Journalisten erheben den Anspruch, ein von Machthabern unabhängiges, kritisches Korrektiv in der Gesellschaft zu sein. Zu Recht. Eine unabhängige, freie Presse ist unbedingte Voraussetzung einer freien Gesellschaft und eines demokratischen Gemeinwesens. Daran zweifelt niemand ernsthaft. Die Freiheit der Presse hat daher nicht nur in Deutschland Verfassungsrang.

Das Berufsethos des Journalismus interpretiert Pressefreiheit nicht nur als ein Recht, sondern auch als eine Pflicht zur Unabhängigkeit. Genannt wird in diesem Zusammenhang immer wieder der angebliche Ausspruch des Fernsehjournalisten Hanns Joachim Friedrichs, dass ein guter Journalist „sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache“.

In ihrer Selbstwahrnehmung und im Urteil der Zeitgeschichtsschreibung erfüllt die deutsche Presse diesen Anspruch seit den frühen 1960er Jahren. Die „Spiegel“-Affäre galt schon damals und gilt noch heute als Fanal und entscheidender Sieg des kritischen Journalismus über das angeblich obrigkeitsstaatliche Denken und Handeln der Nachkriegszeit.1Vgl. Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973, Wallstein 2006

An dieser bis heute gepflegten Selbstbeweihräucherung des Journalismus wären allerdings schon damals große Zweifel angebracht gewesen. Zumindest in wirtschaftspolitischen Fragen erwiesen sich gerade jene Medien, die sich als Speerspitzen der Kritik empfanden, nicht zuletzt der „Spiegel“, tatsächlich eher als unkritische Resonanzkörper oder gar folgsame Verkünder der gängigen ökonomischen Botschaften der – damals neuen – Eliten in Politik und Wirtschaftswissenschaft.

Vor allem der Umgang von Journalisten mit dem Thema Wirtschaftswachstum seit den 1960er Jahren offenbart ein weitgehendes Scheitern am Anspruch, ein kritisches Korrektiv zu sein. Das von den tonangebenden Ökonomen und Wirtschaftspolitikern seither vertretene Wachstumsparadigma2Als Wachstumsparadigma verstehe ich wie der Historiker Matthias Schmelzer die unwidersprochene Übereinkunft unter Ökonomen, Politikern und Wirtschaftsjournalisten, dass erstens Wirtschaftswachstum ein Allheilmittel für gesellschaftliche, politische und letztlich sogar ökologische Probleme aller Art ist; zweitens dieses Wachstum bei ökonomisch rationaler Politik unbegrenzt möglich ist; drittens es ein Indiz für gesellschaftlichen Fortschritt und nationale Bedeutung ist; viertens das Bruttosozial- bzw. Bruttoinlandsprodukt dafür ein angemessener Maßstab ist. wurde von der großen Mehrheit der Wirtschafts- und Politikjournalisten weitgehend unkritisch verbreitet, wie ich in meiner kürzlich veröffentlichten historischen Studie „Wachstum über Alles? Wie der Journalismus zum Sprachrohr der Ökonomen wurde“ (oekom Verlag 2016) anhand des „Spiegels“, der „Zeit“ und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) zeige.

Verpasste Chancen für kritischen Journalismus

Dabei gab es gerade in der Mitte der 1960er Jahre wahrlich genug Anlass für eine große Zeit des kritischen Wirtschaftsjournalismus. Vor allem die Pervertierung des Wachstums vom Mittel zum Selbstzweck durch das „Stabilitäts- und Wachstumsgesetz“ von 1967 wurde nur von einigen wenigen ordoliberalen Redakteuren der FAZ, vor allem von dem Gründungsherausgeber Erich Welter und dem späteren Herausgeber Jürgen Eick, scharfsinnig kritisiert. Das Gros der Journalisten, vor allem in „Zeit“ und „Spiegel“, folgten ganz dem damaligen politischen Superstar Karl Schiller, der als Inkarnation einer „modernen“ Wirtschaftswissenschaft für stetiges Wachstum zu sorgen versprach. Man könnte mit Karl Jaspers von einem eklatanten Fall von „Wissenschaftsaberglauben“ sprechen.

