Am 25. und 26. August 2022 fand in Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen das Kolloquium „Rheinischer Kapitalismus und Soziale Marktwirtschaft“ in Bonn statt. Im Zentrum der Veranstaltung standen vor allem auch die Entwicklung der Wirtschaftspolitik im 1946 gegründeten Land Nordrhein-Westfalen, die Herausforderung des multiplen Strukturwandels an Rhein und Ruhr sowie die bedeutenden wirtschaftspolitischen Aufgaben der Zukunft. Nachfolgend dokumentieren wir die Dinner Speech von Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch, Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung.

[Hinweis: Der folgende Text ist eine Abschrift der frei gehaltenen Rede.]

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Gäste!

Zunächst einmal heiße auch ich Sie herzlich willkommen!

Ich freue mich sehr, dass wir zum Stichwort „Rheinischer Kapitalismus“ im Jahr des 125. Geburtstages von Ludwig Erhard eine solche Chance haben, einige sehr spezielle, aber, wie ich meine, politisch sehr interessante Aspekte zu betrachten. Das Kombinationspaar von Rheinischem Kapitalis­mus und Sozialer Marktwirtschaft ist ja ein ulkiges Thema. Sie haben heute über die historischen Dimensionen, die Anfänge und das Ende und die Sicht der Historiker, schon eine Menge gesprochen. Da wird ein Jurist, der sich in die wirtschaftswissenschaftliche Debatte verlaufen hat, jetzt nicht anfangen, kontern zu wollen. Aber wenn Sie unsere Erfahrungen als Ludwig-Erhard-Stiftung betrachten, dann gehört es zu den interessanten Wahrnehmungen, dass die Debatte über diese Art von Marktwirtschaft – ich differenziere jetzt noch nicht zwischen Sozialer Marktwirtschaft und Rheini­schem Kapitalismus – in der internationalen ökonomischen Perzeption eigentlich gar keine Rolle spielt.

Der Journalist Binyamin Appelbaum von der New York Times hat vor zwei Jahren ein Buch geschrieben mit dem Titel „The Economists‘ Hour“, in dem er eine aus seiner Sicht vernünftige, abgewogene Wirtschaftspolitik in den 70er Jahren nachzeichnet, die dann einen Radikal-Liberalismus, wie er das nennt, der alles auf reine Marktkräfte konzentriert, gewichen sei. Das Buch arbeitet, was Amrika angeht, durchaus mit vielen Querverweisen. Die Soziale Marktwirtschaft und ihre geistigen Väter wie Ludwig Erhard, Walter Eucken oder Wilhelm Röpke, kommen darin überhaupt nicht vor. Man kann offenbar eine solche Perzeptionsgeschichte marktwirtschaftlicher Denkweisen, kapitalistischer Denkweisen, aus der Sicht eines klugen und ausgebildeten Amerikaners schreiben, ohne überhaupt auf diese deutsche Diskussion einzugehen. Man könnte argumentieren, diese Deutschen haben sich verlaufen. Aber dass im Namensverzeichnis „Ludwig Erhard“ nicht zu finden ist und 290 Seiten zu schreiben, ohne einmal auf die Tatsache, dass das auch anders geht, einzugehen, ist schon interessant. Für uns ist das ein Grund, mit unserem neuen wissenschaftlichen Bein in Berlin, dem Ludwig-Erhard-Forum für Wirtschaft und Gesellschaft demnächst einmal in Amerika vorbeizuschauen und dort darauf hinzuweisen, dass es da noch etwas anderes gegeben hat, nämlich die Soziale Marktwirtschaft.

Aber der Begriff vom „Rheinischen Kapitalismus“ hat diese Diskussion in einer solchen Dimension ins Gespräch gebracht. Wenn wir heute hier darüber sprechen, was denn die Ab­grenzung zwischen Sozialer Marktwirtschaft und dem Rheinischem Kapitalismus ist, dann ist das aus der Sicht der restlichen mehr als sieben Milliarden Menschen eine sehr filigrane Diskussion über ein Phänomen, welches sie bestenfalls im Entweder-Oder kennen, und wahrscheinlich ist – für uns frustrierend – mehr Menschen der manchmal liebenswert, manchmal gehässig formulierte Begriff „Rheinischer Kapitalismus“ irgendwie zu Bekanntheit gekommen.

