Der ehemalige Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Jürgen Jeske mahnt in seinem Beitrag, dass es nun „Zeit für Erhards Vermächtnis“ sei, und weist darauf hin, dass die Soziale Marktwirtschaft – in Ludwig Erhards Worten – „trotz offenkundiger Bewährung immer wieder einer kritischen Überprüfung“ bedarf.

Vor wenigen Wochen bekannte die Bundeskanzlerin in einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: „Ich bin 1990 wegen der Sozialen Marktwirtschaft Mitglied der CDU geworden.“ Ähnlich wie Angela Merkel dachten damals die meisten Ostdeutschen, die nach vierzig Jahren Kommunismus Unfreiheit und Mangelwirtschaft hinter sich lassen wollten. Inzwischen ist der Glanz der Sozialen Marktwirtschaft stark verblasst, obwohl die Bundesrepublik trotz weltwirtschaftlicher Herausforderungen und ungelöster weltpolitischer Probleme – wie der Flüchtlingskrise – so gut dasteht wie seit vielen Jahren nicht mehr. Aber der Anpassungsdruck, den die weltwirtschaftliche Dynamik erzeugt, und die gewachsene Veränderungsgeschwindigkeit haben Zukunftssorgen, Abstiegsängste und Furcht vor kulturellen Einbußen hervorgerufen. Bewährte Ordnungen und Institutionen werden infrage gestellt.

Die Politik hat darauf bisher – wenn überhaupt – nur unzureichende Antworten gegeben. Das gilt vor allem für die Soziale Marktwirtschaft, die entscheidend für den Wiederaufstieg Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg war und die Identität der bis heute stabilen deutschen Demokratie mitbegründete. Für Ludwig Erhard war die Soziale Marktwirtschaft nie allein ein Instrumentarium zur Erzeugung wirtschaftlichen Wachstums. Es war immer auch ein Gesellschaftsentwurf, der auf das Wohl des eigenverantwortlichen Individualismus zielte. Erhard verband Freiheit mit Verantwortung und eine freie Wettbewerbswirtschaft mit sozialer Sicherheit. Doch zu Erhards Zeiten, vor allem danach, verschob sich das Gewicht mehr und mehr von der Marktwirtschaft hin zur sozialen Absicherung, vom Staat als Wächter der Freiheit zum betreuenden Wohlfahrtsstaat. Unter Kanzler Helmut Kohl ging es mehr darum, in erster Linie Wahlen zu gewinnen als mit prinzipienfester Wirtschaftspolitik den Erhard-Preis. Soziale Marktwirtschaft wurde zur Leerformel, die mit unterschiedlichsten Inhalten belegt wurde. In den Regierungsjahren Angela Merkels, die einst von Erhards Vision so angetan war, wurden die Gewichte der Wirtschaftspolitik aus wahltaktischen und machtpolitischen Gründen noch weiter nach links verschoben. Aus der erhardschen CDU wurde eine sozialdemokratisierte Union. Das entsprach zwar dem Zeitgeist, ebnete jedoch den Weg zu einer staatlich gelenkten Wirtschaft und Kollektivgesellschaft.

Kein in Stein gemeißeltes Dogma

Politik ist dabei immer kleinteiliger geworden und pragmatischer, das heißt, dem Zufall des Augenblicks folgend wie bei der Flüchtlingsfrage und der „Ehe für alle“. Die saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer meinte neulich zu Recht, beim liberalen wirtschaftspolitischen Profil müsse „nachgesteuert“ werden. Selbst der CDU-Sozialstaatsveteran Norbert Blüm warnt inzwischen vor Gleichheitsfanatismus und Nivellierung und dem „obrigkeitsstaatlichen Fürsorgestaat“. Große Gesellschaftsentwürfe gibt es nicht mehr, Orientierungslosigkeit und Protest gegen „die da oben“ sind die Folge.

