Der Rückschlag für seine Vision einer liberalen Europapolitik blieb 1957 nicht die einzige Niederlage des Wirtschaftsministers. Doch der Union verhalf er zum Sieg.

Zu Ludwig Erhards sechzigstem Geburtstag im Februar 1957 erschien sein Buch „Wohlstand für Alle“. Es war eine Art Heldensage der Sozialen Marktwirtschaft, die der Journalist Wolfram Langer, später Leiter von Erhards Grundsatzabteilung, kongenial aus achtzig Reden und Aufsätzen zusammengestellt hatte. Das Buch erreichte zig Auflagen in Deutschland und im Ausland. Der Titel ist seither ein fester Begriff in der politischen Debatte. Das Jahr 1957 war aber für Erhard nicht nur ein Jahr glanzvoller Geburtstagsfeiern. Es war auch ein Schicksalsjahr seiner Politik und damit zugleich ein Jahr entscheidender Weichenstellungen in der deutschen Wirtschaftspolitik.

Wenn in diesen Tagen an die Unterzeichnung der „Römischen Verträge“, der Gründungsurkunden der Europäischen Union, erinnert wird, gehören dazu auch die Vorbehalte und kritischen Mahnungen Erhards gegenüber dem damals eingeschlagenen Weg. Mit der europäischen Einigung ist zweifellos mehr erreicht worden, als sich Erhard vorstellen konnte. Sie ist als Vision auch die beste Zielvorgabe für die globalen Herausforderungen im 21. Jahrhundert. Doch Europa steckt als Organisationsform in einer schweren Krise, die vieles von Erhards kritischen Einwänden wieder aktuell erscheinen lassen. Erhard ging es immer um eine freizügige Verbindung aller Länder der westlichen Welt, Nordamerika eingeschlossen. Die Sechser-Gemeinschaft von damals, die er erbittert bekämpfte, erschien ihm zu begrenzt und zu bürokratisch. Er hegte ein auch aus heutiger Sicht nur allzu gut verständliches Misstrauen gegenüber französischen Vorstellungen, die unter anderem auf soziale Harmonisierung drängten. Bundeskanzler Konrad Adenauer ging es dagegen allein um die politische Einbindung Westdeutschlands in den Westen.

Erhard sah sich mit seiner Kritik, wie er mehrfach betonte, durchaus als guter Europäer. Als ordnungspolitisch denkender Ökonom wollte er jedoch kein Organisationsprogramm für Europa, sondern ein europäisches Ordnungsprogramm. Es komme darauf an, Prinzipien zu setzen, die aus dem Ordnungssystem heraus einen sozusagen anonymen Zwang auf das Verhalten der Nationalstaaten ausüben, schrieb er. Dass in einen Verbund wie der EU selbst solche Prinzipien nichts nützen, ist die bittere Erfahrung mit den Rechtsbrüchen in der Währungsunion in den vergangenen Jahren.

Auch Erhards Sorgen vor zunehmender Bürokratie und wachsendem Dirigismus haben sich nur zu sehr bewahrheitet. Dass Erhard auf Drängen von Adenauer am Ende doch dem EWG-Vertrag zustimmte, war einmal den weltpolitischen Gefahren geschuldet (Ungarn-Aufstand und Suez-Krise), zum anderen Erhards Hoffnungen, nach der Zerrissenheit des Kontinents im Zweiten Weltkrieg doch wieder ein europäisches Bewusstsein zu wecken. Doch Europas Stärke liegt nicht in der immer wieder gern beschworenen Vereinheitlichung, sondern in der Vielfalt. Die populistischen Tendenzen und das gewachsene Misstrauen gegenüber den Brüsseler Institutionen zeigen das deutlich. Dass heute zu Recht Änderungen am Brüsseler System gefordert werden, würde Erhard gefallen, der immer vor einer „Mystifizierung“ Europas gewarnt hatte.

Der Rückschlag für Erhards Vision einer liberalen Europapolitik blieb 1957 nicht die einzige Niederlage. Weitaus schwerwiegender war, dass er die von Adenauer vorangetriebene Rentenreform nicht aufhalten oder abändern konnte. Dabei war er sich mit dem Kanzler durchaus einig, dass mit Blick auf die Hochkonjunktur und die Unübersichtlichkeit des bis in die Bismarck-Zeit zurückreichenden deutschen Sozialsystems eine Reform dringend geboten war. Einig waren sich Kanzler und Wirtschaftsminister auch darin, die erkennbare Tendenz zum Versorgungsstaat zumindest aufzuhalten. Doch in der jahrelangen Debatte setzten sich angesichts der großen Erwartungen der Rentner, des Drucks der SPD und des Wahltermins 1957 andere Vorstellungen durch. So kam es am Ende zur dynamischen, lohnbezogenen Rente.