Daran kann man sehen, dass es die Auseinandersetzung über die Frage, was die Märkte allein können, historisch immer gegeben hat und dass in dieser Debatte Grundsatzfragen eine Rolle gespielt haben, die zwischen der Welt des Politischen und der Welt des Ökonomischen liegen. Auch in der Diskussion heute Mittag war das sehr gut zu sehen. Wenn Sie mit Politikern und mit Menschen aus der Wirtschaft sprechen, hören Sie das immer wieder. Auch heute Mittag war nicht jeder Ton den Politikern gegenüber freundlich und verständnisvoll gestimmt. Das sind Welten, die in einer gewissen, vielleicht manchmal skeptischen Freundschaft, manchmal aber auch skeptischen Verachtung miteinander umgehen: „Die wissen eh nicht, worüber wir reden. Die machen immer dieses Anpasslerische.“ – Ein Beispiel will ich aufnehmen: „Politiker müssen immer an Wahlen denken.“ Das ist ja ein relativ irrer Satz, wenn ich das mal als Ex-Politiker sagen darf, denn ins Konkrete übersetzt bedeutet das ja nichts anderes als: Das Volk regiert. – Wenn Politiker an Wahlen denken, denken sie ja nicht an Wahlen, um das Volk zu veralbern, sondern sie nehmen Grundströmungen auf, die heute Mittag beschrieben worden sind. Zum Beispiel: Menschen, prinzipiell gilt das für uns alle, wollen wenig Veränderung. Sie haben Angst vor Abstieg und oft nicht genügend Optimismus, um den Blick zunächst auf die Chancen für einen Aufstieg zu lenken. Daraus entstehen große Beharrungskräfte. Und Politiker nehmen darauf Rücksicht, dass die Wähler auf die Politiker-Aussage, es würde sich alles ändern, mit der Drohung reagieren: „Dann schmeiße ich dich raus!“ – Dazu kann man sagen, dass der Politiker Angst hat, abgewählt zu werden. So weit, so richtig. Aber richtig ist auch, dass die Mehrheit der Wähler nicht will, dass sich etwas verändert.

Deshalb ist die Aufgabe von Politik zu versuchen, – auch im Austausch mit Fachleuten aus der Wissenschaft, aus dem Unternehmertum – Erkenntnisse zu gewinnen, um zu sagen: Dieses oder jenes müssen wir machen. Aber wie vermittle ich es meinen Leuten? Können diese Fachleute mir helfen, es zu erklären? Das gilt natürlich auch umgekehrt.

Wir leben in einer Welt des Kompromisses. Und zwar nicht, weil einer von den Beteiligten unredlich oder unangemessen ist, sondern weil eine friedliche Gesellschaft zusammenzuhalten, eine offensicht­lich schwierige Aufgabe ist – sonst hätte es mehr friedliche Gesellschaften im Laufe der langen Menschheitsgeschichte gegeben. Und weil es eine beachtliche Leistung ist, in einer Massengesellschaft, in der Sonderphänomene immer größere Bedeutung erlangen können – wer sich die amerika­nische Gesellschaft von heute anschaut, wer sich die Gelbwesten anschaut oder wer sich Italien in den letzten 20 Jahren und insbesondere in diesen Tagen anschaut, der weiß, dass das halt so ist; das sind wir Menschen, und wir glauben an die Freiheit des Einzelnen. Wir wollen Systeme organisieren, in denen die Freiheit des Einzelnen in demokratischer Selbstbestimmung dazu führt, dass er eine Welt akzeptiert, die ihm gelegentlich auch Zumutungen abverlangt, weil sonst das System, das wir für das Beste halten, nicht funktioniert. Und gerade in Zeiten wirtschaftlicher Anspannung steht der Ökonom auf der anderen Seite und sagt: Wieso können die alle so verrückt sein? Weil, je schneller die Zumutung kommt, umso schneller geht es allen besser.

