Derzeit gibt es in der deutschen Gerichtsbarkeit eine Aufregung, die einen amüsieren darf. Das Bundesarbeitsgericht hatte im September 2022 auf der Basis der EU-Arbeitszeitrichtlinie geurteilt, dass jeder(!) Arbeitgeber verpflichtet sei, ein Arbeitszeiterfassungssystem für seine Arbeitnehmer einzurichten und die Arbeitszeit zu dokumentieren. So kam es zu der Frage, ob für die unabhängigen und auch selbstbewussten Richter bis hin zum Bundesarbeitsgericht ebenfalls die Stechuhr eingeführt werden muss. Noch hoffen die Vertreter dieses gar nicht so kleinen Berufsstands, dass der Bundesjustizminister sie entgegen dem eigenen Urteil unter Nutzung einer schmalen Ausnahmeklausel von der Last der Zeiterfassung befreien kann. Aber der wissenschaftliche Dienst des Bundestages ist sich nicht sicher, ob das überhaupt geht.

Arbeitszeitrecht aus dem letzten Jahrhundert

Hinter diesem eher anekdotischen Fall steht allerdings ein viel größeres Problem. Unser Arbeitszeitrecht ist ein Auslaufmodell. Zu Homeoffice, Vertrauensarbeitszeit und vielen anderen, ausgelagerten Dienstleistungen – etwa in der IT – passen gesetzliche Regeln aus dem 19. und 20. Jahrhundert, die die Ausbeutung des Arbeitnehmers mit der Stechuhr-Philosophie bekämpfen wollte, nicht mehr. Die Folgen sind Unzufriedenheit, mangelnde Effizienz und jede Menge Umgehungen. Attraktive Arbeitsmärkte sehen anders aus.

Die Diskussionen in den Gerichten kann man auch unter Professoren finden, die es zu Recht ebenso absurd finden, dass sie die Zeit wissenschaftlichen Arbeitens auf einen Stundenzettel packen sollen. Also wollen sie auch eine Ausnahme sein. Mir persönlich würde es gefallen, wenn die Zeiterfassung in den Ministerbüros der Berliner Ministerien eingeführt wird und man beobachten kann, ob da alle der Stabsmitarbeiter wirklich 48 Stunden die Woche arbeiten. Ganz sicher wollen viele von Ihnen dann auch eine Berufsgruppe mit eigenen Regeln sein.

Neue Regeln für Europa und Deutschland

Die richtige Antwort lautet jedoch: Europa und das deutsche Arbeitszeitgesetz müssen mehr Flexibilität zulassen. Das ist zunächst eine Anforderung an das deutsche Recht, dass der Bundesarbeitsminister ohnehin in Anpassung an Europa reformieren muss. Flexibilität ist bei einer für die kommenden Jahrzehnte vorhersehbaren Knappheit an Arbeitskräften, also einem klassischen Arbeitnehmermarkt, im Interesse aller Beteiligten. Die Arbeitnehmer werden bestimmen, wieviel sie zu arbeiten bereit sind. Die Gefahr der Abhängigkeit und Ausbeutung gehört damit der Vergangenheit an. Gleichzeitig ist in einer Arbeitswelt mit digitalen Medien, globalen Märkten und sehr unterschiedlichen Lebensentwürfen alles falsch, was die Vertragsfreiheit unsinnig begrenzt.

Vier Mal 10 Stunden sind auch eine Option

In den Tarifverhandlungen spielt zurzeit erstmals die Vier-Tage-Woche eine Rolle. Vier Tage à 10 Stunden zu arbeiten, wäre für viele eine attraktive Option und könnte gerade auch im Interesse der Arbeitnehmer sein. In Deutschland lässt das Arbeitszeitrecht dies nur in Ausnahmefällen und mit Tarifvertrag zu. Die EU-Richtlinie würde sogar Arbeitszeiten bis zu 13 Stunden erlauben. Für die Frage, wie wir unseren Wohlstand durch Arbeit sichern und dennoch neue Arbeitsformen entwickeln können, wäre eine großzügige Änderung hilfreich. Niemand sollte an der regelmäßigen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden und der Mindestruhezeit von 11 Stunden rütteln, wenn ich auch einräumen muss, dass in meiner konkreten Arbeitsbiographie ich mich seit mindestens 40 Jahren daran nicht halte. Ich kann auch nicht erkennen, wer mich schützen müsste. Wer jedoch so leben möchte, muss den Weg der Selbständigkeit wählen, denn in abhängiger Beschäftigung braucht es nun einmal Regeln.

