Am 25. und 26. August 2022 fand in Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen das Kolloquium „Rheinischer Kapitalismus und Soziale Marktwirtschaft“ in Bonn statt. Im Zentrum der Veranstaltung standen vor allem auch die Entwicklung der Wirtschaftspolitik im 1946 gegründeten Land Nordrhein-Westfalen, die Herausforderung des multiplen Strukturwandels an Rhein und Ruhr sowie die bedeutenden wirtschaftspolitischen Aufgaben der Zukunft. Nachfolgend dokumentieren wir den Impuls von Marcus M. Lübbering, Geschäftsführer der Ludwig-Erhard-Stiftung.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

lieber Mark Speich,

herzlichen Dank für die Begrüßungsworte und Ihnen allen, dass Sie heute gekommen sind. Ich darf Ihnen allen – auch im Namen unseres Kooperationspartners und Mitveranstalters, der Landeszentrale für politische Bildung in Nordrhein-Westfalen – ein „herzliches Willkommen“ sagen.

Als Geschäftsführer der Ludwig-Erhard-Stiftung kommt mir die Aufgabe zu, einige einführende Überlegungen zu diesem zweitätigen Kolloquium anzustellen – „Input“ heißt das heute. Von der Input-Orientierung sind wir ja heute eigentlich eher wieder weg; es sind Ergebnisse, die zählen. Tatsächlich bin ich sicher, dass von dieser Tagung fruchtbare Impulse ausgehen werden. Dafür sprechen die fachkundigen Referenten, die ich ebenfalls herzlich begrüße, sowie das anregende und gehaltvolle Miteinander schon bei Vorbereitung, für das ich mich bei Ihnen, lieber Herr Dr. Hitze, herzlich bedanken möchte.

Meine Damen und Herren,

wir stehen im Jahr des 125. Geburtstages von Ludwig Erhard. Das ist für die Ludwig-Erhard-Stiftung ein besonderer Grund, sich mit Nachdruck für die Werte und Prinzipien stark zu machen, die der Gründer der Sozialen Marktwirtschaft durch eigene Lebenserfahrung und wissenschaftliche Erkenntnisse als richtig erkannt und die er dann auch in die gesellschaftliche und wirtschaftliche Praxis der jungen Bundesrepublik Deutschland umgesetzt hat. Den daraus resultierenden „Wohlstand für Alle“ – so der Titel seines erstmals 1957 erschienenen Buches – hat Ludwig Erhard selbst nie als „Wirtschaftswunder“ gelten lassen. Für ihn war es die Folge klarer und verlässlicher Rahmenbedingungen des Staates und des Fleißes von Millionen von Menschen, die wussten, dass ihre Anstrengung sich lohnt und die auf das Versprechen der Sozialen Marktwirtschaft vertraut haben.

Gilt dieses Versprechen, dass es uns bei entsprechendem Einsatz besser gehen wird, noch heute? Es ist sicher kein Automatismus, und wir müssen alles dafür tun, dass es so kommt. Daher bin ich für das klare Bekenntnis aus der Politik – jedenfalls eines Vertreters der nordrhein-westfälischen Landesregierung – sehr dankbar. Ich weiß, dass Dir lieber Mark, die Bewahrung und Aktualisierung des Erbes von Ludwig Erhard auch ein persönliches Anliegen ist. Vielen Dank!

Über diesem Kolloquium steht das Thema „Rheinischer Kapitalismus und Soziale Marktwirtschaft“. Das ist ein spannendes Thema – in historischer, wirtschaftswissenschaftlicher und politischer Perspektive. Wir wollen ja nicht nur Input-orientiert sein, wir wollen auch diese Tagung am Ende an ihren Ergebnissen messen.