Allein die Widersprüche des selbstauferlegten Wachstumszwangs gegen Logik und Natur liefern dem Kritiker, der sich von Dogmen der Ökonomik befreit, genug Argumente für Skepsis: Etwas immerzu exponentiell Wachsendes kann nicht dauerhaft stabil sein, sondern muss im Gegenteil zur Instabilität eines Systems führen, dessen Ressourcen begrenzt sind. Langfristig bleibt jedes natürliche Wachstum im Gleichgewicht mit den Gegenkräften Verfall und Tod.

Zudem bedeutet die Fixierung auf stetige Steigerung der Wirtschaftsleistung durch konjunkturpolitische Maßnahmen einen Eingriff in die Freiheit der Menschen als Wirtschaftssubjekte. Ludwig Erhard, der Vater des Wirtschaftswunders, hat nie das Wirtschaftswachstum zum Ziel der Sozialen Marktwirtschaft erklärt. Im Gegenteil wurde er selbst zum bedeutendsten Kritiker des „Wachstumsfetischismus“ und beklagte 1972 die „Entthronung des realen Konsumenten durch fiktive Wachstumsziffern“.

Grundsatzkritik an Schillers Gesetz und der seither dominanten Wachstumsfixierung in Wirtschaftswissenschaft und -politik übten zunächst nur vom Ordoliberalismus geprägte erhardtreue Wirtschaftsjournalisten der FAZ, Männer wie Erich Welter und Jürgen Eick. Wie Erhard selbst widersprachen sie dem Paradigma vom Wachstum als Allheilmittel aller Probleme und daher unbedingtem Ziel der Politik. Wachstum war für sie eine Nebenfolge vernünftiger Politik, auf die man unter gewandelten Umständen auch verzichten könne. Doch diese ordoliberalen Wirtschaftsjournalisten standen Mitte der 1960er Jahre ebenso auf verlorenem Posten wie Ludwig Erhard in den letzten Monaten seiner Kanzlerschaft. Im „Spiegel“ und in der „Zeit“ waren sie ohnehin nie präsent.

Fatal wurde diese Kritikschwäche des Wirtschaftsjournalismus in den 1970er Jahren. Die ökologische Revolution um 1970, vor allem aber die Debatte um die Grenzen des Wachstums bot schließlich eine ideale Gelegenheit für einen offenen Diskurs über grundsätzliche Fragen der Wirtschaftsordnung.

Doch der Wirtschaftsjournalismus verlegte sich mit großer Geschlossenheit auf die Verteidigung des Wachstumsparadigmas. Fragen nach dem Sinn des Wirtschaftens jenseits der Steigerungslogik, die all die großen Wirtschaftsdenker der ordoliberalen Schule und nicht zuletzt Ludwig Erhard stets beschäftigt hatten, finden in den Wirtschaftsressorts der untersuchten Blätter ebenso selten Raum wie bei den damals angesehenen Ökonomen selbst.

„Wirtschaftswachstum kontrovers – Ludwig Erhard versus Karl Schiller“ von Roland Tichy

Eine indexierte Wirtschaftspresse

Die Indexing-Hypothese der Medienforschung, die bislang meist anhand außenpolitischer Themen untersucht wurde, kann im Großen und Ganzen wohl auch in Wirtschaftsfragen bestätigt werden. Wirtschaftsjournalisten passten und passen sich in der großen Mehrheit den Hauptströmungen der gängigen wirtschaftspolitischen Ansichten an. Dazu gehört das Wachstumsparadigma, das alle im Bundestag vertretenen Parteien so gut wie geschlossen mittragen. Auch unter Politik- und Wirtschaftsjournalisten herrscht meist nur Uneinigkeit über die Frage, wie man zu mehr Wachstum komme, aber kaum, ob das Ziel angebracht sei. Die Abweichler und Skeptiker gehörten entweder zur mittlerweile ausgestorbenen Gruppe der letzten echten Ordoliberalen, oder es sind Feuilletonisten und Wissenschaftsjournalisten mit einer größeren Distanz zur Ökonomie und zum politischen Geschäft.