Auf der einen Seite wurde damit bewiesen, dass auch in einer marktwirtschaftlich ausgerichteten Demokratie eine großzügige Sozialreform möglich war. Auf der anderen Seite hatte sich die Regierung jedoch auf ein Abenteuer eingelassen; denn die Belastungen aus diesem Projekt hingen von der ungewissen demographischen Entwicklung ebenso ab wie vom weiteren Konjunkturverlauf und der Inflationsrate. Erhard hatte dies klarer gesehen als Adenauer, konnte sich aber nicht durchsetzen. Die Rentenreform bedeutete die Abkehr von Erhards Leitbild einer freiheitlichen Sozialversorgung und die Hinwendung zum kollektiven Versorgungs- und Wohlfahrtsstaat. Inzwischen sei deutlich, dass der Sozialstaat ohne tiefgreifende Veränderung seiner Strukturen und ihrer Finanzierung kaum in der Lage sein wird, selbst seine bisherigen Leistungsversprechen aufrechtzuerhalten, schreibt der CDU-Vordenker und Erhard-Verehrer Kurt Biedenkopf in seinem Buch „Wir haben die Wahl“. Das gelte vor allem für das Rentenversprechen.

Erfolgreicher war Erhard mit dem Kartellgesetz, das im Sommer 1957 verabschiedet wurde. Es war für ihn das „Grundgesetz der Marktwirtschaft“. Bekanntlich strebte Erhard eine Wirtschaftsordnung an, die immer breiteren Schichten zu Wohlstand verhelfen und die Unterschiede zwischen Arm und Reich verringern sollte. In seinem Buch schreibt er: „Das erfolgversprechendste Mittel zur Erreichung und Sicherung jeden Wohlstands ist der Wettbewerb. Er allein führt dazu, den wirtschaftlichen Fortschritt allen Menschen im Besonderen in ihrer Funktion als Verbraucher, zugutekommen zu lassen, und alle Vorteile, die nicht unmittelbar aus höherer Leistung resultieren, zur Auflösung zu bringen. Auf dem Weg über den Wettbewerb… wird eine Sozialisierung des Fortschritts und des Gewinns bewirkt und dazu noch das persönliche Leistungsstreben wachgehalten.“

Die Geschichte des Kartellgesetzes reicht weit zurück. Mit Blick auf die Machtkonzentrationen in der Wirtschaft der Weimarer Republik und der Nazizeit hatte sich die amerikanische Besatzungsmacht schon im Potsdamer Abkommen 1945 die Ermächtigung verschafft, wettbewerbspolitische Regelungen zu treffen nach dem Vorbild des amerikanischen Anti-Trust-Rechts. Nach einigem Hin und Her legte Erhards Wirtschaftsministerium darauf 1951 einen Entwurf vor, der 1952 im Bundeskabinett verabschiedet und in erster Lesung im Bundestag behandelt wurde. Danach stockte das Vorhaben. Es begann eine jahrelange harte Auseinandersetzung mit den Industrieverbänden. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die bereits 1949 für ein Kartellverbot eingetreten war, wurde zu einem wichtigen Mitstreiter für Erhards Gesetz. Sie geriet dabei selbst ins Kreuzfeuer. Die kartellfreundliche Industrie übte wirtschaftlichen Druck auf die Zeitung aus und gründete sogar ein Konkurrenzblatt, den „Industriekurier“. Doch am Ende konnte das Kartellgesetz 1957 verabschiedet werden.

Es war freilich ein Kompromiss, bei dem das Kartellverbot durch zahlreiche Ausnahmeregelungen eingeschränkt wurde. Selbst Erhard sah dieses Ergebnis eher als Niederlage an, auch wenn die Gegner in der Industrie ebenfalls nicht triumphieren konnten. Erhard meinte, der Spatz in der Hand sei besser als die Taube auf dem Dach und sprach von einem Weg in einer neuen Richtung. Volkhard Laitenberger vom Ludwig-Erhard-Archiv schrieb dazu 1986 in einer Biographie: „Dieser große Prinzipiendiskurs hat für die Durchsetzung der Sozialen Marktwirtschaft in den Herzen und Hirnen der Deutschen, unabhängig von parteipolitischer Orientierung vermutlich viel bewirkt.“ Es gelang der Regierung auch, die Grundgedanken des Kartellgesetzes in den Römischen Verträgen zu verankern und damit die deutsche Vorstellung einer Wettbewerbsordnung gegenüber der französischen Industriepolitik durchzusetzen.

Die Entfaltung von Erhards Marktwirtschaft und ihr Erfolg wären nicht möglich gewesen ohne eine Notenbank, die unabhängig auf Geldwertstabilität achtet. Das war 1948 zunächst die nach dem Vorbild des amerikanischen Federal Reserve Systems gegründete Bank deutscher Länder unter ihrem Präsidenten Wilhelm Vocke und Karl Bernard als Präsident des Zentralbankrates. Es dauerte Jahre, bis daraus 1957 mit der Verabschiedung eines entsprechenden Gesetzes die Bundesbank werden konnte. Erhard musste sich dabei mit Bundesfinanzminister Fritz Schäffer und dessen Gesetzentwürfen auseinandersetzen. So versuchte Schäffer 1951, die Unabhängigkeit der Bank deutscher Länder zu beseitigen, was dann später auch die Bundesbank betroffen hätte. Auf Protest Erhards und des Zentralbankrats scheiterte Schäffer jedoch, das Parlament bestätigte die Unabhängigkeit der Notenbank.

