In der Umweltschutzdebatte herrscht die Meinung vor, man schütze die Umwelt, indem man sie weniger zerstört. Michael Braungart fordert ein Umdenken: Wir müssen die Menschen als Chance für den Planeten begreifen, nicht als Belastung.

Seit 40 Jahren wird in Deutschland intensiv über Umweltschutz diskutiert. Hierbei herrscht die Meinung vor, dass man die Umwelt schützt, wenn man sie weniger zerstört: Fahr weniger Auto! Reduziere den Wasser- und Energieverbrauch! Reduziere die Müllmenge! Minimiere den ökologischen Fußabdruck! In jedem Hotel kann man den Ratschlag sehen, dass man sein Handtuch noch mal verwenden soll, um Waschmittel einzusparen und die Umwelt zu schützen. Dabei wird die Umwelt so nicht geschützt, sie wird eben nur weniger zerstört. Auch Greta Thunberg schützt die Umwelt nicht, wenn sie mit dem Zug fährt oder sich nach Amerika mit dem Segelboot auf den Weg macht. Sie zerstört sie nur etwas weniger.

Deshalb braucht es ein anderes Umweltschutzdenken, das dem heutigen traditionellen Denken über unsere Rolle als Menschen auf der Erde diametral entgegensteht. Berlin möchte 2050 klimaneutral sein, Kopenhagen schon 2025. Dies ist ein extrem trauriges Ziel. Klimaneutral können wir nur sein, wenn wir nicht existieren. Allein durch das Atmen im Ruhezustand geben wir pro Person im Jahr über 170 Kilogramm Kohlendioxid an die Umgebung ab. Dies kann sich auf bis zu zwei Tonnen steigern – je nach sportlicher Betätigung.

Kein Baum ist klimaneutral. Ein Baum ist immer gut für das Klima. Wollen wir nicht gut fürs Klima sein? Das vorherrschende Denken hat mit falsch verstandener Religionskultur zu tun. Die christliche Religion hat sich 1999 darauf verständigt, die Rechtfertigungslehre, die der Ausgangspunkt für die Reformation war, im Grunde so zu interpretieren, dass kein Mensch durch eigene gute Werke, sondern nur durch Gottes Gnade erlöst werden kann. Das heißt, die Menschen sind von sich aus böse – Ähnliches gilt im Islam –, und nur Gott kann sie erlösen. Menschen können also gar nicht gut sein, sondern höchstens weniger schlecht.

In diesem Kontext versuchen wir, unseren ökologischen Fußabdruck zu minimieren. Für ein schlichtes „Weniger schädlich“ sind wir jedoch viel zu viele Menschen auf der Erde. Selbst wenn wir unseren Lebensstandard halbieren würden, wäre unser Wirken weiterhin zerstörerisch für Umwelt und Natur. Es braucht deshalb ein neues, anderes Denken, welches die Marktwirtschaft ernst nimmt. Im Augenblick ist in vielen Fällen der Gewinn privatisiert und das Risiko vergesellschaftet.

Downcycling statt Recycling

Wie wäre es, solch ein anderes Denken zur Grundlage der Marktwirtschaft zu machen? Wer möchte schon die in einem Fernseher enthaltenen 4.360 Chemikalien besitzen, wenn er doch nur fernsehen möchte? Ein Mercedes enthält 46 verschiedene Stahllegierungen. Wir nennen es dann „Recycling“, wenn aus diesen hochwertigen Stahllegierungen (aus Chrom, Nickel, Kobalt, Mangan, Molybdän, Wolfram, Antimon, Wismut, Titan) später primitiver Betonstahl gemacht wird.

Aber findet da wirklich Recycling statt? Zur Gewinnung des Baustahls muss zum Beispiel der Karosseriestahl mit Neustahl verdünnt werden, um den Kupfergehalt wieder zu senken. Trotzdem müssen große Mengen an Recycling-Material in andere Länder exportiert werden, da der Gehalt an Buntmetallen sonst selbst die Verwendbarkeit für Baustahl verhindern würde. Von 41 Elementen in einem Mobiltelefon werden gerade einmal neun Elemente (im besten Fall) zurückgewonnen. Die seltenen Elemente wie Indium, Gallium und Germanium werden nicht zurückgewonnen.