Schauen Sie sich an, was in diesen Tagen mit den Energiepreisen passiert. Für Marktwirtschaftler ist das alles relativ einfach: Lasst die Preise frei, lasst sie laufen! Der Reflex des deutschen Politikers ist: Deckel. Jeder Ökonom weiß, dass ein Preisdeckel niemals zu einem positiven Ergebnis führt; ein Preisdeckel bewirkt immer nur Schaden. Man kann darüber reden, welche Schäden und wie schwer die Schäden sind. Aber es gibt überhaupt nichts Nützliches an einem Deckel. Also: Weg mit dem Deckel! Es ist relativ einfach: Wenn der Preismechanismus frei wirken kann, dann werden wir sehen, auf welche Ideen die Leute kommen, um den Energieverbrauch zu senken, alternative Energien einzubinden, die Produktion von Energie billiger zu machen.

Ich sage immer scherzhaft: Kein Ministerialbeamter in Wiesbaden oder in Nordrhein-Westfalen oder in Berlin wusste im Februar diesen Jahres irgendetwas von LNG-Dekompressionsanlagen, die mobil auf dem Meer schwimmen. Sondern der zuständige Mitarbeiter des Bundeswirtschaftsministeriums hat damals für Herrn Habeck aufgeschrieben: Die erste Installation, mit der wir LNG in unser Netz dekomprimieren können, kann 2025 betriebsbereit sein. Das hat Herr Habeck auch öffentlich so erklärt. Ein paar Tage später ist aber irgendjemand vorbeigekommen und hat gesagt: Ab etwa 200.000 US-Dollar am Tag, da habe ich so ein Schiff. Und dann kommt noch einer mit einem Schiff. Und auf einmal schwimmen auf den Weltmeeren – und zwar ohne dass irgendein Ministerialbeamter es je gewusst hätte, dass es diese Schiffe gibt oder er darüber entschieden hätte, sie zu rufen – vier LNG-Fabriken auf uns zu, machen in Wilhelmshaven, Lubmin und Fuhlsbüttel Halt und werden innerhalb von – größenordnungsmäßig – zwölf Monaten 20 Prozent des gesamten Erdgasverbrauchs in die deutschen Netze pumpen können. Das ist eine tolle Sache, aber es ist eben das Gegenteil von einem Preisdeckel. Es ist ein Laufenlassen – 200.000 Dollar am Tag ist viel Geld! Aber lasst die Preise auch durch die Decke gehen – dann wird man schnell eine Lösung sehen!

Und dann gibt es die nächste Runde: Ökonomen sind zutiefst davon überzeugt und würden sagen: Okay, jetzt musst du eine gewisse soziale Dekompression ermöglichen. Du musst also irgendwie einen Ausgleich schaffen, damit die Menschen und auch Unternehmen das wirtschaftlich überleben. Da kommt der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter mit seiner Idee von der schöpferischen Zerstörung ins Spiel: Wie viele sollen es denn überleben und wie viele nicht? Der Ökonom würde auch da noch cool bleiben und würde sagen: Privaten muss ich helfen, aber Unternehmen will ich eigentlich nicht helfen. Wenn die das nicht mehr bezahlen können, können sie Pleite gehen, und es gründen sich neue. Zwischen diesen beiden Welten steht in einer freiheitlichen Gesellschaft sozusagen das Politikmanagement und natürlich auch das Management von Unternehmen, die mit Menschen umgehen. Mit Menschen, die Arbeitnehmer sind, die Ängste und Sorgen haben, und auch mit Konsumenten, die sich anschauen, wie sich Unternehmen verhalten – was heute eine neue Qualität ist, die nicht immer so bedeutend war.

Für Menschen, die sich hier mit Ludwig Erhard auseinandersetzen, ist das deshalb so spannend, weil Ludwig Erhard prototypisch für diese Welt, die ich gerade beschreibe, steht. Ludwig Erhard war eben nicht der Professor im Elfenbeinturm, der sich zurechtgelegt hat, wie seit Adam Smith in langsamer Entwicklung des Denkens bis zu seinem Tag Märkte funktionieren. Das hatte er alles gelernt und verstanden und in seiner eigenen Familie erlebt. Ludwig Erhard war definitiv auch kein Profipolitiker, sondern er war vielmehr Zeit seines Lebens einem Konrad Adenauer in der Finesse, auch der Brutalität, der Gemeinheit und der Eleganz unterlegen. Aber die Schnittstelle hat er besser gelebt als jeder andere. Und daraus hat er seine Glaubwürdigkeit gezogen, weil Menschen am Ende sehen konnten, dass Erhard von seinen Positionen überzeugt war und für sie einstand.