Deshalb zu jedem der genannten Bezugspunkte ein paar kurze Gedanken:

  • Zur (wirtschafts-)historischen Perspektive:

Wenn wir uns „in Perspektive stellen“ geht es immer um das Zurückschauen, das Bilanz-Ziehen und manche entscheidenden Weichenstellungen der Vergangenheit; es geht aber stets auch um den Blick nach vorn. Und da steht heute die Frage im Vordergrund: Was können wir aus der Entwicklung unserer Gesellschaft in der Vergangenheit für die Gestaltung der Zukunft lernen, um alte Fehler zu vermeiden?

  • Zur wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive:

Hier geht es um die heute wieder hoch aktuelle Frage, wie der Strukturwandel erfolgreich gestaltet werden kann. Wie weit lassen wir den markgetriebenen Prozess der Schumpeter’schen Zerstörung zu, bremsen und federn ihn ab, oder setzen wir gar auf Erhalt vor Erneuerung? Und ganz wichtig: Welche Rolle spielt der Staat auf diesem Weg? Überlassen wir ihm die Visionen und die Ressourcen der Zukunftsgestaltung oder beschränken wir ihn auf seine – von Ludwig Erhard beschriebene – Schiedsrichterfunktion und die Gestaltung stabiler Rahmenbedingungen? Was sind die Auswirkungen beider Denkweisen?

  • Und schließlich zur (wirtschafts-)politischen Perspektive:

Unser Tagungsort, die Bundesstadt am Rhein, ist unverbrüchlich mit dem Begriff der „Bonner Republik“ verbunden. Sie steht für politische Stabilität und den Grundkonsens der Demokraten, zu der nach dem Grauen der Nazi-Herrschaft in der „Stunde Null“ alle politisch Verantwortlichen beigetragen haben. Was können wir aus dieser für unser Land so segensreichen Zeit für den politischen Diskurs lernen?

Bei den Vorüberlegungen zu diesem Kolloquium habe ich mich in die Zeit zurückversetzt gefühlt als ich in den 80er Jahren als Student der Volkswirtschaftslehre hier nebenan im Wissenschaftszentrum Vorträge in der Ludwig-Erhard-Stiftung hörte, die sich unter anderem auch damit auseinandersetzten, ob das „S“ in der Sozialen Marktwirtschaft nun groß- oder kleingeschrieben werden sollte. Inzwischen weiß ich als überzeugter Anhänger von Ludwig Erhard, dass Soziale Marktwirtschaft eben mehr ist als eine Marktwirtschaft, die durch den Sozialstaat eingegrenzt werden muss. Das Soziale an dieser Wirtschaftsform ist eben, dass jeder in die Lage versetzt werden soll, seine Gaben, Potenziale und Möglichkeiten zu entfalten, um so „Wohlstand für Alle“ zu erreichen, ohne dass der Staat einen wachsenden Anteil der Ressourcen zur Umverteilung in Anspruch nehmen muss. Das ist eben etwas anderes als ein Sozialstaat, der großzügig möglichst viele soziale Leistungen – mit kleinem „s“ – verteilt. Der Wohlstand ist am Ende dann eben kleiner als in der Sozialen Marktwirtschaft – mit großem „S“.

Bei der Planung dieser Veranstaltung mit der Landeszentrale haben wir einen spezifischen Bezug der Sozialen Marktwirtschaft zu Nordrhein-Westfalen herstellen wollen. Da tauchte dann schon bald der „Rheinische Kapitalismus“ auf. Ich habe mich gewundert, dass dieser Begriff dann in unseren Vorbereitungs-Papieren auch gleich mit großem „R“ geschrieben wurde. Hatte das auch eine Bedeutung, oder war es Zufall? Das kann nur die Landeszentrale beantworten. Jedenfalls stand der Rheinische Kapitalismus auf einmal im Titel vor der Sozialen Marktwirtschaft – und musste damit großgeschrieben werden. Aber was hat es damit auf sich?