Seit 1990 gibt es den Grünen Punkt. Die Verpackungsmenge hat sich seitdem nahezu verdoppelt, insbesondere durch Kunststoffverpackungen. Man darf es auch „Recycling“ nennen, wenn Plastikabfälle exportiert werden. Denn diese dürfen aufgrund der rechtlichen Situation nur als Wirtschaftsgüter exportiert werden. Dass diese Plastikabfälle dann beispielsweise in Vietnam und Kambodscha, zu großen Bergen aufgetürmt, in die Gewässer ausgewaschen werden, ignoriert man. Bis vor wenigen Jahren war es sogar noch legal, Verpackungsabfälle in Bergwerke abzuladen und dies als stoffliche Verwertung zu etikettieren.

Berlin möchte 2050 klimaneutral sein, Kopenhagen schon 2025. Dies ist ein extrem trauriges Ziel. Klimaneutral können wir nur sein, wenn wir nicht existieren.

21 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche der Europäischen Union (das entspricht der Gesamtfläche Deutschlands) werden für sogenannte Biotreibstoffe und nachwachsende Rohstoffe verwendet. Dabei verliert man bis zu 30 Tonnen Boden pro Hektar durch den Maisanbau. Doch der Hauptkohlenstoffträger ist nicht das Öl, sondern der Boden. Durch diese Form der Landwirtschaft wird der Boden systematisch zerstört, sie ist lediglich ein Förderprogramm für Großbauern und Wildschweine. Zur gleichen Zeit importiert die Europäische Union Futtermittel aus Amerika (überwiegend aus Brasilien), für deren Anbau eine Fläche benötigt wird, die etwa der Größe Frankreichs entspricht. Drei Millionen Tonnen Palmöl werden als Biotreibstoffe und für andere chemische Zwecke verwendet (der Anteil der Biotreibstoffverwendung beträgt allein schon über 40 Prozent).

Zur Einordnung der Auswirkungen auf die Umwelt: Ein Hektar indonesischer Regenwald speichert etwa 7.000 Tonnen Kohlenstoff im Boden, ein Hektar Palmölplantage enthält hingegen nur etwa 60 Tonnen Kohlenstoff. So, wie der Sozialismus in der DDR und in Osteuropa nie sozial war, entsteht jetzt ein Ökologismus, der nicht der Ökologie dient, sondern der uns lediglich beschäftigt hält sowie extreme Kosten und Folgeschäden verursacht.

Innovation in zwei Bereichen

Machen wir uns nichts vor: Deutschland und Europa haben bei den meisten technologischen Entwicklungen den Anschluss verpasst. Bei der Digitalisierung, Nanotechnik, Gentechnik, im Elektronikbereich, in der Internet- und vielen anderen Zukunftsbranchen liegen wir zehn bis 15 Jahre zurück. Einzig in zwei Bereichen haben wir einen Vorsprung gegenüber anderen Ländern (durch die Weltuntergangsdiskussion der letzten 40 Jahre), der jetzt in Innovation umgesetzt werden kann: in den Bereichen Umwelt und Gesundheit.

Hierbei geht es nun aber nicht mehr um moralische Argumentation. Denn im Umweltschutzbereich ist so über Jahrzehnte nichts Relevantes von politischer Seite aus unternommen worden – außer ökologistischer Gesetzgebungen, da man meinte, man könnte der Wirtschaft Umweltschutz nicht zumuten. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Indem man die Produktion mit einem Triple-Top-Line-Ansatz vollzieht, der Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt gleichermaßen als Chance begreift, entstehen Produkte und Dienstleistungen, die nicht mit „Sklavenarbeit“ aus Fernost konkurrieren.

Eine solche Wirtschaft, von der Wiege zur Wiege (Cradle to Cradle) genannt, unterscheidet dabei zwischen zwei Kreisläufen: dem biologischen Kreislauf für alle Materialien und Produkte, die sich durch ihre Anwendung chemisch, biologisch oder physikalisch verändern (zum Beispiel Schuhsohlen, Bremsbeläge, Autoreifen, Waschmittel) und dem technischen Kreislauf, in dem Produkte zirkulieren, die bei ihrer Anwendung erhalten bleiben, so wie Fernseher und Waschmaschinen – diese werden (im Gegensatz zu den biologischen Nährstoffen) zu technischen Nährstoffen. In der digitalisierten Welt, in der auch die Produkte digital erfasst werden, gibt es dann keinen Abfall mehr, alles wird zum Nährstoff für die Bio- oder Technosphäre (siehe Abbildung).

Inzwischen gibt es bereits etwa 11.000 solcher Cradle-to-Cradle-Produkte. Es gibt viele Unternehmen, die Cradle to Cradle als Innovationschance sehen: zum Beispiel die Firma Tarkett, wenn sie keine Teppichböden verkauft, sondern diese als Dienstleistungen anbietet. Man verkauft also lediglich eine Fußbodenverpackungs-versicherung mit zehnjähriger Laufzeit. So setzt der Hersteller das beste Material ein und nicht nur das billigste. Gleichzeitig werden Teppichböden hergestellt, die nicht nur ungiftig sind, sondern die aktiv Feinstäube an sich binden.