Alle, die Ludwig Erhard biographisch betrachten, werden erkennen, dass er eines ganz bestimmt wirklich nicht gelebt hat, nämlich das Leben am Schreibtisch oder anders ausgedrückt: Bürokratie. Er wollte raus, er wollte zu den Leuten, er wollte in Betriebe, er wollte erklären und vermitteln, was er macht. Und genau dies war die Aufgabe dessen in der Schnittstelle: Er verstand, was der Unternehmer ihm sagt. Er wusste aber auch, was er mit Konrad Adenauer und mit Fritz Berg diskutieren muss. Er wusste daneben aber auch, was ökonomische Grundsätze sind, die man beachten muss, damit seine Idee von der Sozialen Marktwirtschaft erfolgreich ist.

Wenn wir auf Tagungen wie der heutigen über die Frage sprechen, was eine Marktwirtschaft ist, wie konsequent sie umgesetzt wird, ist und eben auch wie sie durch politische Anwendung entstellt werden kann, müssen wir immer wieder ein Stück weit sehen: Ja, das ist eine Vermessungsstrecke. Es gibt sie in Reinkultur nicht, weder in die eine noch in die andere Richtung – das würde jeweils im Chaos enden. Die Frage, wie man sich einander annähert, wird stilvoll oder systemisch. Und der Rheinische Kapitalismus ist eben in Stil und System eine im Prinzip marktwirtschaftliche Ordnung unter den Randbedingungen des vermeintlich oder tatsächlich politisch Machbaren.

Ob das dann vielleicht zu viel Politik ist? Das mag durchaus sein. Sie haben heute einiges davon gehört. Die Kohle und ihre politische Bedeutung ist ein ganz gutes Beispiel. Insofern darf man sicherlich sagen, dass der Rheinische Kapitalis­mus am Ende vielen in der Welt als etwas eher Ungewöhnliches und nicht so Attraktives vorkam, während die Menschen, die in dem System gelebt haben, es wahrscheinlich gar nicht so unkomfor­tabel fanden. Aber hat das den ökonomischen Wachstumstreiber in Deutschland gespielt? Darauf wird man wahrscheinlich sagen müssen, was die Beharrungskräfte – also die Absicherung des Bestehenden gegen den Mut des Schumpeter‘sch Unruhigen – angeht, hatte das System eines Rheinischen Kapitalismus einen relativ gesehen höheren Beharrungsgrad als eine weniger auf diese Verbindlichkeiten von Systemen achtende ökonomische Struktur gehabt hätte.

Aber das ist das Gleiche wie heute: Je weniger Subventionen wir für Unternehmen mit hohem Energieverbrauch zahlen, umso schneller verschwinden diese Unternehmen, und andere Unternehmen werden kommen. Ich jedenfalls bin überzeugt, dass dann andere Unternehmen kommen. Klar, es gibt andere Leute, die sagen, es käme dann nichts mehr. Das ist ja gerade der Kern der dahinterstehenden Debatte. Wenn man einmal versucht, sich aus den Irrationalitäten vom „Politiker sind halt so“ und dem „die Leute am Markt und die Ökonomen sind halt so brutal“ zu lösen, und wenn man versucht, jenseits dieser Debatten eine sachliche Basis zu finden, dann hat das etwas damit zu tun, wie die Gesellschaft die Aufteilung zwischen öffentlichen Gütern, privaten Gütern und Gemeinschaftsgütern sinnvoll vornehmen will.

Ich will jetzt nicht eine Debatte anfangen, die Sie bestenfalls an den hier im Raum stehenden vier runden Tischen führen können, denn sonst bekommen Sie kein Abendessen. Gleichwohl ist der Grundansatz, wie die Beteiligten unterschiedlich denken, dass ein marktwirtschaftlich orientierter Mensch, sei er Unternehmer oder Wirtschaftswissenschaftler, prinzipiell sehr zurückhaltend damit sein wird, Güter zu öffentlichen Gütern zu erklären, weil er glaubt, dass die Dynamik, Leistungsfähigkeit und Effizienz von privaten Gütern höher sind.