Zunächst: Der Rheinische Kapitalismus hat ja eigentlich zumindest vordergründig gar nichts mit unserem Jubilar Ludwig Erhard zu tun. Dieser Begriff wurde von Michel Albert erst Anfang der 90er Jahre geprägt, und zwar stellte er damit – nach dem von Francis Fukuyama diagnostizierten „Ende der Geschichte“ – den sozialstaatlich eingehegten Kapitalismus in Deutschland dem anglo-amerikanischen Modell gegenüber. So gesehen ist der Rheinische Kapitalismus die real existierende Soziale Marktwirtschaft in Deutschland und speziell in Nordrhein-Westfalen.

Aus unseren Vorgesprächen ist mir dann aber klar geworden, dass der Rheinische Kapitalismus durchaus eine Eigenständigkeit gegenüber der Sozialen Marktwirtschaft beanspruchen kann. Ludwig Erhard war ja bekanntlich nicht immer einer Meinung mit den Landesregierungen in Düsseldorf.

Auf den Bildern der Ausstellung, die wir draußen aufgebaut haben und zu der mein Kollege Andreas Schirmer heute am frühen Abend noch etwas sagen wird, sehen Sie auf einer Tafel die Kohlehalden, die über Jahrzehnte hinweg mit Milliarden von D-Mark subventioniert wurden, zugleich geht es aber auch um Neuansiedlungen – damals Opel in Bochum.

Da tut sich eine Frage auf, die auch heute wieder hoch aktuell ist: Wo, wie lange und in welcher Höhe geht der Staat mit vermeintlich guten Absichten für soziale und andere Belange in Vorlage und wo lässt er den Marktkräften Platz bzw. unterstützt die Menschen, dass sie Neues aufbauen und nur so den Wohlstand auf Dauer sichern können?

An Rhein und Ruhr wissen viele Menschen noch aus eigener Erfahrung, welche Mühen und Opfer der Strukturwandel weg von Kohle und Stahl bedeutet hat. Das Stichwort „Rheinhausen“ sagt mir, der ich in Essen meine Bundeswehrzeit absolviert habe und jenseits der bekannten Rheinbrücke einen Kameraden wohnen hatte, in diesem Zusammenhang noch sehr viel: 90 Jahre hatte der Name des Krupp-Eisenhüttenwerks dort stellvertretend für Europas größte Stahlschmiede gestanden. Die Hütte bot bis Ende der 80er Jahre Generationen von Familien sichere Arbeitsplätze mit eigenen Werkswohnungen und Sozialeinrichtungen. Dann kam die Nachricht von der geplanten Schließung, und es folgte der härteste Arbeitskampf, den die Bundesrepublik bis dahin erlebt hatte.

Unverhältnismäßige Lohnforderungen hatte es auch zu Erhards Zeiten schon gegeben. So forderten etwa die 185.000 Beschäftigten der nordrhein-westfälischen Chemie-Industrie im Jahr 1962 eine Lohnerhöhung von 17 Prozent. Wir kennen die Maßhalte-Apelle vor allem aus Erhards Kanzler-Zeit. Damals gab es noch keine Sorgen um den Abbau von Arbeitsplätzen, aber im Rheinischen Kapitalismus ging es 25 Jahre später um Besitzstände und um die wirtschaftliche Existenz.

Wieder zehn Jahre später – Anfang 1997, als ich im Bundeskanzleramt in Bonn tätig war – habe ich die Proteste der Bergarbeiter unweit von hier vor dem Haus der Geschichte und auf der Museumsmeile erlebt. In dieser Zeit ging es um den Abbau der Kohle-Subventionen. Und ich kann Ihnen versichern, es war nicht gerade gemütlich da draußen.

Was ist die Lehre aus all dem? Dass die Subventionen für Kohle und Stahl, die über Jahrzehnte ein fester und wachsender Bestandteil der öffentlichen Haushalte waren, auf Dauer nicht stärker sein können als der Markt. Sie schieben die Lösung von wirtschaftlichen Problemen auf und machen diese noch größer – bis hin zu gesellschaftlichen Protesten und Unruhen.

