Mit einer Untersuchung zu Finanzen und Staatsschulden steigen Bekanntheitsgrad und Reputation von Ludwig Erhard. Seine Denkschrift von 1943/44, deren Ausführungen auf der Annahme basieren, dass Deutschland den Krieg verlieren wird, bedeutete ein hohes persönliches Risiko für den Verfasser. Die Denkschrift taugt jedoch wenig als besonderes Zeugnis für Mut und Widerstand im „Dritten Reich“ schlechthin; auch andere Nachkriegsplanungen – nicht nur von Gegnern des Nazi-Regimes –, die im kriegsmüden Deutschen Reich zirkulierten, rechneten nicht mehr mit dem vielbeschworenen „Endsieg“. Erhards Studie lässt sich allerdings als wesentliches Dokument zur Vorgeschichte der Bundesrepublik und der Sozialen Marktwirtschaft deuten, wie beispielsweise Günter Schmölders in der kommentierten Faksimile-Ausgabe1Ludwig Erhard, Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung, Faksimiledruck der Denkschrift 1943/44, mit Vorbemerkungen von Ludwig Erhard, Theodor Eschenburg und Günter Schmölders, Propyläen 1977 der Denkschrift von 1977 feststellt.

Wer die Denkschrift liest und Umfassendes zur Sozialen Marktwirtschaft zu finden hofft, wird den Text allerdings eher ernüchtert beiseitelegen. In der Untersuchung – sie war eine von mehreren, die von der Reichsgruppe Industrie zu verschiedenen ökonomischen Themen in Auftrag gegeben wurde – geht es vorrangig nicht um die Wirtschaftsordnung nach dem Krieg. Erst ab den Seiten 250 ff. (von 268 Seiten) sowie im Ausblick ab Seite 262 stehen auch wegweisende Anmerkungen zur künftigen Wirtschaftsordnung. Nach dem kurzen Exkurs in ordnungspolitische Überlegungen schreibt Erhard auf Seite 253 aber selber: „Im Folgenden sei nun wieder an die finanzwirtschaftliche Betrachtung angeknüpft…“

Die finanzwirtschaftliche Betrachtung beleuchtet eingehend die Finanzierung der Reichsausgaben unter dem NS-Regime. Noch 1938 erfolgte diese immerhin zu 60 Prozent aus Steuermitteln und zu 40 Prozent durch Kreditaufnahme. Erst in der Folgezeit traten Kredite mehr und mehr in den Vordergrund. Obwohl Ludwig Erhard infolge der Geheimhaltungsvorschriften keine offiziellen amtlichen Zahlen verwenden konnte, schätzte er „die gesamte Staatsschuld nach erfolgter Konsolidierung bei Kriegsende“ mit 400 Milliarden Reichsmark – gegenüber 390 Milliarden verbriefter Reichsschuld am Ende des Krieges – nahezu korrekt. Die Neuverschuldung des Reiches erfolgte, anders als im Ersten Weltkrieg, beinahe „geräuschlos“. Alle Sparkassen und Banken mussten zwangsweise Schuldtitel des Reiches erwerben, das heißt, Sparbeträge und private Guthaben wurden zugunsten der Reichskasse heimlich abgeschöpft. Damit und mit der „vereinfachten“ Wechselfinanzierung über die Reichsbank wurden rund 1.250 Milliarden Reichsmark Kriegskosten aufgebracht, die entsprechende Güter und Arbeitskräfte in die Kriegsführung lenkten. Die Denkschrift befasst sich eingehend damit, wie der entstandene Kaufkraftüberhang nach dem Krieg zu neutralisieren und der Aufbau normaler Marktverhältnisse in Gang zu setzen und zu bewältigen sei.

Eine finanzwirtschaftliche Bereinigung dieser Situation musste die überschüssige Kaufkraft „auf das Maß des dem deutschen Volke zur Bedarfsdeckung freistehenden Sozialprodukts“ zurückführen. Zu einer wenigstens in groben Zügen gerechten Lösung würde eine Umwandlung der privaten Geld- und Kapitalforderungen aus im Krieg entstandenen Guthaben in staatliche Schuldtitel unterschiedlicher Kategorien und Laufzeiten erforderlich sein. Erhards Weitsicht für die funktionellen Zusammenhänge zwischen wirtschafts- und sozialpolitischen Notwendigkeiten zeigt sich besonders darin, dass er bei seinen Vorschlägen den Fragen einer „gerechten Lastenverteilung“ – eines Lastenausgleichs also – eine zentrale Rolle einräumt.

Auch wenn die Erhard-Studie – wie andere auch – im Chaos am Ende des „Dritten Reiches“ und in den Wirrnissen und Unsicherheiten des Neuanfangs unbeachtet blieb: Seine Denkschrift führte immerhin dazu, dass nach Kriegsende eine eher ungewöhnliche Berufslaufbahn an Fahrt gewinnt. Der einstmals kaufmännische Lehrling aus dem fränkischen Fürth gelangt in der neuen Bundesrepublik in höchste politische Ämter und wird zum Weltreisenden in Sachen Soziale Marktwirtschaft.

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    Ludwig Erhard, Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung, Faksimiledruck der Denkschrift 1943/44, mit Vorbemerkungen von Ludwig Erhard, Theodor Eschenburg und Günter Schmölders, Propyläen 1977
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    Ludwig Erhard, Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung, Faksimiledruck der Denkschrift 1943/44, mit Vorbemerkungen von Ludwig Erhard, Theodor Eschenburg und Günter Schmölders, Propyläen 1977