Politiker wie zum Beispiel damals Franz Josef Strauß sind der Meinung: „Solange jedes Krankenhausbett, das in diesem Land geschlossen wird, meines ist, ist auch jedes, das eröffnet wird, meines, und daher bewirtschafte ich das Gesundheitssystem staatlich. Punkt, Aus!“ Solche Politiker haben eine gewisse Neigung, bestimmte Dinge gerne länger als öffentliche Güter zu definieren. Eine große Frage: Wir in Deutschland halten es für selbstverständlich, dass der öffentliche Personennahverkehr oder überhaupt der schienengebundene Verkehr ein jedenfalls nicht vollständig privates Gut ist. Die Amerikaner finden das falsch; gleichwohl ist festzuhalten, dass sie deshalb auch keine Eisenbahn mehr haben.

Wenn ich erkläre, dass solche Systeme, wie eben in den USA, rein private Wirtschaftssubjekte sind, dann bedeutet das, sie verschwinden als öffentliches Gut aus der Betrachtungsweise von Gesellschaft und Politik. Die Frage, was man denn unbedingt benötigt, selbst wenn es sich vielleicht nicht selbst finanziert, stellt sich dann nicht. Aus dieser Spannungswelt ist bei uns ein Kompromiss entstanden. Das sind die Gemeinschaftsgüter, also eine wirtschaftliche Einheit, die nicht anz privat, aber auch nicht ganz öffentlich ist. Das ist vielleicht dann auch die Deutsche Bahn, die behauptet, mit einer eigenen Bilanz zu arbeiten, bei der es gleichwohl nicht darauf ankomme, ob sie Verlust macht.

Die Debatte findet also zwischen diesen Kräften statt. Der Rheinische Kapitalismus meiner Betrachtung hat einen interessanten Sonderweg genommen. Das ist, was der damalige SPD-Finanzminister Hans Eichel politisch aufgelöst hat, nämlich die Deutschland AG. Auf die Frage was der Rheinische Kapitalismus eigentlich gewesen ist, kann man antworten: die Besonderheit ist der erhebliche Einfluss der deutschen Banken als allgegenwärtige Anteilseigner der deutschen Wirtschaft, was die USA nie kannten.

Ein amerikanisches Unternehmen kommt selten auf die Idee, für eine gute neue Produktion einen Bankkredit beantragen zu wollen. Das finden die schwierig. Die nutzen einen Bond, gehen raus an private Investoren und finanzieren sich. Dann können sie bei der Bank das Konto benutzen; aber die Bank gibt keinen Kredit und unterlegt ihn auch nicht nach den Regeln der BaFin mit Eigenkapital. All solchen Kram finden die Amerikaner ulkig. Ein Mittelständler in Deutschland – wir haben glücklicherweise viele Mittelständler – ist weder kostenmäßig noch sonst in der Lage, Bonds aufzulegen. Somit sind in unserer europäischen Struktur Banken schon einmal prinzipiell bedeutender, als sie es in anderen Kulturen, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten oder in Großbritannien, sind.

Hinzu kommt, dass wir in Deutschland – überspitzt formuliert – für lange Zeit die Banken wichtiger gemacht haben als die Börsen. Hermann Josef Abs hat überall kontrolliert, am Ende in 23 Aufsichtsräten. Dass er in den Aufsichtsräten war, mag auch an seiner Genialität gelegen haben. Gleichwohl war das letztlich relativ gleichgültig. Die Deutsche Bank hat das Unternehmen anrufen und sagen können: „So weit gehen wir nicht mehr.“ Wenn man sich Beispiele anschaut, wenn man nur die Geschichte des Hauses Flick betrachtet, dann kann man das erkennen. Natürlich sind da Elemente eingeflossen wie: „Das können wir uns nicht leisten“, „Das ist nicht in Ordnung“ oder „So macht man so etwas nicht“. Die legendären Gespräche des Führungspersonals der in Frankfurt ansässigen Banken am Montagabend um 17:00 Uhr bei Cognac, haben nun mal stattgefunden. Das ist heute alles kartellrechtlich verboten. Aber sie haben damals stattgefunden, indem am Tisch von Hermann Josef Abs auch die beiden anderen Großen von Commerzbank und Dresdner und Herr Metzler und Herr Hauck und noch ein paar andere zusammengesessen haben. Und Herr Abs hat gesagt: „Leute, wir können doch nicht die deutsche Stahlindustrie kaputt gehen lassen, oder? Das ist doch nicht vernünftig. Lasst uns mal darüber reden, wie wir das machen. Uns gehört der Laden ja schließlich teilweise.“ – Das ist ein Kernbereich des Rheinischen Kapitalismus, der diese gesellschaftliche Vernetzung nicht mit Politikern gemacht hat, aber ein anderes Element als rein „revenue per share“ gerechnet hat. Diese Vernetzung hat automatische Rücksichtnahmen erschaffen, die aus der Sicht amerikanischer Ökonomen einfach ein Weniger an Gewinn und wahrscheinlich in der Tat objektiv eine Verringerung der Innovationsgeschwindigkeit waren.