Das war auch die Einsicht in der „Düsseldorfer Erklärung“ vom Mai 1988, einem Wendepunkt im Rheinischen Kapitalismus, was später auch bei der Kohle nachvollzogen wurde: In dem politischen Kompromiss zum Stahlwerk Rheinhausen wurde die Komplett-Schließung zwar verschoben, aber – und das war entscheidend – man verabschiedete sich von der Idee, mit staatlicher Hilfe Arbeitsplätze gegen den Markt auf Dauer zu erhalten. Ein später Sieg Erhard’schen Denkens?

Die Alternative, den Marktkräften eine bessere Chance zu geben, war dann auch ein tragendes Element der Ruhrgebietskonferenzen des Initiativkreises Ruhr. Ich erinnere mich noch an die Aufbruchstimmung, die dadurch – nach anfänglichem Zögern – Ende der 80er Jahre ausgelöst wurde. Damals, nach meinem Berufseinstieg bei der Deutschen Bank, kam ich gerade in die Volkswirtschaftliche Abteilung, die Alfred Herrhausen bei den entsprechenden Vorbereitungen zugearbeitet hat.

Adolf Schmidt, ehemals Vorsitzender der IG Bergbau und einer der Mitbegründer des Initiativkreises Ruhr, hat das Ziel später einmal so umrissen: „Wir wollten ohne staatlichen Einfluss keine dauerhafte Institution, sondern eine Bewegung, die jetzt und heute hilft, so gut sie kann, und wenn sie nicht mehr gebraucht wird, dann ist sie nicht mehr da.“

Sie wissen, der Initiativkreis ist noch immer da, aber bemerkenswert finde ich vor allem die drei Worte „ohne staatlichen Einfluss“. Was ist die Rolle des Staates und wie viel Raum geben wir ihm?

Das ist eine gerade auch heute eine der zentralen Fragen, die wir im Sinne der Zukunftsfähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft beantworten müssen.

Angesichts der omnipräsenten Krisen-Phänomene wie Pandemie, Klima, der finanziellen Instabilität seit der Bankenkrise und nun auch noch Krieg seit dem Überfall von Putin auf die Ukraine wird der Ruf nach dem Staat immer lauter. Es ist sicher richtig, wenn es brennt, nach der Feuerwehr zu rufen, und dann muss auch schnell gelöscht werden. Aber wenn die Feuerwehr den akuten Brand gelöscht hat, müssen andere ran. Immer weiter Wasser in das Haus zu spritzen hilft irgendwann nicht mehr. Zu viel des „Guten“ richtet eben auch Schaden an, und es wäre verheerend, wenn – um im Bild zu bleiben – die Bewohner das Lösch-Wasser am Ende sogar noch nutzen würden, um ihren regulären Wasserbedarf zu decken. Das mag am Anfang im Einzelfall sogar bequem sein. Aber aus der politischen Erfahrung – gerade auch an Rhein und Ruhr – wissen wir, welche Wirkung das süße Gift staatlicher Hilfen hat: Sie verhindern notwendige Veränderungen und führen in die Abhängigkeit.

Hüten wir uns vor politischen Akteuren, die allen möglichen Gruppen die Befriedigung ihrer Partikularinteressen versprechen. Es kann auch nicht gutgehen, wenn jeder nur noch darauf aus ist, seinen eigenen vordergründigen und kurzfristigen Vorteil zu suchen, ohne die Rückwirkungen auf das Ganze zu bedenken. Das ist eine Denkweise, die Ludwig Erhard immer gebrandmarkt hat. In „Wohlstand für Alle“ schreibt er: „Ich habe nie einen Zweifel darüber gelassen, dass jedes Einzelinteresse seine Rechtfertigung nur dadurch finden kann, dass es geeignet ist, auch dem Interesse des Ganzen zu dienen.“