Die Symbiose zwischen Politikern und Journalisten, in der Informationen und Aufmerksamkeit getauscht werden, ist, sofern es um wirtschaftspolitische Fragen geht, ein Dreiecksverhältnis unter Einschluss der Volkswirtschaftslehre. Wer in diesem Dreieck wen am stärksten beeinflusst, ist wohl kaum nachweisbar.3Die Frage nach den Abhängigkeiten von Journalisten und nach ihrem Verhältnis zu Ökonomen und Politik ist Gegenstand eines Interviews mit Roland Tichy, das im Buch von Ferdinand Knauß abgedruckt ist und hier dokumentiert wird. Es liegt aber in der Natur der Sache, dass Ökonomen wohl diejenigen sind, die das theoretische Fundament für wirtschaftspolitische Positionen bereitstellen. Von Journalisten ist das kaum zu verlangen. Sie sind nicht nur auf die reinen Fakteninformationen angewiesen, die sie meist aus dem politischen Betrieb gewinnen, sondern auf analytische Einordnung und Deutung, die sie selbst im schnelllebigen Tagesgeschäft nicht ausreichend liefern können.

Wissenschaftlich ausgewiesene Expertenmeinungen geben einem Artikel die Legitimation, die die Leser in der Wissens- und Mediengesellschaft erwarten. Und dafür standen spätestens in der Volkswirtschaftslehre seit den 1960er Jahren so gut wie ausschließlich überzeugte Anhänger des Wachstumsparadigmas zur Verfügung.

Das Indexing, also die Prägung der journalistischen Positionen durch das jeweils tonangebende Establishment, geschieht auch durch die vorherrschende Lehrmeinung der Ökonomie. Besonders deutlich wurde das in der Spätphase der Kanzlerschaft Ludwig Erhards. Der Held des Wirtschaftswunders konnte die fortschrittlich gesonnene Presse nicht mehr indexieren, weil seine ordoliberalen Ansichten nicht mehr der „modernen“, also keynesianischen Wirtschaftswissenschaft entsprachen, für die Karl Schiller stand.

Vor allem „Spiegel“ und „Zeit“ propagierten Schillers Wachstumsrezepte als wissenschaftliche Wahrheiten, während Erhards Maßhalteappelle als aus der Zeit gefallen präsentiert wurden. Die eigentliche Macht, nämlich die über die öffentliche Meinung, war schon vor Erhards Sturz auf der Seite der – damals keynesianischen – Wachstumspolitiker. Und die Wirtschaftsjournalisten unterwarfen sich ihr bereitwillig.

Wie die OECD in einem internen Bericht 1969 zufrieden feststellte, sei das Streben nach Wirtschaftswachstum für „praktisch alle Regierungen“ selbstverständlich und müsse „nicht länger als eine Politikentscheidung betrachtet werden“. Es sei schwierig, sich vorzustellen, dass dieses Ziel aufgegeben werde. Sich das dennoch vorzustellen, bedeutete also, sich zum Außenseiter zu machen.

Der Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte bestätigt die Vermutung, dass der Journalismus nur eingeschränkt der Idealvorstellung der demokratischen Theorie entspricht, ein unabhängiges kritisches Korrektiv der Macht zu sein. Stattdessen scheint er eher ein Resonanzraum der vorherrschenden Ansichten zu sein.

Das mag eine enttäuschende Feststellung sein. Andererseits: Ein solcher „indexierter“ Journalismus, dessen Meinungsspektrum dem des politischen Establishments entspricht, ist in einer funktionierenden Demokratie wohl auch kein allzu großes Problem. Dann nämlich, wenn das parlamentarische Spektrum vielfältig ist und in den wesentlichen Fragen dem Spektrum der Interessen und Ansichten in der Gesellschaft entspricht.