Es bleibt dabei: Hans Eichel, damals mit einem Staatssekretär, der vorher CFO bei Bayer war – also alle sehr nordrhein-westfälisch –, hat mit der Klausel, dass solche Eigentumsbestandteile steuerfrei veräußert werden können, innerhalb von – grob überschlagen – drei Jahren, zwischen 1999 und 2002, die Deutschland AG aufgelöst, weil es danach die Kapitalverflechtungen nicht mehr gab. Damit hat jeder seine eigenen Regeln gespielt, so war es dann eben auch. Wir haben eine sehr große Besonderheit gehabt – aus historischen Gründen kann man erklären, wieso das so war –, durch die es dazu gekommen ist, dass in der marktwirtschaftlichen Ordnung nicht der Staat bestimmte Rollen übernommen hat, sondern dass es da noch eine andere Ebene gab, die vielleicht die Besonderheit ausgemacht hat. Das hat natürlich auch Kapitaleigentümer im Rest der Welt sehr geärgert und damit den deutschen Kapitalmarkt für viele andere verschlossen, die in dieses System nicht hineinwollten. Es war ein Stück dieses eigenen Lebens.

Das ist Vergangenheit. – Ja, im Sinne von Rheinischem Kapitalismus gibt es auch heute noch Nachfolger der damaligen Strukturkonferenzen, das räume ich gern ein. Das ist auch immer außergewöhnlich, aber im Verhältnis zu dem, was es einmal war, was wir dann später mit der Deutschland AG beschrieben haben, ist es sehr minimiert.

Aber die Frage, wie sich Unternehmen verhalten und wie man bestimmte Lösungen anbieten muss, die nicht allein der Markt erschafft, ist immer noch aktuell. Und sie bleibt für den Politiker eine Heraus­forderung. – Ich habe auch keine konkrete Kenntnis, was damals mit Ludwig Erhard und Airbus war. Ich glaube gleichwohl, dass diese Angelegenheit wieder ein gutes Beispiel wäre für die schier endlosen Diskussionen zwischen Konrad Adenauer und Ludwig Erhard über die Frage, was zu tun und was zu lassen sei. – Das Kartellrecht ist nicht ganz das, was Ludwig Erhard wollte. Die Altersversorgung in Deutschland ist nicht das geworden, was Ludwig Erhard im Sinne hatte. Aber er ist Abgeordneter geblieben. Er hat die Politik weitergetragen, hat sie als Minister getragen, und er hat am Ende Kompromisse unterschrieben, weil er glaubte, dass ein politischer Kompromiss, der viel von seinen Vorstellungen realsiert, immer noch besser ist als eine radikale Variante, bei der außer ihm niemand mitgeht. Und in der Airbus-Frage hätte er möglicherweise auch den Punkt vorgebracht: Wenn wir militärisch und zivil noch einigermaßen selbständig bleiben wollen, müssen wir Flugzeuge bauen können. In den Kleinstaaten Europas kann man keine Flugzeuge bauen. Bekommen wir das anders hin? Es hätte möglicherweise – selbst ohne die Piloten-Leidenschaft von Franz Josef Strauß und die Aussicht, ein Airbus-Flugzeug selbst fliegen zu dürfen – gereicht, um Deutschland dazu zu bringen, das zu machen.

