„Eine deutsche Geschichte als Geschichte der Freiheit: Ist das nicht abwegig?“ fragt Gerd Habermann am Anfang seines Buches. Nein, kann man nach Lektüre des Buches antworten. Denn Habermann gelingt es, eine Geschichtslinie der Deutschen zu zeigen „als Träger einer reichen politischen Kultur der Freiheit, des Universalismus, einer fast unglaublichen Vielfalt politischer Institutionen und dazu einer reichhaltigen Freiheitsliteratur“.

Die inzwischen bei Historikern beliebte kontrafaktische Methode fragt: Wie wäre die weitere Geschichte verlaufen, wenn es ein bestimmtes eher zufälliges Ereignis oder eine bestimmte ganz untypische Person nicht gegeben hätte? Dieser Methode folgend billigt Habermann dem Hauptteil der Deutschen zu, dass sie „historisch einfach ‚Pech‘ hatten, als eine ungünstige politische Konstellation im 20. Jahrhundert eine Entwicklung sich durchsetzen ließ, die schon beim Wegdenken einzelner Faktoren – wie zum Beispiel der Weltwirtschaftskrise nach 1929 oder der Dämonie Adolf Hitlers – auch weniger unglücklich hätte verlaufen können…“

Die deutsche Freiheitsgeschichte beginnt mit dem freien Leben der Germanen im Vergleich zum „fiskalischen Zuchthausstaat“ des spätrömischen Kaiserreichs. Bezeichnend, dass die Götter der Germanen keineswegs allmächtig waren. Karl der Große kommt bei Habermann nicht gut weg, der Voltaire zitiert: „Der ehrwürdige Charlemagne hatte Erfolg, darum wird er von gedungenen Historiographen als Zierde der Menschheit gepriesen, obwohl er schreiendes Unrecht tat. Dieser fromme Christ hatte mehrere Frauen zugleich und war der Blutschande verdächtig. Den Mörder von Tausenden hat die Kirche heiliggesprochen. Nicht einmal seinen Namen konnte er schreiben und ging doch als Förderer der Wissenschaft in die Geschichte ein.“ Habermann fügt hinzu, dass Karl bei den zwangsmissionierten Sachsen auf geringste Abweichungen vom römischen Glauben – etwa eine Verletzung der Fastenzeit – die Todesstrafe setzte.

Die spätere Feudalisierung Deutschlands „war der Freiheit nicht ungünstig, weil es so viele konkurrierende Herren gab … Ein Herr, der versagte …, der das Recht brach, konnte abgesetzt oder verlassen werden“. Es entwickelte sich ein freier Bauernstand, und selbst die Leibeigenen hatten Rechte, von denen die römischen Plantagensklaven nur hatten träumen können.

Die Goldene Bulle (1356), die sieben Kurfürsten das Recht gab, mit ihrer Mehrheit den König zu wählen, bezeichnet Habermann als „politisches Kartell“. Er preist die freien Reichsstädte, Reichsdörfer, Reichsabteien und Bauernrepubliken in Norddeutschland und bietet einige Fallstudien. Auch der Städtebund der Hanse gehört hierhin. Die eben erwähnten freien Reichsstädte usw. zahlten zumeist Reichssteuern und hatten bei Heerzügen und Besuchen des Königs Unterstützungspflichten zu erfüllen, waren aber ansonsten Inseln der Freiheit.

Das Lob des „Konkurrenzpolyzentrismus“

Martin Luther appellierte zwar an das Gewissen des Einzelnen, war aber zu intolerant und wohl auch zu sehr auf der Seite der Fürsten, um als freiheitlich durchzugehen. „Die Liberalen seiner Zeit waren dagegen die epikuräisch-fröhlichen Humanisten“, konstatiert Habermann. Es folgen die klassischen deutschen Freiheitsautoren des 18. Jahrhunderts: Friedrich Schiller, Wilhelm von Humboldt, Immanuel Kant, Johann Gottfried Herder, Justus Möser – jeweils mit Schlüsselzitaten. Ihr besonderes Verdienst war die Entwicklung des liberalen Persönlichkeitsideals.