Welche Rolle diese Unabhängigkeit spielte, zeigte sich angesichts zunehmender Inflationsgefahren 1955. Sozialdemokraten, den Gewerkschaften, aber auch Teilen der CDU war die damalige Stabilitätspolitik ein Dorn im Auge. Zum Eklat kam es, als Adenauer 1955 vor dem Bundesverband der Deutschen Industrie eine Diskonterhöhung des Zentralbankrates als „Fallbeil für die Konjunktur“ bezeichnete, angesichts der öffentlichen Proteste dann aber zurückrudern musste. Erhard konnte sich daher glücklich schätzen, in der Notenbank einen solchen Verbündeten für seine Politik gefunden zu haben. Da dieses deutsche Modell einer unabhängigen Notenbank zum weltweit bewunderten Garanten für Geldwertstabilität wurde, ist es dann auch auf die Europäische Zentralbank übertragen worden.

Zu einem „Erhard-Jahr“ wurde 1957 aber weniger durch die geschilderten Erfolge und Rückschläge bei Gesetzesvorhaben als durch die Wahl zum dritten Deutschen Bundestag im Herbst 1957. Erhard trat häufiger als jeder andere Unionspolitiker auf mehr als 80 Wahlveranstaltungen auf. Die von der Wirtschaft 1952 gegründete Aktion „Die Waage“ leistete wie schon 1953 Wahlkampfhilfe mit Erhard und seinen Ideen als Mittelpunkt. Das Ergebnis war ein glänzender Sieg für die Union, für die Soziale Marktwirtschaft und damit auch für Ludwig Erhard. Zum ersten Mal erreichte die Union die absolute Mehrheit im Bundestag. Natürlich war es in erster Linie ein Plebiszit für Bundeskanzler Konrad Adenauer, aber zugleich auch für dessen Wahlkampflokomotive Ludwig Erhard, der in den Augen der Wähler offenkundig Wohlstand schuf.

Erhard erreichte damit den Höhepunkt seines Ansehens. Im Oktober 1957 erschien er auf der Titelseite des damals noch einflussreichen „Time Magazine“. Sein erfolgreiches Engagement widerspricht auch dem weitverbreiteten Bild eines eher harmoniesüchtigen Politikers. Er war, wie Laitenberger schreibt, im Fall eines Falles von großer Risikobereitschaft und Kampfeslust geprägt, gepaart mit einer gelassenen Ausstrahlung, unverwüstlichem Optimismus und einer „im Pathos integrierenden Sprachgewalt“. Bei der Regierungsneubildung gelang es ihm dann, ein von Adenauer geplantes Europaministerium zu verhindern und den eigentlich für Fritz Schäffer als CSU-Vorsitzenden gedachten Vorsitz des Kabinettsausschusses für Wirtschaft zu übernehmen und zugleich noch Vizekanzler zu werden. Damit hatte der Sechzigjährige eine vielversprechende Ausgangsposition erreicht, um im Herbst 1963 die Nachfolge des 22 Jahre älteren Bundeskanz1ers anzutreten. Insofern ist 1957 durchaus ein Schicksalsjahr für Erhard gewesen.

Im Herbst 1963 nach dem Rücktritt Adenauers war es so weit: Erhard wurde Bundeskanzler. Doch schon nach drei eher glücklosen Jahren trat er am 1. Dezember 1966 zurück, um einem Sturz durch die eigene Partei, die CDU, zuvorzukommen. Alfred C. Mierzejewski nennt ihn in seiner Biographie einen Antipolitiker und eine tragische Figur, weil es ihm nicht gelungen sei, genügend Menschen auf Dauer von der Überlegenheit eines freien Marktes zu überzeugen und weil es ihm an dem Machtwillen gefehlt habe, der Adenauer so lange im Amt gehalten hatte. Erhards wichtigstes Vermächtnis sei seine Wirtschaftsphilosophie gewesen, sein bedeutendster Beitrag zur Neuausrichtung Deutschlands nach dem Krieg die Liberalisierung der deutschen Wirtschaft. Sie habe Wohlstand für alle sowie ökonomische und politische Freiheit gebracht.

Dieser Beitrag ist zuerst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 23. März 2017 erschienen. Der Autor Jürgen Jeske war von 1986 bis 2002 einer der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er ist Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung und Träger des Ludwig-Erhard-Preises für Wirtschaftspublizistik (© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv).

DRUCKEN
DRUCKEN