Wir stehen aktuell wieder vor solchen Fragen. Die Debatte um Produktionsstätten für Computer-Chips, die wir im Augenblick führen, ist ja ganz ähnlich: Wenn 80 Prozent der Chips in Taiwan produziert werden und die Chinesen wahrscheinlich irgendwann Taiwan einnehmen werden und wir uns nicht so ganz sicher sind, ob wir für die Taiwanesen in den Krieg ziehen wollen, sollten wir wenigstens nachher noch Chips haben. Dafür investiert der Staat jetzt 30, 40 oder 50 Milliarden in Europa. Ob der Staat das besonders klug macht oder ob da irgendwelche Leute ungerechtfertigt am Ende doch wieder so viele Subvention mitnehmen, dass das alles schauerlich ist, steht zu befürchten, bleibt aber bis hier ungeklärt.

Deshalb meine ich, dass gerade die Ludwig-Erhard-Stiftung als heutiger Mitveranstalter und als eine Organisation, die von Ludwig Erhard der Sozialen Marktwirtschaft verpflichtet wurde, sehr genau hinsehen und aus der Geschichte lernen sollte. In allen Ordnungen müssen tendenziell Kompromisse gesucht und gefunden werden. Der Unterschied zwischen dem europäischen Modell, das manche als Soziale Marktwirtschaft und andere als Rheinischen Kapitalismus kennen – von den jeweiligen besonderen Ausprägungen einmal abgesehen – und dem amerikanischen System ist, dass die Summe der Güter, die als rein privat akzeptiert werden, in Kontinentaleuropa kleiner und die Summe der Güter, die zumindest als Gemeinschaftsgüter eingefordert werden, in der Summe größer ist, als das an anderen Orten in der Welt der Fall ist. Das werden wir meines Erachtens auch prinzipiell nicht ändern. Das geht in Demokratien nicht.

Daher muss eine Gesellschaft unbedingt dafür sorgen, diese Gemeinschaftsgüter zumindest so wettbewerbsfähig wie möglich zu machen – in einer Weise der Konkurrenz und dem Wettbewerb aussetzen, dass die zu ihrer Herstellung notwendigen Prozesse nicht verkrusten, verkarsten und am Ende sehr viel Geld bei größtmöglicher Ineffizienz kosten. Diese Aufgabe haben wir in Deutschland nicht befriedigend gelöst! Man muss diese Herausforderung nach meiner Überzeugung zielgerichtet angehen und wissen, dass ihre Bewältigung einerseits unumgänglich ist und andererseits eine permanente Herausforderung sein wird. Wir müssen sehen, dass wir einen großen Vorteil haben, der zugleich auch eine große Herausforderung ist: Wir sind eben eine Demokratie. Und Demokratie bedeutet, dass die Bürger auch entscheiden, wie viel Verlustrisiko sie eingehen wollen. Dort hat die marktwirtschaftliche Ordnung immer einen Nachteil, denn sie verlangt Menschen ab, eine mutige Entscheidung in unbekanntes Gelände hinein zu treffen.

Entscheidung in Unsicherheit über das Ergebnis ist ein sehr aktuelles Thema. Zur großen Problematik, die mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Klimafrage verbunden ist, gehört, dass das Gericht im Prinzip der Politik zur Aufgabe gemacht hat, sie müsse heute wissen und eben antizipieren, wie die Techniken sein werden, die zur Erreichung der Klimaziele im Jahr 2035 nötig sind. Aus der Sicht eines Marktwirtschaftlers ist das falsch. Das sind böse Worte – gleichwohl mit Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht: Wir können heute nicht wissen, was im Jahr 2035 sein wird. Ich habe keine Ahnung, wie viel Carbon Capture, also die Abspaltung und die Nutzung von CO2 aus der Luft, in 2035 populär sein wird, ob nicht überall diese Luftstaubsauger aufgestellt sein werden und wir CO2 im Gestein verpressen, oder vielleicht sogar ganz neue Produkte aus dem Kohlenstoff machen, den wir aus der Luft herausholen. Wir wissen nicht, ob es neue Technologien im Bereich der Nuklearindustrie geben wird, die in überschaubarer Zeit kleinere und sicherere Reaktoren produzieren werden. Wir haben keine Ahnung, ob wir eine Wasserstofftechnologie mit ein paar technischen Switches in der Herstellung so in die Kostendegression bringen, dass wir sie vernünftig einsetzen können, oder ob wir eine Idee haben werden, ihn anders transportieren zu können. Wer hat vor 50 Jahren daran gedacht, dass wir LNG-Schiffe durch die Gegend fahren lassen? Wer hat vor 50 Jahren gedacht, wie wir heute alle auf unserem Handy herumdaddeln?

