Welche Wege führen aus der erdrückenden Staatsverschuldung, die durch die pandemie-induzierte Wirtschaftskrise nun noch verstärkt wird? Sparen, Staatskonkurs oder Inflation, sagt Joachim Starbatty, und hält die dritte Alternative für die wahrscheinlichste.

In den Monaten bis zur Wiedervereinigung ging vor 30 Jahren das Wort um: „Wir leben in einer Zeit, in der das Wort im Munde veraltet.“ Der DDR-Wirtschaft war von heute auf morgen der Stecker gezogen worden. Jede Prognose war veraltet, kaum dass sie publiziert worden war. Auch im Zuge der Corona-Krise wurde der Stecker gezogen, sogar weltweit, um die jeweiligen Populationen vor dem Coronavirus zu schützen. Wie lange kann unsere Wirtschaft das aushalten? Springt der Motor nach dem Shutdown wieder an? Unerwartete Ereignisse und politische Entscheidungen lassen erneut jede Prognose veralten, bevor sie ausgesprochen wurde.

In einer Umbruchzeit, wo kein Stein auf dem anderen zu bleiben scheint, müssen sich Politiker und Experten vom Detail lösen und das Ganze in Augenschein nehmen, um sich ein Urteil bilden zu können. Sars-CoV-2 hat uns drei Krisen auf einmal beschert: erzwungener Nachfrageausfall, um die Virusausbreitung zu stoppen; Zusammenbruch der weltweiten Arbeitsteilung wegen unterbrochener Lieferketten; Wiederaufleben der Eurokrise, weil überschuldeten Mitgliedstaaten der Staatskonkurs droht. Das Überleben der Eurozone wird Politik und Wirtschaft länger und intensiver beanspruchen als das Anspringen des nationalen Wirtschaftsmotors.

Die EZB hat sich selbst ihrer Macht beraubt

Manche wollen über Konjunkturprogramme den Motor wieder in Gang bringen. Wir haben es aber nicht mit einem Produktionsausfall zu tun, weil in der Zeit überschäumender Konjunktur zu viel oder falsch investiert wurde und die Wirtschaft in eine Rezession rutscht, sondern weil die Politik sie zum Stillstand gezwungen hat, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen. Scheiden bei Konjunkturkrisen Unternehmen aus dem Produktionskreislauf aus, weil sie nicht mehr konkurrenzfähig sind, so sind jetzt alle Firmen gefährdet, gleichgültig, ob sie in Zukunft profitabel arbeiten könnten oder nicht. Welche Maßnahmen sichern ihr Überleben? Regierungen und Zentralbanken müssen verhindern, dass ein temporärer Rückgang des Geschäftsvolumens zu dauerhaften realwirtschaftlichen Verlusten, zu vermeidbaren betrieblichen Konkursen und Arbeitsplatzverlusten führt.

Bei der Arbeitsteilung zwischen Geld- und Finanzpolitik ist das Instrumentarium der Regierungen geeigneter als das der Zentralbanken. Letztere können zwar sofort mit den Zinsen heruntergehen, die Liquiditätsschleusen öffnen und die Tränken füllen, aus denen die Pferde saufen sollen. Doch ob diese es tun, haben sie nicht in der Hand. Sie schaffen aber immerhin die Voraussetzung dafür, dass Firmen zu günstigeren Konditionen investieren könnten. Genau das hat sich die EZB selbst verbaut. Um den Zusammenhalt der Eurozone zu wahren, hat sie über Nullzinsen, Liquiditätsschwemme und Staatsanleihekäufe den Wackelkandidaten den Zugang zu billigem Geld freigemacht. Lägen die Zinsen wie früher deutlich über Null, hätte Christine Lagarde ein kräftiges Zeichen setzen können. Ein wenig mehr von der bereits verabreichten Medizin, wie vom EZB-Rat angekündigt, hat nicht verhindert, dass der Dax in die Tiefe rauschte. Erst als die EZB ihre „Bazooka“ – ein Ankauf- und Kreditprogramm in Höhe von 750 Milliarden Euro – herausholte, hat sie Wirkung erzielen können, weil sie überschuldete Mitgliedstaaten der Eurozone vor dem Staatskonkurs bewahren will.