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Es werden Waschmaschinen hergestellt, bei denen man lediglich 3.000 Waschgänge verkauft. Die amtierende EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat dieses Beispiel inzwischen in ihr Standardrepertoire aufgenommen. Mit diesem Dienstleistungsgeschäftsmodell müssen keine Sollbruchstellen mehr in die Produkte eingebaut werden, damit das nächste Gerät verkauft werden kann. Denn der Hersteller behält das Eigentum. Anstatt aus 150 billigen Kunststoffen können auf diese Art und Weise Waschmaschinen aus vier bis sechs Kunststoffen hergestellt werden.

Vor allem in den Niederlanden ist Cradle to Cradle extrem erfolgreich. In Deutschland fragen die Unternehmer vielfach, ob Cradle to Cradle moralisch geboten sei. Doch in der Krise (wie auch zum Teil in der aktuellen Corona-Pandemie) wird die Moral dann umso schneller über Bord geworfen. In Holland hingegen fragen die Unternehmer danach, ob man mit diesem Geschäftsmodell Geld verdienen kann. Dies ist auf Dauer sympathischer. Denn dieser Triple-Top-Line-Ansatz erweist sich dadurch als besonders profitabel, da er Auswirkungen für die Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen miteinander verbindet und dabei positive Auswirkungen angestrebt werden – also nützliche Produkte zu schaffen, die einen ökologischen Fußabdruck hinterlassen, der positiv wirkt und zu einem Feuchtgebiet wird, anstatt ihn bloß minimieren zu wollen.

Chance für den Planeten

Wir müssen die Menschen als Chance für den Planeten begreifen, nicht als Belastung. Wie weit man in Deutschland von diesem Denken entfernt ist, kann man daran sehen, dass es kein einziges Biosiegel gibt, welches es erlaubt, dass unsere eigenen Stoffwechselprodukte zurück in biologische Kreisläufe gelangen können. Wir fühlen uns so schuldig, auf der Welt zu sein, dass wir denken, es sei besser, wenn wir überhaupt nicht existierten.

Cradle to Cradle ist inzwischen in der Industrie angekommen. So wird zum Beispiel bei Airbus nicht mehr länger ein Triebwerk eingekauft, sondern lediglich die Nutzung desselbigen. Dadurch lohnt es sich für den Hersteller Rolls-Royce, ein Triebwerk zu bauen, welches keine Wartung benötigt. Bei Philips in Rotterdam wiederum wird Lichtleistung angeboten, anstatt LED-Lampen zu verkaufen. Bereits seit 1992 gibt es ein Beispiel für Chemical Leasing, in dem das Lösungsmittel nicht länger veräußert, sondern lediglich vermietet wird: Rent a Solvent.

Es gibt viele weitere Positivbeispiele, wie den Keramikfliesenhersteller Mosa in Maastricht, der sein ganzes Unternehmen nach Cradle to Cradle umstellt. Oder die Firma Trigema, die vor 14 Jahren die ersten kompostierbaren T-Shirts auf den Markt brachte und damit eine Blaupause für asiatische Länder ermöglicht, um kostengünstige Massenware in guter Qualität liefern zu können. Dafür braucht es aber eine industrielle Basis in Europa. Die Digitalisierung stellt uns diesbezüglich jedoch vor weit größere Probleme als bisher. Es ist jetzt möglich, jedes technische Gerät innerhalb weniger Monate zu kopieren. Wir werden in Deutschland das Segment des Maschinenbaus einbüßen, wenn es nicht gelingt, Cradle to Cradle als Geschäftsmodell zu etablieren.

Ein Beispiel: Ein Unternehmen, Weltmarktführer bei Ventilatoren und Gebläsen, stellt in Asien einen neuen Ventilator vor, der zehn Jahre lang keine Wartung benötigt. Bereits drei Monate später ist die Kopie, mit einem nur leicht abgeänderten Markennamen, auf dem Markt. Die Kopie hat jedoch bereits nach zwei Jahren Nutzungszeit ihr Ende erreicht. Dadurch wird allerdings auch der eigentliche Markenname ruiniert, da die Kunden durch die zum Verwechseln ähnliche Kopie den Eindruck haben, dass der Hersteller des ursprünglichen Produkts auch nicht mehr das ist, was er früher einmal war. Wie wäre es stattdessen, wenn das Unternehmen lediglich gesunde Luft als Dienstleistung verkaufen würde? Dann würde das Gerät, das keine Wartung braucht und langlebig ist, plötzlich zum Vorteil werden.