Die Soziale Marktwirtschaft ist nicht nur eine Wirtschaftsordnung, sondern auch eine Gesellschaftsordnung – eine irenische Formel, die ihre friedenstiftende und wohlstandsmehrende Wirkung umso besser entfalten kann, je mehr der grundlegende Werte-Konsens akzeptiert wird, auf dem sie aufbaut. Die Väter der Sozialen Marktwirtschaft – vornehmlich die Vorausdenker der Freiburger Schule – hatten Verbindungen zu den Verschwörern des 20. Juli 1944 und zum christlichen Widerstand. Es ging ihnen um die „Selbstbesinnung des christlichen Gewissens in den Nöten unserer Zeit“, wie es schon in einem Papier von 1942 über die künftige Wirtschaftsordnung nach dem Krieg festgehalten ist. Dieses Werte-Fundament sollten wir auch in einer säkularer werdenden Gesellschaft nicht geringschätzen.

Zweifellos, die Soziale Marktwirtschaft ist heute vielfältigen Herausforderungen ausgesetzt. Heute geht es auch – wieder – um einen Wettbewerb der Systeme: Autokratische Herrscher – insbesondere in China – haben sich Wettbewerbsvorteile verschafft, die eine Antwort auf die grundsätzliche Frage nach der Überlegenheit kapitalistischer Systeme nicht mehr eindeutig ausfallen lassen.

Und dennoch: Ich erinnere mich noch an ein Kolloquium der Ludwig-Erhard-Stiftung in den 80er Jahren, als der kürzlich verstorbene Professor Christian Watrin die Ausgangslage bei den Erhard’schen Reformen nach dem Ende des Krieges beschrieb: Er schilderte sehr eindrucksvoll, dass es damals gar nicht sicher gewesen war, dass es den Menschen in der Bundesrepublik bald besser gehen würde als denen in der DDR, wo die staatliche Planung für alle Lebensbereiche ehrgeizige Fortschritte in ihre Fünf-Jahres-Pläne schrieb.

Seine Aussage, die mich bis heute beeindruckt, lautete sinngemäß: „Ludwig Erhard und seine Mitstreiter haben trotzdem darauf vertraut, dass die Menschen sich im Zweifel für die Soziale Marktwirtschaft entscheiden würden – weil sie eine Freiheitsordnung ist!“ Das gelte auch dann, wenn die Bürger jenseits des Eisernen Vorhangs sich das Brot doppelt so dick mit Wurst und Käse belegen könnten wie die Bürger der Bundesrepublik.

Die Freiheit ist das höchste Gut. Das war die Erfahrung von Ludwig Erhard aus der NS-Diktatur und aus zwei Weltkriegen.  Die Freiheit mag in den Jahren wachsenden Wohlstands zu sehr als etwas Selbstverständliches angesehen worden sein. Aber heute – angesichts von Putins Krieg gegen die Ukraine – sind wir uns wieder mehr des Wertes der Freiheit bewusst. Das kann uns – bei allem, was derzeit zu beklagen ist – durchaus etwas Mut machen.

Lassen Sie mich drei Punkte nennen, warum ich glaube, dass gerade die Soziale Marktwirtschaft, auch international, heute eine riesige Chance ist und hat:

  1. Wirkliche Innovationen – sog. Basisinnovationen – sind ausschließlich in freiheitlichen Systemen entstanden.
  1. Die technische Überlegenheit freiheitlicher Gesellschaften verschafft ihnen auch die Möglichkeit, sich von anderen Systemen nicht erpressen zu lassen. Auch wenn wir bequem geworden sind und uns z. B. bei der Energie in zu große Abhängigkeit von Russland begeben haben, wird es uns gelingen Alternativen aufzubauen – es gibt eben immer eine Alternative, auch wenn wir sie noch suchen müssen.