Der Ausgang der Bundestagswahl hat diese schleichende Legitimationskrise offengelegt, die im Übrigen nicht allein Deutschland erfasst hat. Deutschland wird das sicher durchstehen. Auch Erhard musste mit solchen Herausforderungen zurechtkommen. Schon auf dem CDU-Bundesparteitag 1960 erinnerte Erhard daran, dass die Soziale Marktwirtschaft kein in Stein gemeißeltes Dogma sei. „Jedes wirtschaftspolitische Programm bedarf vor allem im Zeichen einer dynamischen Entfaltung unseres gesellschaftlichen und sozialen Lebens trotzt offenkundiger Bewährung immer wieder einer kritischen Überprüfung, um ohne scharfe Brüche und ohne Erschütterungen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft harmonisch zu verbinden.“ Zugleich empfand er die „allenthalben nur zu spürbare Unruhe in unserer demokratischen Gesellschaft“ als „bestürzendes Faktum“. Es seien daher besondere gesellschaftspolitische Anstrengungen erforderlich, „um ein neues Lebensgefühl in einer zeitgerechten Form zu entwickeln“. Das ist auch heute wieder der Fall angesichts der Unzufriedenheit vieler Menschen mit ihrer Lebensumwelt, anhaltender Kritik an der Marktwirtschaft, populistischer Bewegungen und tiefgreifender Veränderungen der Parteienlandschaft.

Im Rückblick erscheint erstaunlich, dass Erhard schon gut ein Jahrzehnt nach Einführung der Marktwirtschaft den Veränderungsdruck spürte und ihm mit einer Weiterentwicklung seines Konzepts zu begegnen suchte. Die Vision einer „Formierten Gesellschaft“ war jedoch zum Teil unausgereift und blieb umstritten, obwohl sie bedenkenswerte Überlegungen enthielt wie das „Gemeinschaftswerk“ für Investitionen. In der marktwirtschaftlich orientierten „Neuen Zürcher Zeitung“ wurde das Konzept als einzig neue, in die Zukunft weisende Idee gelobt. Bundeskanzler Erhard habe damit eine Frage zur Diskussion gestellt, auf die es in allen Industrieländern keine klare Antwort gebe: das Problem des Zuordnungsverhältnisses von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft, hieß es in dem Blatt. Erhard ist damals bekanntlich gescheitert, weil das Nachfolgekonzept keine Mehrheit fand, vor allem aber, weil es ihm als Bundeskanzler an Machtwillen fehlte. Das Problem der richtigen Balance zwischen Gesellschaft, Staat und Wirtschaft ist bis heute ungelöst geblieben. Besonders jetzt vermissen die Menschen ein umfassendes Leitbild einer wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Ordnung für Deutschland in einer dramatisch veränderten Welt.

Erhards Vermächtnis ist kein Masterplan

Erhard hat kein politisches Testament hinterlassen. Fünf Jahre vor seinem Tod 1977 schrieb er in einer Festschrift für den Liberalen Ludwig von Mises: „Es gibt keine mehr auf friedliches Zusammenleben der Völker abzielende Wirtschaftsverfassung als die Marktwirtschaft. Sie entzieht sich nach Maßgabe eines auf Leistung begründeten Wettbewerbs jedweden Versuch eines Staates, wirtschaftliche Stärke als Instrument politischer Macht missbrauchen zu wollen.“ Erhard befürwortete den Staat als starke Ordnungskraft, warnte aber vor den damals schon zunehmenden Reglementierungen. „Der Versuch, durch immer umfassenderes Eingreifen des Staates oder von Kollektivgebilden das gesellschaftliche und soziale Leben bis zum Ausgleich auch der kleinsten ,Ungerechtigkeiten‘ perfektionieren zu wollen, führt nur zu leicht von einer natürlichen Ordnung fort.“ Er mahnte, neben der lobenswerten gesellschaftlichen Solidarität nicht das Gebot der Subsidiarität zu vergessen. Weitblickend warnte Erhard davor, dem Staat oder Kollektivorganisationen wegen vermeintlicher Wohltaten immer mehr Eingriffsrecht zu überlassen. Das würde zu einer neuen Art von Befehlswirtschaft und Abhängigkeit im Kollektiv führen und nicht mehr dem Geist seiner Sozialen Marktwirtschaft entsprechen.

Erhards Vermächtnis ist kein Masterplan, nach dem sich die politische Agenda einer neuen Regierung ausrichten könnte. Sein Vermächtnis sind seine Grundgedanken und Wertvorstellungen, die eine auf Freiheit und Recht begründete Lebensordnung prägen können. Vierzig Jahre nach seinem Tod haben sich die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zum Teil dramatisch verändert. Erhard war klug genug zu wissen, dass sein Konzept einer Marktwirtschaft immer wieder erneuert werden muss. Nach dieser Bundestagswahl ist es daher Zeit für Erhards Vermächtnis.

Jürgen Jeske, bis 2002 Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, erhielt 1994 den Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik. Seit 1997 ist er Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung. Dieser Artikel ist zuerst am 19. Oktober 2017 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

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