Aber ein der Indexing-Hypothese entsprechender Journalismus versagt in seiner gesellschaftlichen Funktion als kontrollierende Instanz der Macht, wenn es innerhalb der Machteliten einen Konsens gibt, der wichtige Interessen, Ansichten oder Erkenntnisse ausblendet. Folgt der Journalismus dann diesem Konsens, ohne Alternativen und Kritik von außerhalb des Establishments in den öffentlichen Diskurs einzubinden, entsteht eine Schieflage: Die veröffentlichte Meinung, die dem Konsens der Eliten entspricht, entspricht dann nicht mehr unbedingt den Ansichten und Interessen in der Bevölkerung. Es droht dann eine gefährliche Entfremdung zwischen dem Staatsvolk und der politischen Führung.

Möglicherweise ignoriert der Journalismus aufgrund seiner Folgsamkeit gegenüber der Macht darüber hinaus auch zentrale Probleme, Konflikte, Gefahren, an deren Erörterung die Mächtigen kein Interesse haben. Das ist, so meine ich, in Bezug auf die Folgen einer andauernden Wachstumspolitik der Fall. Journalismus, Politik und Wirtschaftswissenschaft bestärken sich gegenseitig in der Ignoranz der Gefahren des einmal eingeschlagenen Pfades. Die Warner sind sowohl unter Ökonomen und Politikern als auch im wirtschaftspolitischen Journalismus immer noch Außenseiter. Der Vertrauensverlust, den der Journalismus gerade in jüngster Zeit erleidet, ist Indiz dafür, dass die Leser offenbar sensibler für die problematischen Folgen des Indexing sind als manche Journalisten. Die Vorwürfe, die heute in dem wenig scharfsinnigen Begriff der „Lügenpresse“ gipfeln, sollten Journalisten als Aufruf zur Wahrung der Distanz gegenüber den Mächtigen verstehen. Auch wenn sie sich mit Themen befassen, die weniger emotionsgeladen sind als etwa die aktuelle Einwanderungspolitik.

Allein die Kenntnis der Indexing-Hypothese und die Schärfung des Bewusstseins für die eigenen Abhängigkeiten hätten schon eine größere innere Unabhängigkeit zur Folge. Wer weiß und anerkennt, dass er Teil eines symbiotischen Verhältnisses ist, ist geistig freier als der, der sich keine Gedanken darüber macht, wie sehr ihn die Teilnahme an einem Hintergrundgespräch des Finanzministers zum Teil des Machtapparats werden zu lassen droht.

Die Aufgabe des Journalismus als Institution, die Öffentlichkeit herstellt, erschöpft sich eben nicht darin, ein Resonanzraum der im Bundestag vertretenen Parteien und anderer etablierter Institutionen zu sein. Eine freie Gesellschaft stellt den Anspruch an Journalisten, auch grundlegende Kritik an den herrschenden Verhältnissen zu äußern.

Zu diesen herrschenden Verhältnissen gehört zweifellos das Wachstumsparadigma. Noch. Denn die Unerfüllbarkeit weiterer Wachstumsversprechen zeigt sich mit unübersehbarer Deutlichkeit spätestens seit 2007. Die verzweifelte Nullzins-Politik der Zentralbanken und die Schuldenkrise im Euroraum sind nur die akutesten Anzeichen für das Ende des Zeitalters kontinuierlichen Wachstums.

Vor allem aber kommt den Menschen der Glaube abhanden, dass das Ziel weiteren Wachstums selbstverständlich ist. Zwei von drei Deutschen glauben nicht mehr, dass sie vom Wachstum überhaupt profitieren. Sogar amerikanische Top-Ökonomen diskutieren mittlerweile über eine bevorstehende „säkulare Stagnation“.

Die Gefolgschaft gegenüber der Ökonomie aufkündigen!

Das Paradigma zerfällt allmählich. Es ist nur die Frage, ob Journalisten das Ende aktiv mit anstoßen oder passiv erleiden wollen. Letzteres würde einen weiteren Vertrauensverlust der Leser nach sich ziehen. Den kann sich der Journalismus in Zeiten, da er selbst in einer tiefen Finanzierungskrise durch die Digitalisierung steckt, kaum leisten.

