Ludwig Erhard hat sich, entgegen mancher Vorurteile, frühzeitig und eingehend mit Fragen der europäischen Integration beschäftigt. Der nachfolgende – gekürzte – Text ist aus Erhards 1957 veröffentlichtem Buch „Wohlstand für Alle“ (14. Kapitel, Station Europa). An Aktualität haben seine Überlegungen angesichts der nach wie vor ungelösten Probleme in Europa nichts eingebüßt.

Die Integration Europas ist notwendiger denn je, sie ist geradezu überfällig. Aber die beste Integration Europas, die ich mir vorstellen kann, beruht nicht auf der Schaffung neuer Ämter und Verwaltungsformen oder wachsender Bürokratien, sondern sie beruht in erster Linie auf der Wiederherstellung einer freizügigen internationalen Ordnung, wie sie am besten und vollkommensten in der freien Konvertierbarkeit der Währungen zum Ausdruck kommt. Konvertierbarkeit der Währung schließt selbstverständlich die volle Freiheit und Freizügigkeit des Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs ein.

In diesen wenigen Worten ist meine Grundeinstellung zur Frage der zweckmäßigen Integration Europas gekennzeichnet. Nach meiner Auffassung steckt die Welt voll unermesslicher Chancen, wenn wir sie nur zu nutzen verstehen würden. Der Segen ist kaum auszudenken, der aus einer freien weltwirtschaftlichen Politik erwachsen könnte. Den kühnen Aspekten von morgen muss aber die zunächst noch harte Wirklichkeit von heute entgegengehalten werden…

Das Ziel: umfassende Integration

Wir müssen vor allem die Grundlagen für eine echte Integration schaffen. Diese liegen aber nach meiner Auffassung in erster Linie in einer währungspolitischen Ordnung. Hierbei muss von der wissenschaftlichen Erkenntnis ausgegangen werden, dass die volkswirtschaftliche Ordnung nicht auf einer Addition von Teilordnungen beruht, sowenig die Volkswirtschaft als ein aus „Kästchen“ errichtetes Gebäude zu begreifen ist. Bei ihr handelt es sich um eine Funktion, um ein Ganzes und Untrennbares. Es handelt sich um Beziehungen menschlicher und materieller Art, die nicht voneinander gelöst und zerschnitten werden können, um dann nach Belieben wieder willkürlich zusammengefügt zu werden.

In diesem Zusammenhang verdient auch ein anderer Gedanke Erwähnung. Es scheint heute allenthalben eine gewisse Scheu vor dem Wettbewerb vorzuherrschen, der notwendigerweise mit der Schaffung von größeren Markteinheiten verbunden ist bzw. durch sie ausgelöst wird. Man wähnt, dass die Bedingungen für einen freien Wettbewerb bei einer derartigen Integration zu ungleich wären, als dass dieses Ordnungsprinzip der Marktwirtschaft gesetzt werden dürfte. Man sollte daher – so meinen manche Wirtschaftskonstrukteure – zuerst einmal alle diese Unterschiedlichkeiten ausgleichen bzw. sie alle auf ein gleiches Niveau bringen, ehe man den freien Wettbewerb eröffnet…

Unter dem Stichwort „Harmonisierung“ ging das Ansinnen sogar so weit, dass am Ende der Übergangsperiode die Lohnniveaus der einzelnen Mitgliedsstaaten angeglichen und ihre Gesamt-Arbeitskosten „äquivalent“ sein müssten. Man könnte über diese Forderung hinweggehen, weil sie volkswirtschaftlich einfach nicht realisierbar ist, denn von Sizilien bis zum Ruhrgebiet kann es keine gleiche Produktivität und mithin auch keine gleichen Arbeitskosten geben. Die Praktizierung dieses Grundsatzes müsste gebietsweise sogar zu einem wirtschaftlichen Massensterben führen. Die Lohnkosten sind in ihrer jeweiligen Höhe ein Ausfluss der Produktivität und nicht die Voraussetzung einer gleichen Leistungskraft…

Es ist also eine Illusion, die hinter diesen Vorstellungen steht, der Wahn, zu glauben, man könnte die natürlichen Gegebenheiten korrigieren und die strukturellen Bedingungen von Land zu Land mit künstlichen Mitteln so weit ausgleichen, dass jedes Land in jedem Bereich mit gleichen Kosten arbeitet. Ich halte dies – von der Unmöglichkeit, dass man dieses fragwürdige Ziel jemals wird erreichen können, einmal abgesehen – auch in keiner Weise für erstrebenswert…

Wer dieser Harmonisierungstheorie folgt, darf nicht der Frage ausweichen, wer die Opfer bringen und womit die Zeche bezahlt werden soll. In der praktischen Konsequenz muss ein solcher Wahn naturnotwendig zur Begründung sogenannter „Töpfchen“ führen, das heißt von Fonds, aus denen alle diejenigen, die im Nachteil sind oder es zu sein glauben, entweder entschädigt oder künstlich hochgepäppelt werden. Das aber sind Prinzipien, die mit einer Marktwirtschaft nicht in Einklang stehen. Hier wird nicht die Leistung prämiiert, sondern das Gegenteil getan, es wird der Leistungsschwächere – aus welchen Gründen auch immer – subventioniert…

Ordnung auf leichten Sohlen

Man kann und darf Europa vom wirtschaftlichen Standpunkt aus nicht so sehr als Organisation oder als Institution verstehen, sondern man muss es als Funktion auffassen. Dann aber ist die Frage dahin zu stellen, was wir tun können, um dieses Europa zur Entfaltung freier Funktionen zu befähigen. Es ist eine fast tragische Erkenntnis, glauben zu müssen, dass wir innerlich bereits derart verkrampft sind, Ordnung nur noch in der Vorstellung der „Organisation“ begreifen zu können. Wir haben den Sinn für echte Ordnung verloren, die gerade dort am stärksten ist und dort am reinsten obwaltet, wo sie als solche überhaupt nicht bemerkt und verzeichnet wird.

