Wie sind die im Koalitionsvertrag formulierten Pläne der Großen Koalition zu bewerten? Lesen Sie den Gastkommentar von Hans-Erich Bilges.

Über Jahrzehnte beklagte der Wirtschaftsflügel der Union – zu Recht – den Verlust des Bundeswirtschaftsministeriums (zuletzt 1963–1966). Einfluss auf die Ordnungspolitik, Förderung des Mittelstandes, Kartellgesetzgebung, Tarifordnung, Verbände: Jahrzehntelang waren diese der ministeriellen Zuständigkeit der Union entzogen. Nun hat Angela Merkel das früher einflussreiche Wirtschaftsministerium für die CDU wieder zurückgeholt. Doch ganz egal, was Merkel macht: Reflexartig bis hin zur Obsession gehen die seit Jahren Verdächtigen die Kanzlerin an, wittern die große Chance – im Schlepptau auch bekannte Jung-Gesichter, die alle etwas werden wollen.

Jene freilich, die zur objektiven Beurteilung willens sind, loben hingegen Merkels Kabinettsentscheidung: „Als Gegenpol zu den Finanz- und Arbeitsministerien ist es wichtig, dass das Wirtschaftsministerium in CDU-Hand ist“ – so der Bundesverband Groß- und Außenhandel. Der Berliner „Tagesspiegel“ stellt fest: Zwar übernehme die SPD das Finanzministerium, doch „andererseits zahlt sie dafür einen hohen Preis beim Kabinettszuschnitt. Denn sämtliche Ministerien, die über größere Investitionsmittel in eigener Regie verfügen können, sind jetzt in Unions-Hand … und die investitionsnahe Energiepolitik bleibt im Wirtschaftsressort.“

Das ist klug und weitsichtig, denn: Blenden wir zurück in die Zeit der Amtsführung durch den legendären Wirtschafts- und Ordnungspolitiker Otto Graf Lambsdorff (FDP). In seiner Ägide war das Wirtschaftsministerium ideologisches Haupt- und mächtiges Instrument der Wirtschafts- und Ordnungspolitik: erst in der Zeit der SPD/FDP-Koalition unter Helmut Schmidt/Hans-Dietrich Genscher – und ab Herbst 1982 in der Kanzlerschaft von Helmut Kohl erst recht. Selbst Kanzler Schmidt konnte sich gegen Graf Lambsdorff in keiner Grundsatz- und ordnungspolitischen Fragen entscheidend durchsetzen. Und es war Graf Lambsdorff, gestützt von FDP-Chef Genscher, der die sozialliberale Koalition im Herbst 1982 zu Fall brachte – und danach wirkmächtig die Regierung Kohl/Genscher stützte.

Gestaltungsfreiräume statt Finanzministerium

Merkel-Kritiker beklagen den Verlust des Finanzministeriums, denn das sei eines der einflussreichsten Ministerien. Was ist da dran – genau betrachtet? Richtig ist: Keine einzige Entscheidung, die im Finanzministerium vorbereitet wird, passt durch die „Nadelöhre“ des Kanzleramtes und des Kabinetts und der Fraktionen, wenn da „nein“ gesagt wird. Mit anderen Worten: Der besonnene und ordnungspolitisch durchaus nahe bei Schäuble stehende Olaf Scholz kann nichts von Substanz bewirken, wenn es die Kanzlerin nicht will. Beispiel: Zwischen Angela Merkel und Wolfgang Schäuble gab es – hinter (und vor) den Kulissen – schwere Grundsatzkonflikte über die Frage, Griechenland aus dem Euro zu werfen. Schäuble wollte es mit der ihm eigenen Beharrlichkeit und Kompetenz – Angela Merkel setzte sich aus übergeordneten außenpolitischen und weltfinanzpolitischen Gründen durch.