Der Schlüssel zu einem längst überfälligen Paradigmenwechsel im Wirtschaftsjournalismus liegt vermutlich in dessen Gefolgschaftsverhältnis gegenüber der Standardökonomie. Deren offenkundiges Versagen in der Prognose und Medikation der aktuellen Finanzkrise und der daraus folgende Verlust an Glaubwürdigkeit wären Anlass genug, die geistige Gefolgschaft aufzukündigen. Dass dies bisher nur sehr langsam geschieht, dürfte auch an der in meinem Buch ausführlich erläuterten Abhängigkeit von den Daten und Analysen liegen, die die Ökonomen für Journalisten bereitstellen.

Das Ende des Zeitalters des Wachstums erfordert einen Wirtschaftsjournalismus, der sich vom ökonomischen Expertentum der Vergangenheit emanzipiert. Natürlich bedeutet Emanzipation nicht Ignoranz. Zumal es durchaus Zeichen der Hoffnung gibt, dass sich die Volkswirtschaftslehre selbst auch erneuert und öffnet. Auf die Daten der Wirtschaftsinstitute kann ein ernsthafter Wirtschaftsjournalist natürlich nicht verzichten.

Aber das allzu offensichtliche Scheitern der Ökonomie an ihrem selbstgestellten Anspruch, wirtschaftliche Entwicklungen vorhersagen und überzeitliche ökonomische Naturgesetze finden zu können, sollte Grund genug sein, die übertriebene Hochachtung vor der Zunft aufzugeben. Wirtschaft ist keine sozialmechanische Funktion, die in der Sprache der Mathematik erschöpfend darstellbar und wie das Wetter vorhersagbar ist.

Wirtschaft ist kein Natur-, sondern ein Kulturphänomen. Wirtschaft ist ein viel zu wichtiges Feld, um es allein den zählenden und rechnenden Ökonomen zu überlassen, die glauben, man könne die Arbeitsweise von Gesellschaften ebenso studieren und formalisieren wie die Naturgesetze. Die glauben, man könne eine exakte Sozialwissenschaft aufbauen auf ganz wenigen, höchst fragwürdigen Annahmen (beispielsweise, dass der Mensch ein rationaler Nutzenmaximierer sei) und dem Tabu, die zugrunde liegenden Normen auch nur ansatzweise zu diskutieren.

Ein Wirtschaftsjournalismus, der sich allein auf eine solchermaßen fragwürdige, in der restlichen akademischen Welt ziemlich isolierte, aber politisch ausgesprochen einflussreiche Wissenschaftsdisziplin stützt, macht sich selbst letztlich fragwürdig.

Neue alte Erkenntnisquellen für den Wirtschaftsjournalismus

Wie könnte sich der Wirtschaftsjournalismus zeitgemäß erneuern? Er könnte und sollte kritische Kraft zur Analyse und Meinungsbildung schöpfen aus Quellen der Erkenntnis, die die tonangebenden Ökonomen in selbst gewählter Unmündigkeit seit einigen Jahrzehnten leider verschmähen: Geschichte, Soziologie, Philosophie, Religionswissenschaft – warum nicht auch Dichtung und bildende Kunst?

Die Rückbesinnung auf die eigenen akademischen Wurzeln – Adam Smith war bekanntlich Professor für Philosophie – ist, so denke ich, eine der großen Herausforderungen, der sich eine erneuerungsbedürftige Wirtschaftswissenschaft stellen muss. Diese Forderung hat zuletzt sehr deutlich auch Thomas Piketty erhoben. „Die letzte Festung der Moderne“ (Torben Lütjen) zu verlassen, also den Anspruch auf absolutes quasi-naturwissenschaftliches Wissen fallen zu lassen, wäre der größte Fortschritt dieser fortschrittsbesessenen Wissenschaftsdisziplin. Der Geschichtsvergessenheit, die die Entwicklung der Ökonomen-Zunft seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmte und auf einen Holzweg führte, wird im 21. Jahrhundert hoffentlich der Weg zurück zu den eigenen Wurzeln in der Philosophie und den Geisteswissenschaften folgen.