Damit soll nicht gesagt sein, dass ich europäischen Bindungen grundsätzlich widerstrebe. Ich möchte vielmehr die Voraussetzung hierfür schaffen, wenn ich zuvörderst die innere Ordnung der einzelnen Volkswirtschaften sichergestellt wissen will, weil sonst die Integration zwangsläufig zu einem übernationalen Dirigismus führen müsste.

Europa ist nicht mit kleinen Mittelchen zu bauen; es ist nur als eine komplexe, ökonomische und politische Funktion zu verstehen. Die Vorstellungen, dass fortschreitend einzelne Sachbereiche der nationalen Souveränität entzogen und supranationaler Verwaltung übergeben werden sollten und dass dann von einem bestimmten Augenblick an das Gewicht des supranationalen Einflusses automatisch zu einer totalen Überwindung nationaler Zuständigkeiten führen würde, erscheint mir wenig realistisch und hält einer wirtschaftstheoretischen Durchleuchtung nicht stand…

„Man kann und darf Europa vom wirtschaftlichen Standpunkt aus nicht so sehr als Organisation oder als Institution verstehen, sondern man muss es als Funktion auffassen.“

Meiner Auffassung nach steht uns gar kein anderer Weg offen, als in allen Fragen des Waren- und Dienstleistungsverkehrs, des Geld- und Kapitalverkehrs, der Behandlung der Zollpolitik und hinsichtlich der Freizügigkeit der Menschen in raschem Fortschreiten zu immer umfassenderen Freiheiten zu gelangen und auf dem Wege dorthin auf alle staatlichen Manipulationen zu verzichten, die diesen Prinzipien zuwiderlaufen. Wo institutionelle Einrichtungen zur Durchsetzung dieser Prinzipien der Freiheit unvermeidlich sind, trete auch ich für sie ein. Mir will scheinen, dass derjenige ein wahrhaft guter Europäer ist, der diese Gemeinsamkeit des Handelns und Verhaltens zur Verpflichtung aller Beteiligten erhoben wissen will…

Wie nun, so werden meine Leser fragen, stelle ich mir das werdende Europa vor. Am Beginn eines Versuchs, konkretere Vorstellungen zu entwickeln, muss der Satz stehen: Alles Streben nach politischer und wirtschaftlicher Integration muss scheitern, wenn nicht endlich alle Beteiligten den Mut und die Kraft finden, sich zu einer ständig fortschreitenden Liberalisierung des Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs, eines raschen Abbaus der Zölle sowie anderer protektionistischer Schranken und Manipulationen zu bekennen und danach zu handeln.

Zu einem freien und gemeinsamen Markt gehören, gleich wie früher bei der Goldwährung, nicht Reichtum und Stärke, sondern nur die bescheidene Einsicht, dass auch ein Staat, ebenso wenig wie ein Volk, über „seine Verhältnisse“ leben kann…

Dieses mein ständiges Werben und Mahnen, Europa unter Voran- und Sicherstellung der „Funktion“ zu schaffen, soll nun nicht dahin missverstanden werden, als ob ich nun völlig starr jede Institution auf europäischer Ebene ablehnen würde. Was ich entschieden ablehne, ist allerdings die Auffassung, es könnte durch die Schaffung von Institutionen gelingen, den eigentlichen Schwierigkeiten wirksam zu begegnen. Hierin gerade bestehen die eigentlichen Meinungsunterschiede.

Wer ist ein guter Europäer?

Jeder institutionelle Lösungsversuch bringt die Gefahr mit sich, in Scheinlösungen stecken zu bleiben. Aber auch für mich gibt es bei diesem Fragenkomplex nicht ein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch – wobei allerdings der Akzent eindeutig auf der Priorität der funktionellen Integration liegt.

Ich habe es selbst zu wiederholten Malen erfahren, wie fruchtbar es sein kann, wenn sich Menschen zusammensetzen müssen, um gemeinsam Lösungen zu finden. Nur kommt es entscheidend darauf an, dass die institutionell begründete Arbeit das funktionale Wirken nicht verdrängen, ersetzen oder gar negieren will. Die Institution muss vielmehr dienen – und zwar ausschließlich –, um die Funktion des gemeinsamen Marktes zu unterstützen; sie muss helfen, Freiheit zu eröffnen. Wenn dagegen die Institution selbst „ordnen“ will, ist sie fehl am Platze…

Ich jedenfalls bin nicht willens, mir meine europäische Gesinnung und auch nicht meine Gläubigkeit aberkennen zu lassen, weil ich die diesbezüglichen Fragen anders gestellt und allen Beteiligten zu prüfen anheim gegeben habe, ob es denn nur einen Weg und nur eine Methode hin zu Europa gäbe, oder ob nicht andere Mittel vielleicht schneller und wirksamer zum Ziele führten.

Des Weiteren widerstrebe ich nicht europäischen Bindungen, sondern möchte umgekehrt die Voraussetzung hierfür schaffen, wenn ich mahne, dass zuvörderst die innere Ordnung der Volkswirtschaften in nationaler Verantwortung sicherzustellen sei, weil sonst die Integration zu einem übernationalen Dirigismus führen müsste.

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