Es hagelte Kritik gegen Merkel, vor allem aus den eigenen Reihen und der FDP. Realität heute: Vor wenigen Tagen platzierte Griechenland wieder eine Anleihe am Kapitalmarkt in der Größenordnung von mehr als drei Milliarden Euro – und das trotz widriger Bedingungen an den Kapitalmärkten. Die Emission war um das Zweifache überzeichnet. Hätte Merkel vor Jahren die wahren Gründe für ihr „Nein“ gegen den Grexit öffentlich sagen können? Nein. Besorgniserregende Berichte über Putins Lauern auf den Grexit lagen der Regierung vor: Der Grexit werde das (nach wie vor) starke, kommunistische und antiwestliche Lager in Griechenland stärken – und Putin hätte den Hebel gehabt, nach dem Grexit auch den Exit aus der NATO zu forcieren. Griechenland als südliches „Tor“ Putins am Mittelmeer? Und auch China steht auf dem Sprung… Wer also in der Regierung war klug und weitsichtig? Und so viel zum Einfluss der beiden Ministerien Wirtschaft und Finanzen.

Wer nicht schwadroniert, weiß die faktischen Auswirkungen der Koalitionsvereinbarungen professionell zu deuten. Angela Merkel hat der CDU/CSU weit über die Bedeutung einzelner Ministerien hinaus enormen Gestaltungsfreiraum geschaffen: das weite Feld der Innen- und Sicherheitspolitik, die Verteidigungs- und damit ein Stück weit auch Außenpolitik, der künftig extrem bedeutsame Bereich der Digitalisierung, Bildung, Gesundheit, Landwirtschaft – und ja, der Heimatgedanke, also Einfluss auf das ländliche Leben –, und dort sitzen jede Menge Wähler. Nicht zu vergessen die Bereiche Verkehr und Infrastrukturpolitik. Inzwischen ist es stiller geworden mit der Kritik an Merkels Kabinettszuschnitt – sogar vom Wirtschaftsrat der Union kommen differenzierte Betrachtungen. Wer also hat die größeren Handlungsspielräume in der künftigen Koalition?

Hoch und auch wieder runter mit den Medien

Politik wird von Menschen gestaltet. Je höher und gewichtiger der Verantwortungsbereich, umso wichtiger sind neben Kompetenz und Wissen darum, wie Politik funktioniert, die so eminent wichtigen Eigenschaften wie Charakterstärke, gute Nerven, Verzicht auf Neid und Missgunst, Rücksichtslosigkeit, vor allem Verzicht auf Eitelkeit, triebhaften Ehrgeiz, Selbstgefälligkeit. Kennen Sie Hans-Otto Wilhelm? Den Namen müssen Sie sich nicht merken – er hat sich selber politisch erledigt. Getrieben von Ehrgeiz, wollte der damals 48-jährige (vom populären und gutmütigen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel geförderte) Umweltminister im November 1988 Bernhard Vogel vom Amt des CDU-Landesvorsitzenden verdrängen; er schaffte es, danach demontierte er den bis dato unangefochten regierenden Bernhard Vogel und die CDU gleich mit. Zwei Jahre später verlor die CDU krachend die Landtagswahl – und hat sich davon bis heute nicht erholt.

Wer erinnert sich noch an Norbert Röttgen? So hochbegabt wie eitel, von Angela Merkel sorgsam gefördert, verschaffte sie ihm mit der Ernennung zum 1. Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion eine Plattform zu weiterem Aufstieg in der Partei. Kaum im Amt, begann Röttgen am Stuhl von Fraktionschef Kauder zu sägen; er fühlte sich zu Höherem berufen. Dennoch hielt Merkel ihre schützende Hand über ihn und machte ihn zum Bundesumweltminister (auch für Atom-Energie zuständig). Über die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke kam es zum Grundsatzstreit zwischen Merkel und Röttgen – und trotz mehrerer persönlicher und vertraulicher Gespräche und Hinweise von Merkel und Warnungen an Röttgen blieb dieser stur und wurde von Merkel entlassen. Bis zuletzt hatte Röttgen geglaubt, dass Merkel es nicht wagen würde. Ein Irrtum.