Und vor allem:

  1. Das Menschenbild der Sozialen Marktwirtschaft ermöglichet den Einsatz von Ressourcen zum Wohle aller – „Stichwort: Wohlstand für Alle“ – und nicht nur einer herrschenden Klasse, Partei oder autokratischen Herrscherkaste. Somit entfaltet sie mehr Dynamik, ist effizienter und vergeudet weniger Ressourcen für Kontrolle.

Wir haben also einige Trümpfe in der Hand. Nutzen wir sie!

Ich habe neulich wieder das Buch „1984“ von George Orwell in die Hand genommen. Orwell hat es im Jahr 1948 – also im Jahr von Ludwig Erhards mutiger Freigabe der Preise im besetzten Deutschland und damit dem Start der Sozialen Marktwirtschaft – geschrieben. In Orwells Erzählung haben die staatlichen Behörden das absolute Sagen – selbst über das Privatleben der Menschen bis hin zu ihren Liebesbeziehungen. Möglich ist dies dadurch, dass alles Eigentum verstaatlicht ist und dass die staatlichen Stellen tagtäglich neue Narrative ausgeben, nach denen sich die Menschen künftig zu richten haben. Das System ist so ausgeklügelt, dass niemand am Ende mehr zu widersprechen wagt und das System wie von selbst auf die Abgabe jeder persönlichen Verantwortung und auf die totale staatliche Kontrolle hinausläuft.

Wenn Ludwig Erhard in der schlimmen, fast aussichtslos erscheinenden Situation nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einer solchen Logik gefolgt wäre, hätte es das Wirtschaftswunder nie gegeben.

Heute steht unser Land zweifellos in einer kritischen Phase. Da geht es erneut darum, die dynamischen Kräfte unseres Volkes wieder zu entfachen, wie es Ludwig Erhard einst gelungen ist. Dies hat er nicht erreicht, indem er viel analysiert hat und Bedenken äußerte. Er ist auch nicht jeden Tag in einer neuen Welt aufgewacht, um die Analyse immer wieder aufs Neue bis zu weiterer Verunsicherung der Menschen im Land voranzutreiben. Auch künstliche, abgehobene Narrative oder eine „von oben“ aufgezwungene Veränderung unserer Sprache, die heute manchmal Orwell’sche Züge annimmt, waren Erhards Sache nicht. Ihm ging es um das Wesentliche, die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen.

Und zum Schluss zurück zum Rheinischen Kapitalismus: Ich habe Herrn Dr. Hitze aus einer unserer Vorbesprechungen so in Erinnerung, dass er in etwa gesagt hat: Die Beschlüsse zu Rheinhausen – keine Erhaltungssubventionen mehr zu zahlen – waren das Ende des Rheinischen Kapitalismus! Wir werden dazu sicher nachher noch mehr von ihm hören. – Dabei sollten wir nicht vergessen, dass gerade auch die Körperschaftsteuerreform zur Jahrtausendwende entscheidend zum Abschied vom Rheinischen Kapitalismus beigetragen hat: Damit hat ein Kanzler, der heute wegen anderer Geschäfte im Rampenlicht steht, de facto das Ende der „Deutschland AG“ eingeläutet, obwohl er bis dahin den Begriff des Rheinischen Kapitalismus so gern bemüht hatte.

Die entscheidende Frage jetzt aber lautet: Überlebt die Soziale Marktwirtschaft? Oder besser: Was können wir tun, damit sie überlebt? Dazu erwarte ich mir heute und morgen Antworten.

Ich übergebe jetzt die Leitung der Tagung an Herrn Dr. Hitze – zunächst zu dem Programmpunkt „Wirtschaftshistorische Entwicklungen“.

Vielen Dank!

Marcus M. Lübbering ist Geschäftsführer der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.

Weitere Beiträge vom Kolloquium:

Begrüßung
Dr. Mark Speich, Staatssekretär für Bundes- und Europaangelegenheiten, Internationales sowie Medien des Landes Nordrhein-Westfalen

Dinner Speech
Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch, Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.

Das Programm der zweitägigen Veranstaltung finden hier: >>zum Programm.

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