Die Frage ist aus ökonomischer Sicht klar zu beantworten: Wahrscheinlich wird es eine Lösung geben. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Problem unlösbar ist, ist gering. Aber es gibt die Überzeugung von Menschen zu sagen „Lass es mal laufen, es wird schon gehen“ – und zwar nach dem Motto: „Dann lasse ich lieber alles so, wie ich es jetzt habe. Das ist zwar nicht ideal, aber deutlich besser, als nicht zu wissen, wie es wird.“Unter diesen Fragestellungen ist es unglaublich spannend, sich mit dem Phänomen der eigenen deutschen Erfahrungen dieser Jahrzehnte, die wir Rheinischen Kapitalismus nennen, zu beschäftigen. Deshalb bin ich dem Land Nordrhein-Westfalen und den hier anwesenden Vertretern sehr dankbar, dass wir als Ludwig-Erhard-Stiftung gemeinsam mit Ihnen ein solches Projekt durchführen können. Ich bin überzeugt, es leistet einen Beitrag auf dem Weg zu der Erkenntnis, dass nicht der eine oder der andere Recht hat, sondern dass es darum geht, an welcher Stelle der vermessenen Fläche man sich begegnet und wo man vielleicht in die eine oder andere Richtung zu weit gegangen ist und klugerweise etwas zurückgegangen ist oder immer noch zurückgehen müsste. Das ist die Lern­erfahrung, die wir in den nächsten Jahrzehnten brauchen, wenn wir in einer Demokratie die Markt­wirtschaft erfolgreich weiterführen wollen.

Auch dabei gilt: Ludwig Erhard hat sich am Anfang mit seiner Politik nur in einer außergewöhnlichen Situation von Macht durchsetzen können. Er hat keine demokratische Abstimmung durchgeführt, ob er die Preise freigibt. Eine solche Abstimmung hätte er vermutlich auch nicht gewonnen, sondern die Antwort wäre ein Generalstreik gewesen. Schon vor der Androhung des Generalstreiks schreckten 90 Prozent der Abgeordneten des Deutschen Bundestages zurück. Das heißt, er wäre in Schwierigkeiten geraten. Er hat aber die Zeit bekommen – unter anderem durch die Korea-Krise, auf die ich jetzt nicht weiter eingehe –, und auf einmal waren die Läger voll, auf einmal sahen die Leute die neuen Häuser aus dem Boden wachsen. Ludwig Erhard hat den Erfolg seiner Politik bewiesen. Heute sind Dinge langsamer und aufwändiger, und wir erwarten von Menschen, dass sie diese Unsicherheit freiwillig, nicht im Zwang dieser Systeme, auf sich nehmen, um zu dem gleichen Ergebnis der vollen Ladentheke zu kommen. Das ist unglaublich viel komplizierter.

Die wesentliche Botschaft, die uns Ludwig Erhard mitgegeben hat, ist aber, nicht am Schreibtisch zu sitzen und Bürokratie zu üben, sondern permanent mit den Leuten zu reden und immer wieder die Vorzüge der Marktwirtschaft zu erklären und für die Marktwirtschaft zu werben. „Immer wieder erklären“, das machen wir heute Abend. Und dazu müssen wir gestärkt sein und etwas essen – und ich nicht weiter reden.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen schönen Abend!

Prof. Dr. h.c. mult. Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung.

Weitere Beiträge vom Kolloquium:

Begrüßung
Dr. Mark Speich, Staatssekretär für Bundes- und Europaangelegenheiten, Internationales sowie Medien des Landes Nordrhein-Westfalen

Input
Marcus M. Lübbering, Geschäftsführer der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.

Das Programm der zweitägigen Veranstaltung finden Sie hier: >>zum Programm.

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