Hans Christoph Binswanger zum Beispiel ist mit seiner großartigen Analyse von Goethes Faust-Dichtung einer der wenigen Ökonomen, die diesen Weg bereits beschreiten. Er hat Goethe als Wirtschaftsphilosophen wiederentdeckt. Der Journalismus täte gut daran, unorthodoxen Ökonomen wie Binswanger mehr Aufmerksamkeit und publizistischen Raum zu gönnen. Ihre Texte sind oft nicht nur lehrreicher, sondern für den Zeitungsleser auch sehr viel unterhaltsamer als mathematische Modellrechnungen. Das dürfte für Journalisten auch kein schwaches Argument sein. Sie können die Ökonomie nicht verändern, aber sie können den Kräften innerhalb der Zunft, die das tun, ein Forum geben.

Journalisten tun sich und vor allem ihren Lesern keinen großen Gefallen, wenn das aktuelle akademische Renommee eines Ökonomen unter seinesgleichen das ausschlaggebende Argument dafür ist, ihn zu zitieren. Warum fragt man DIW-Chef Marcel Fratzscher nach seiner Ansicht über die Forderung Sigmar Gabriels nach einem neuen „Solidarprojekt“ zur Ankurbelung der Konjunktur? Die Antwort des „Quasi-Chefökonomen“ (FAZ) des Ministers ist ebenso vorhersehbar wie eindeutig, nämlich positiv, und langweilig. Möglicherweise liegt es daran, dass Ökonomen – Fratzscher insbesondere – selten um eine eindeutige, scheinbar unwiderlegbar begründete Meinung verlegen sind und meist genau sagen zu können meinen, was jetzt zu tun sei. Sie vermitteln Wissen, auch wenn sich das oft schon bald als Unwissen entlarvt. Ein Soziologe würde vielleicht nicht so eindeutig zu Pro und Kontra von Gabriels Projekt Stellung beziehen, aber er könnte die Motive des Ministers überzeugender kommentieren und erklären, wer dadurch gewönne und wer die Verlierer wären.

Die Öffnung für das wirtschaftliche Wissen und Denken jenseits der staats- oder gar regierungsnahen „Sachverständigen“ und Hinwendung zu weniger machtnahen Intellektuellen hätte unweigerlich auch eine Entschärfung der erwähnten Probleme des Indexing zur Folge.

Ein feuilletonistischer Wirtschaftsjournalismus ist gefragt

Der Wirtschaftsjournalismus sollte also feuilletonistischer werden. Eine solche Tendenz ist in Ansätzen bereits zu erkennen. Bisher gilt das allerdings mehr unter stilistischen Gesichtspunkten. Je schneller verfügbar und damit wertloser die reinen Nachrichten durch die Digitalisierung werden, desto größer wird für Redaktionen die Bedeutung von erzählenden, analytischen und kommentierenden Formaten. Diese Entwicklung ist begrüßenswert. Doch sollte sie sich eben nicht allein in einem kreativeren Stil erschöpfen. Raffinierte Erzählungen allein sind, wie wir oben gesehen haben, keine Garantie für kluge Inhalte.

Die Öffnung sollte auch noch stärker als bisher in umgekehrter Richtung weitergehen. Die Wirtschaft als kulturelles und gesellschaftliches Feld gehört ihrerseits ins Feuilleton. Für Feuilletonisten gibt es da Wertvolles zu gewinnen: einen Zuwachs an öffentlicher Relevanz und Aufmerksamkeit nämlich. Sowohl bei Lesern als auch innerhalb der Redaktionen, in denen Kulturthemen oft unter besonderem Rechtfertigungsdruck stehen.