Es gibt aktuelle Gründe, an diese beiden phänotypisch zu erinnern. In den letzten Monaten, aber schon lange vor der Bundestagswahl im September 2017 positionierten sich ehrgeizgetriebene, jüngere CDU-Kandidaten – Aspiranten für höhere Aufgaben – durchweg über die Medien und auf Kosten anderer. Dumm wären diese Medien, wenn sie die Angebote nach öffentlichkeitswirksamen Attacken gegen die Oberen nicht dankbar annähmen. Der legendäre frühere BILD-Chefredakteur Peter Boehnisch formulierte es einmal weise wie warnend: „Wer mit BILD nach oben fährt, fährt mit BILD auch wieder nach unten.“ Boehnischs Verdikt gilt generell für die Medien. Macht und geltungsgetriebene Politiker blenden das aus und sonnen sich in der kurzfristigen Strahlkraft der publizistischen Bedeutung.

Bei dem einen beginnt der Sinkflug früher, bei anderen folgt er später. Beispiel FDP-Chef Christian Lindner (39): Lifestyle-geprägt und hochgeschrieben, ist er als Hoffnungsträger zur Rettung der Republik und des Bürgertums ausgerufen worden. Und heute? Wer fragt noch nach ihm – und was kommt noch von ihm? Wer im seriösen politischen Journalismus geprägt wurde, hätte schnell das Blendwerk um Lindner erkennen können. Es reicht nicht, zwei Stunden lang in freier Rede ein Auditorium in Entzücken zu versetzen, um ein so großes Land wie Deutschland zu regieren. Schon gar nicht, wenn diese Politiker das „Ich“ vor das „Wir“ stellen.

Visionär Konrad Adenauer

Zeitpunkt und Ausmaß der bislang massivsten Kritik an Merkel haben diese nicht überrascht – im Gegenteil. Für Merkel ist auch nicht neu, wer sich jetzt alles traut: Zu 90 Prozent sind es die üblichen Verdächtigen seit vielen Jahren, also Merkel-Opfer. Dazu gesellen sich nun Propheten mit neuen politischen Groß-Visionen. Zu denen gehört der so hinreichend leistungsqualifizierte Merkel-Kritiker und Tengelmann-Erbe Erivan Haub. Im „Handelsblatt“ forderte er kürzlich eine „personelle Erneuerung“ in CDU und Kanzleramt – also: Merkel muss weg. Ausgerechnet der Erbe Haub, der jahrelang sein Unternehmen, das er überfordert an den Rand des Ruins gewirtschaftet hatte, loswerden wollte, forderte den Rücktritt Merkels. EDEKA und REWE erbarmten sich und kauften Tengelmann – und verschafften jedenfalls für Tengelmann eine „personelle Erneuerung“.

Doch was ist die beste Vision? Angela Merkel hat eine von Konrad Adenauer, dem Altmeister schlichter Visionen, übernommen: handwerkliche Profession, hohe fachliche Kompetenz, die Schlauheit, Politik einfach zu gestalten – entsprechend den sich rasant veränderten Zeitläufen. Auf die Frage an den damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer (1962), was denn seine politischen Visionen und Zukunftsplanungen sind, antwortete er verächtlich: „Wat soll ich planen? Jeder Tag ist doch anders.“ Und auf die hochgestochen formulierte Frage, von welchen Interessen er sich als Kanzler leiten lasse, antwortete er trocken: „Dat is janz einfach: alles wat Deutschland nützt…“.

Konrad Adenauer war der größte Visionär aller deutschen Kanzler. Seine Vision: Aus einem zertrümmerten Staat eine weltweit politisch geachtete und wirtschaftliche Weltmacht zur formen, in der man gut und gerne leben kann. Angela Merkel hat so gut wie alle Biographien über Konrad Adenauer gelesen.

Hans-Erich Bilges war Korrespondent der WELT in Berlin und Bonn, 16 Jahre lang in der Chefredaktion von BILD und ist heute Geschäftsführer eines Beratungsunternehmens für Politik, Wirtschaft und Kommunikation.

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