Dieser Zusammenhang führt aber auch zu den Dokumentationspflichten. Wir waren in Deutschland mit dem Stichwort „Vertrauensarbeitszeit“ schon viel weiter. Wir sollten immer vor Augen haben: Rund 40 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeiten in Betrieben mit weniger als 50 Beschäftigten. Hier bestehen sehr häufig Vertrauens- und Arbeitsbeziehungen, die keiner staatlichen Kontrolle bedürfen. Arbeitnehmer haben immer das Recht, zu ihrem Schutz die Arbeitszeiten zu dokumentieren. Daraus eine zu dokumentierende Arbeitgeberpflicht zu machen, ist unnötig. Gerade im Homeoffice liegt für viele der Reiz in der Zeitsouveränität. Man steht dafür gerade, dass die Arbeit gemacht wird, aber wann genau, ob in Tag- oder Nachtarbeit, dass bedarf keiner Dokumentation.

Dies ist keine reine Arbeitgeberposition. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat schon in seinem Jahresgutachten 2017/18 darauf hingewiesen, dass hier Änderungsbedarf besteht. Die Deutschen Wirtschaftsnachrichten zitieren dazu den damaligen Vorsitzenden des Beratergremiums der Bundesregierung, Christoph Schmidt: „Firmen, die in der neuen digitalisierten Welt bestehen wollten, müssten agil sein und schnell ihre Teams zusammenrufen können: ‚Die Vorstellung, dass man morgens im Büro den Arbeitstag beginnt und mit dem Verlassen der Firma beendet, ist veraltet.‘ Und weiter: „ ‚So brauchen Unternehmen beispielsweise Sicherheit, dass sie nicht gesetzwidrig handeln, wenn ein Angestellter abends noch an einer Telefonkonferenz teilnimmt und dann morgens beim Frühstück seine Mails liest.‘ “ Die internationalen Banken meiden mit manchen Abteilungen seit langen Jahren Deutschland, weil sie genau vor diesen Restriktionen Angst haben.

Mehr Arbeit vernünftig organisieren

Die vom Bundesarbeitsgericht verlangte strikte Dokumentationspflicht schadet Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Sie sollte durch flexiblere Regelungen ersetzt werden. Sicherlich finden die Tarifvertragspartner Lösungen, die Standard werden könnten. Zugleich sollte Deutschland die Möglichkeiten der EU-Richtlinie voll ausschöpfen und dem deutschen Arbeitsmarkt die maximale Flexibilität ermöglichen.

Noch leben manche Tarifstreitigkeiten von dem Gedanken, es gehe um die bessere Verteilung einer immer geringeren Arbeitszeit bei jeweils vollem Lohnausgleich. Im Gegenteil: Die durchschnittliche Arbeitszeit müsste eher länger werden, wenn man die Lebensarbeitszeit konstant halten und somit das Renteneintrittsalter nur behutsam weiter nach hinten verschieben möchte. Das heißt, dass Lebensarbeitszeit-Konten und andere Modelle attraktiv werden müssen. Das erfordert die maximal mögliche Flexibilität in der Wochen- und Monatsarbeitszeit. Zu Zeiten der Ausbeutung in den Kohleminen des Frühkapitalismus wäre das nicht vertretbar gewesen. In der Sozialen Marktwirtschaft ist es ein Gebot der Fairness, der Vernunft und der Zukunftssicherung.

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