Vor allem aber eröffnet eine größere Durchlässigkeit der Ressortgrenzen zwischen Wirtschaft und Feuilleton beiden Seiten bisher kaum beackerte neue Felder. Viele Wirtschaftsthemen werden nur oberflächlich behandelt, weil Wirtschaftsredakteuren fruchtbare historische oder literarische Zusammenhänge unbekannt sind. Lothar Müller und Thomas Steinfeld, Feuilletonchef der Süddeutschen Zeitung, haben das in einem Beitrag über die Zukunft der Tageszeitung erkannt: „Vor allem im Übergang zwischen Feuilleton und Wirtschaftsressort liegen indessen noch Themen brach.“ Gerade die FAZ und die „Zeit“ haben hierzu in beiden Ressorts schon einiges geleistet. Das Wirtschaftsressort der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung unter Rainer Hank gilt manchen Lesern schon als das klügere und bedeutsamere Feuilleton des Blattes. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Hank nicht VWL, sondern Literaturwissenschaft, Philosophie und Theologie studiert hat.

Der Veränderungsdruck, dem alle Redaktionen durch die Digitalisierung und mehr noch durch den immer bedrohlicheren Vertrauensverlust vieler Leser ausgesetzt sind, könnte und sollte also dazu führen, dass die Verbindung und Überschneidungen von Wirtschaftsjournalismus und Feuilleton wichtiger werden. Der Graben, der sich noch zwischen Feuilleton und Wirtschaftsressort auftut, könnte, wenn er von beiden Seiten aus zugeschüttet würde, ein besonders fruchtbares Feld für einen nachdenklicheren, weniger dogmatischen Journalismus bieten. Für einen kritischen Umgang mit dem Wachstumsparadigma wäre dann der Weg frei.

Dies ist ein bearbeiteter Auszug aus dem Schlusskapitel des 2016 im oekom Verlag erschienenen Buchs des Autors „Wachstum über Alles? Wie der Journalismus zum Sprachrohr der Ökonomen wurde“.

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Fussnoten

  • 1
    Vgl. Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973, Wallstein 2006
  • 2
    Als Wachstumsparadigma verstehe ich wie der Historiker Matthias Schmelzer die unwidersprochene Übereinkunft unter Ökonomen, Politikern und Wirtschaftsjournalisten, dass erstens Wirtschaftswachstum ein Allheilmittel für gesellschaftliche, politische und letztlich sogar ökologische Probleme aller Art ist; zweitens dieses Wachstum bei ökonomisch rationaler Politik unbegrenzt möglich ist; drittens es ein Indiz für gesellschaftlichen Fortschritt und nationale Bedeutung ist; viertens das Bruttosozial- bzw. Bruttoinlandsprodukt dafür ein angemessener Maßstab ist.
  • 3
    Die Frage nach den Abhängigkeiten von Journalisten und nach ihrem Verhältnis zu Ökonomen und Politik ist Gegenstand eines Interviews mit Roland Tichy, das im Buch von Ferdinand Knauß abgedruckt ist und hier dokumentiert wird.
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Fussnoten

  • 1
    Vgl. Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973, Wallstein 2006
  • 2
    Als Wachstumsparadigma verstehe ich wie der Historiker Matthias Schmelzer die unwidersprochene Übereinkunft unter Ökonomen, Politikern und Wirtschaftsjournalisten, dass erstens Wirtschaftswachstum ein Allheilmittel für gesellschaftliche, politische und letztlich sogar ökologische Probleme aller Art ist; zweitens dieses Wachstum bei ökonomisch rationaler Politik unbegrenzt möglich ist; drittens es ein Indiz für gesellschaftlichen Fortschritt und nationale Bedeutung ist; viertens das Bruttosozial- bzw. Bruttoinlandsprodukt dafür ein angemessener Maßstab ist.
  • 3
    Die Frage nach den Abhängigkeiten von Journalisten und nach ihrem Verhältnis zu Ökonomen und Politik ist Gegenstand eines Interviews mit Roland Tichy, das im Buch von Ferdinand Knauß abgedruckt ist und hier dokumentiert wird.