrontieren.“

Julia Dingwort-Nusseck, Jahrgang 1921, gebürtig in Altona, promovierte Volkswirtin, Radio- und Fernsehjournalistin der ersten Stunde im Nachkriegsdeutschland – und später in höchsten Positionen. Sie war im Laufe ihrer Karriere unter anderem sowohl Leiterin der Wirtschaftsredaktion beim NDR-Hörfunk als auch beim NDR-Fernsehen Hamburg und übernahm 1973 die Leitung des Programmbereichs Politik und die Fernseh-Chefredaktion beim WDR in Köln.

1976 wurde Dingwort-Nusseck zur Präsidentin der Landeszentralbank Niedersachsen berufen und hatte damit bis 1988, wie sie sagt, „das schönste Amt, das man sich denken kann: Mitglied im Zentralbankrat“, inne. Alle 14 Tage fuhr sie von Hamburg nach Frankfurt, um an den Sitzungen des Rates teilzunehmen.

Ihre hohe Mobilität – gepaart mit ihrer geistigen Beweglichkeit – war auch in den Angelegenheiten der Ludwig-Erhard-Stiftung bis in ihr hohes Alter hinein oft von zeichenhafter Bedeutung. Im Jahr 2012 ließ sie es sich nicht nehmen, der Verleihung des Ludwig-Erhard-Preises für Wirtschaftspublizistik, dessen Jury sie lange Zeit angehört hat, an Bundesbankpräsident Jens Weidmann in Berlin beizuwohnen. Und auch 2017 setzte sie sich von Hamburg in die Bahn, um einem gemeinsamen Kolloquium von Ludwig-Erhard-Stiftung und Konrad-Adenauer-Stiftung anlässlich des 120. Geburtstages und des 40. Todestages von Ludwig Erhard ebenfalls in Berlin persönlich beizuwohnen und den Ausführungen unter anderem des damaligen Finanzministers Wolfgang Schäuble zu folgen. Sie hat sich in die Diskussionen in der Ludwig-Erhard-Stiftung immer weitblickend eingebracht.

Julia Dingwort-Nusseck ist seit 2018 Ehrenmitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung. Mitglied war sie seit 1976. In der postalischen Korrespondenz zwischen ihr und der Stiftung, die in der Bonner Geschäftsstelle dokumentiert ist, zeigt sich eine tiefe, nun 45 Jahre währende Beziehung – geprägt von Verbindlichkeit, Freundlichkeit, Zuversicht und der immerwährenden Freude, das aktuelle Geschehen und vor allem auch den Zustand von Ludwig Erhards Sozialer Marktwirtschaft pointiert, voller Sachkenntnis und mit wenigen Worten zu analysieren und zu kommentieren.

Ich habe die große Ehre, Frau Dr. Julia Dingwort-Nusseck am heutigen 6. Oktober als bedeutende Persönlichkeit des deutschen Nachkriegsjournalismus und große Verfechterin der Sozialen Marktwirtschaft im Sinne Ludwig Erhards zum einhundertsten Geburtstag gratulieren zu dürfen. Wir – die Mitglieder, Freunde und Förderer der Ludwig-Erhard-Stiftung – wünschen ihr viel Gesundheit und ein Beibehalten ihrer stets zuversichtlichen Art. Wir sind froh, dankbar und stolz, sie seit bald einem halben Jahrhundert in unseren Reihen zu haben – stets dem Erbe Ludwig Erhards verpflichtet.

Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung.

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