Was derzeit entscheidend ist, erfasst ein Wort, das unter Wirtschaftsprüfern kursiert: „Mangelnde Rendite ist eine schlimme Krankheit, mangelnde Liquidität ist eine tödliche Krankheit.“ Und genau hier muss Politik ansetzen: Weil die Nachfrage ausbleibt, brechen erwartete Erlöse weg, doch die Kosten verharren auf hohem Niveau. Dann ist das Ende für viele Betriebe absehbar. Können Unternehmen auf eigenes Kapital zurückgreifen, so stehen sie die Durststrecke eine Zeitlang durch, nicht aber diejenigen, die auf Fremdkapital angewiesen sind. Sie brauchen Überbrückungskredite. Die Bundesregierung hat reagiert, indem sie die Förderbank KfW mit der Mittelvergabe betraut hat. Das ist aber zeitaufwendig und umständlich. Der Münsteraner Ökonomieprofessor Ulrich van Suntum hat einen besseren Vorschlag gemacht: Der Staat solle für Kredite bürgen, die Banken an unter Liquiditätsnot leidende Unternehmen ausreichen. Das würde rasch und ohne bürokratisches Antragswesen gehen.

Auch Kurzarbeitergeld hilft, den Stillstand zu Überbrücken. Natürlich bleiben noch Fälle offen, die entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip am besten vor Ort gelöst werden können. Gebietskörperschaften einschließlich Sozialversicherung sind dazu auch in der Lage, weil bisher die Steuerquellen reichlicher als erwartet sprudelten und die Nullzinsen den Zins- und Tilgungsdienst niedrig hielten. So haben sie Reserven, um die Kosten des Stillstands zu finanzieren. Als Konsequenz kommt es zu einem Rekorddefizit beim Gesamtstaat (Bund, Länder, Gemeinden und Sozialversicherung) im laufenden Jahr, das abgebaut werden soll, wenn der Motor wieder anspringt. Freilich wird das nicht gänzlich gelingen, weil der Staat für einen Teil der wegen Stillstands aufgelaufenen Kosten geradestehen muss. Wie hoch diese sind, hängt von der Dauer des Stillstands und von der Schnelligkeit des konjunkturellen Hochfahrens ab.

Schnelle Erholung oder langanhaltende Stagnation?

Auch in der Vergangenheit mussten einzelne Branchen Nachfrageausfälle verkraften, etwa die Autoindustrie, weil die Kunden Neuanschaffungen zurückstellten, doch konnte man davon ausgehen, dass das nicht ewig dauern würde und Käufe nachgeholt werden müssten. Wenn dies auch für die Wirtschaft insgesamt gelten würde, dann könnte die Corona-Krise die Form eines „V“ annehmen – starker Absturz, aber rasche Erholung, wenn der Stecker wieder an Ort und Stelle ist. Ähnlich scheint die Entwicklung an den Aktienmärkten zu verlaufen. Aber niemand kann sagen, ob wir es hier mit einem nachhaltigen Trend oder bloß mit einem Zwischenhoch zu tun haben. Angesichts der Dauer des bisherigen Stillstands und der sich erst allmählich anbahnenden Normalisierung ist ein „U“-förmiger Verlauf der Corona-Krise wahrscheinlicher: Die Erholung lässt auf sich warten, aber schließlich kommt sie doch. Pessimisten schließen allerdings einen „L“- förmigen Verlauf nicht aus: starker Abschwung und nur ganz schwache Erholung oder gar Stagnation. Welches Szenario zutrifft, hängt von der Konstitution der jeweiligen Volkswirtschaft, von der Länge des Stillstands und von unvorhergesehenen Ereignissen ab.

Die Gemeinschaftsdiagnose der Wirtschaftsforschungsinstitute (GD) vom 8. April 2020 listet die Risiken auf: langsamere Abschwächung der Pandemie bei uns, noch langsamere bei unseren Handels-partnern. Auch ist bei einem Wiederhochfahren der wirtschaftlichen Aktivität eine zweite Ansteckungswelle nicht auszuschließen. Verwerfungen im Finanzsystem als Folge zunehmender Stillstandskosten können nicht ausgeschlossen werden. Wenn man vom aktuellen Geschehen zurücktritt, deutet vieles darauf hin, dass der Gesundungsprozess zwar länger braucht als vermutet, aber schließlich doch kommt. Daher ist angesichts der Verfassung unserer Wirtschaft ein „L“-förmiger Verlauf – Absturz und langanhaltende Stagnation – wenig wahrscheinlich. Die größte Gefahr geht vom wirtschaftlichen Verlauf der Corona-Krise in den Mitgliedstaaten der Eurozone aus.