Von Johann Wolfgang von Goethe, dem Fürstenfreund, der die Französische Revolution von Anfang an ablehnte und die Karlsbader Beschlüsse (bis hin zur Pressezensur) billigte, stammt immerhin das Zitat: „Ich dächte, jeder müsse bei sich selbst anfangen und zunächst sein eigenes Glück machen, woraus dann zuletzt das Glück des Ganzen unfehlbar entstehen wird“ (Gespräche mit Johann Peter Eckermann). Er schrieb überdies Freiheitsdramen wie den „Götz von Berlichingen“ und den „Egmont“ und setzte sich als Minister für den Freihandel ein. Wie Goethe wendet sich Wilhelm von Humboldt gegen die „naive Gegenüberstellung von ‚Egoismus‘ und ‚Altruismus‘“ – als gäbe es nicht ein Drittes: die eigenen Möglichkeiten entwickeln, ohne anderen zu schaden, und ihnen dadurch sogar unabsichtlich nützen.

Ein immer wiederkehrendes Thema ist bei Habermann das Lob des „Konkurrenzpolyzentrismus“: Die Freiheit und die Kulturmöglichkeiten der Deutschen profitierten von dem Fehlen eines Zentrums. Dazu gehört die Verteidigung des Kleinstaats gegenüber dem preußisch-deutschen Machtstaatsdenken. Als Fallstudien erfreulicher Kleinstaaten beschreibt Habermann Sachsen-Weimar, Schaumburg-Lippe und Anhalt-Dessau. Zustimmend zitiert er Jakob Burckhardt: „Der Kleinstaat hat überhaupt nichts als die wirkliche tatsächliche Freiheit, wodurch er die gewaltigen Vorteile des Großstaats, selbst dessen Macht, ideal völlig aufwiegt.“ Treffend auch das Bonmot von Montesquieu: „Die kleinen Staaten gehen an den großen zugrunde, die großen an sich selbst.“

Ruhmeskapitel der deutschen Freiheitsgeschichte: Ludwig Erhard und die Ordoliberalen

Es ergibt sich von selbst, dass auch die „Gewaltpolitik Bismarcks“ bei Habermann nicht gut wegkommt. Er kreidet ihm an, dass er die Wende zum Wohlfahrtsstaat und zum Protektionismus vollzog – die Freihandelstheorie bezeichnete Otto von Bismarck als „gemeinschädliche Krankheit“. Habermann nennt es außerdem „beschämend zu sehen, welch eine subalterne Rolle Vertreter des Reichstags 1871 in Versailles bei der Kaiserproklamation spielten“. Eingehend analysiert er die Spaltung der Liberalen. „Unser liberales Bürgertum hat sich im Laufe der Jahre im Zusammenleben mit dem überlegenen Kanzler zu Tode kompromittiert“, beschreibt der standhafte Liberale Ludwig Bamberger diese tragische Entwicklung. Auch Halbliberale wie Lujo von Brentano, Friedrich Naumann und Max Weber kommen zu Wort.

Was die Weimarer Republik betrifft, zeigt eine Analyse der Parteiprogramme der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Volkspartei, wie sehr sich die sogenannten „liberalen“ Parteien vom Freiheitsideal entfernt hatten.

Das Buch schließt mit einem Ruhmeskapitel der deutschen Freiheitsgeschichte: Ludwig Erhard und die Ordoliberalen. Habermann beschreibt Erhard als einen „politischen Visionär“, dem eine Gesellschaft von Eigentümerbürgern vorschwebte. Er betont, dass Erhard die Marktwirtschaft gegen starke Widerstände in seiner eigenen Partei und gegen eine zunächst feindselige öffentliche Meinung, ja sogar gegen einen Generalstreik der Gewerkschaften durchsetzen musste. Er würdigt Erhards Vorbildfunktion für die marktwirtschaftlichen Reformer in Neuseeland (Roger Douglas) und Polen (Leszek Balcerowicz). Unter den ordoliberalen Freunden Erhards geht Habermann vor allem auf Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow ein. Röpke emigrierte während des Dritten Reichs nach Istanbul und dann nach Genf und wurde zu einem führenden Vertreter des „Dezentrismus“.

Das sind nur einige Stichworte zum Inhalt dieses detailreichen Buches, das den politischen, ökonomischen und kulturellen Wettbewerb als Leitmotiv der deutschen Geschichte hervortreten lässt. Gerd Habermann ist Initiator und geschäftsführender Vorstand der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft und Honorarprofessor an der Universität Potsdam. Sein Buch füllt eine klaffende Lücke auf dem deutschen Büchermarkt. So etwas hat schon lange gefehlt.

Besprochen wird: Gerd Habermann, Freiheit in Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Lau Verlag, Reinbek 2021 (Olzog edition), 276 Seiten.


Prof. Dr. Roland Vaubel ist emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim.

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