Viele Dinge setzen sich jetzt in großer Geschwindigkeit um. Allerdings könnte dies für viele Industriebereiche trotzdem zu langsam sein, zumal die Corona-Krise vielen Unternehmen Vitalität entzieht, die sie jetzt für Innovationen brauchen würden. Die Solaranlage eines deutschen Herstellers erreicht nach Untersuchungen unseres Instituts nach 19 Jahren Nutzungsdauer noch 93 Prozent ihres Wirkungsgrads. Ein chinesisches Modul hingegen verliert nach fünf Jahren bereits 50 Prozent seines Wirkungsgrads. Über 20 Jahre gesehen ist damit die Anlage des deutschen Herstellers konkurrenzlos preiswert, obwohl sie am Anfang über 30 Prozent teurer war als das chinesische Konkurrenzprodukt.

Innovation ist nicht nachhaltig

Diese Anlagen gibt es aber heute nicht mehr, da das Geschäftsmodell dafür nicht entwickelt wurde. Somit betreiben wir letztlich Hightech- Entsorgung für chinesischen Sondermüll und beklagen uns gleichzeitig darüber, dass unser Standort zu teuer sei. Auf diese Art und Weise kann Europa zum Museum für Indien und China werden, was sicher auch eine verdienstvolle Aufgabe ist. Das bedeutet jedoch, dass wir die Innovationschance, die mit der 40-jährigen Weltuntergangsdiskussion einhergeht, nicht wahrnehmen.

Doch wir können diese Diskussion jetzt positiv umsetzen: Das Glas ist nicht halb leer, sondern bereits halb voll. So entstehen Innovationen, Qualität und Schönheit. Dabei herauszustellen ist, dass echte Innovation allerdings nie nachhaltig sein kann. Der Nachhaltigkeitsbegriff aus der Forstwirtschaft verstellt uns die Innovationschance. Natürlich möchten wir, dass auch noch in 1.000 Jahren Buchen, Eichen, Birken, Erlen, Kastanien und andere Bäume in Wäldern wachsen. Aber wer möchte 1.000 Jahre lang dieselben Schreibtischstühle verwenden?

Nachhaltigkeit ist innovationsfeindlich. Sie optimiert das Bestehende, und wenn das Bestehende falsch ist, wird es dadurch nur perfekt falsch. Es geht also zuallererst nicht um Effizienzsteigerung, sondern um Effektivität – zu fragen: Was ist das Richtige? Und nicht darum, einfach das Bestehende zu optimieren. Sonst werden Plastikverpackungen zehn Prozent leichter, und es lohnt sich nicht mehr, sie überhaupt noch einzusammeln. Autoreifen halten inzwischen doppelt so lange wie früher, aber die 470 Chemikalien, die dafür verwendet werden, um Autoreifen herzustellen, werden nun als Mikroplastik in den Gewässern, ebenso wie in Blumenbeeten von Anwohnern stark befahrener Straßen, in großer Zahl nachgewiesen.

Man hat also das Falsche perfekt gemacht und damit perfekt falsch. Echte Innovation bedeutet andere Geschäftsmodelle, man verkauft nur noch gesundes Sitzen, so wie es beispielsweise die Firma Giroflex macht. Es geht nicht um Langlebigkeit, sondern um eine definierte Nutzungszeit, sodass die Materialien und Komponenten jeweils in der Technosphäre zirkulieren können. Auch viele deutsche Unternehmen setzen dies bereits um, darunter die Firmen Würth und Schwalbe. Vor allem Familienunternehmen sind für Cradle to Cradle prädestiniert, da sie mittel- und langfristig daran denken, wie Unternehmen auf Dauer erfolgreich sein können. Dieses Bewusstsein wird in Familienunternehmen durch aktuell vielfach anstehende Übergänge der Unternehmensführung an die jeweils nächste Generation noch verstärkt und beschleunigt.

Prof. Dr. Michael Braungart hat eine Professur für Öko-Design an der Leuphana Universität Lüneburg inne. Er ist Gründer von EPEA, einem internationalen Umweltforschungs- und Beratungsinstitut.

Dieser Beitrag ist zuerst im Heft „Wohlstand für Alle – Klimaschutz und Marktwirtschaft“ aus dem Jahr 2020 erschienen. Das Heft kann unter info@ludwig-erhard-stiftung.de bestellt werden; oder lesen Sie es hier als PDF.

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