Begrenzte Solidarität in der EU: Die Sorgen gelten nur der Eurozone

Angela Merkel sieht die EU nun vor der größten Bewährungsprobe seit ihrer Gründung. Doch trifft das Coronavirus alle Staaten dieser Erde und besonders natürlich diejenigen, die wegen mangelnder sanitärer Infrastruktur und Bevölkerungsballungen diesem Virus nahezu schutzlos ausgesetzt sind. Sie meint auch nicht Europa oder die EU insgesamt. Kein Mitgliedstaat wird derzeit den Schutzschirm der EU verlassen wollen. Die Kanzlerin sorgt sich vielmehr um den Zusammenhalt der Eurozone. Nur sie steht vor ihrer größten Bewährungsprobe, weil sie als ein politisches Kunstprodukt stabilitätsorientierte und überschuldete Mitgliedstaaten unter einem Dach vereint hat. Kein Politiker in Brüssel oder den Euro-Staaten macht sich Gedanken darüber, ob Polen, Ungarn oder Rumänien mit der Corona-Krise fertig werden. So weit reicht ihre Solidarität nicht.

Andere Maßstäbe gelten für die Eurozone. Es wird befürchtet, dass diese nach überstandener Corona-Krise auseinanderbreche, weil einzelne Mitgliedstaaten die mit den Aufräumarbeiten verbundenen finanziellen Lasten nicht tragen könnten, Konkurs anmelden und aus der Eurozone ausscheiden müssten. Wahrscheinlich wäre ein solcher Neubeginn mit einem begleitenden Schuldenerlass für die betroffenen Staaten der Beginn einer volkswirtschaftlichen Gesundung. Aber das ist nicht gewollt, weil der Euro nicht bloß als Zahlungsmittel betrachtet wird, sondern als Motor einer immer engeren Union. Die verantwortlichen Politiker in den Mitgliedstaaten und in Brüssel wollen die Eurozone auf unterschiedliche Art und Weise zusammenhalten. Die einen wollen solidarisch sein, ohne ihre Budgethoheit aufzugeben; die anderen wollen die unbegrenzte Solidarität der gesamten Eurogruppe in Anspruch nehmen – entsprechend der Devise der drei Musketiere: „Einer für alle, alle für einen“. Allein Eurobonds oder Corona-Bonds wären für sie Ausdruck dieser gemeinsamen Solidarität. Die stabilitätsorientierten Länder lehnen sie ab, weil in unserer Welt noch nie eine Institution funktioniert habe, wo die einen haften und die anderen über die finanziellen Mittel verfügen. Doch lassen einige Mitgliedstaaten nicht locker, weil sie jetzt die Gelegenheit sehen, über moralischen Druck die gemeinsame Haftung erzwingen zu können. Die anderen sind bereit, alle Liquiditätsschleusen zu öffnen, um genau das zu verhindern.

Mit Staatskonkurs oder Inflation aus der Verschuldungskrise?

Aber der moralische Druck ist stark. Die Mehrheit der EU-Kommission ist für Corona-Bonds. Auch deren Ex-Chef, Jean-Claude Juncker, hat für seine alte Idee der Eurobonds geworben. Sogar in der Osterbotschaft des Papstes glaubte man Worte von Giuseppe Conte zu hören: Manche Länder in Europa hätten nach dem Zweiten Weltkrieg starke Solidarität erfahren, sie sollten sich heute dankbar zeigen und sich zu „innovativen“ Instrumenten – die italienische Umschreibung für Corona-Bonds – als Ausdruck europäischer Solidarität bereitfinden. Wer sich in der Politik auskennt, weiß, dass moralische Wucht stärker ist als Vernunft und Verantwortungsbewusstsein. Wenn der Widerstand erlischt, wäre es ein Selbstmord auf Raten für die Euro-Staaten.

Angesichts der offenen Liquiditätsschleusen und der bedingungslosen Verschuldung in der Eurozone hat Jürgen Stark, früheres Mitglied des EZB-Direktoriums, nach den Konsequenzen gefragt: Niemand wolle oder könne im Augenblick daran denken, welche langfristigen Folgen diese Politik haben werde, doch müsse man mit jedem weiteren Schritt eine Vorstellung davon entwickeln, wie man den Weg zurück finde. Zurück aus der Verschuldung. Es gibt drei Wege: Sparen, Staatskonkurs oder Inflation. Das alles ist nicht neu. Der Schotte Adam Smith klärt uns auf: Wenn Schulden zu schwer auf den Schultern der Bürger lasteten, blieben nur zwei Möglichkeiten – Inflation oder Staatskonkurs. Während alle Bürger unter der Inflation litten, sei der Konkurs der ehrlichere Weg, weil er nur diejenigen treffe, die so leichtfertig gewesen seien, dem Staat ihr Geld anzuvertrauen. Da die Politiker in der Eurozone Staatskonkurse wohl auch zukünftig vermeiden wollen, erscheint Inflation als die wahrscheinlichere Variante, die Staatsschulden loszuwerden.

Der Beitrag ist zuerst in der Jungen Freiheit vom 17. April 2020 erschienen.

Prof. Dr. Joachim Starbatty ist Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung und emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Tübingen. Bis 2019 war er Mitglied des Europäischen Parlaments.

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