Es war einmal…

…ein an der Universität Münster tätiger Wissenschaftler, der in den 1940er Jahren gelegentlichen Kontakt mit einem Kollegen von der Handelshochschule in Nürnberg hatte. Der eine, Alfred Müller-Armack, hatte einen Lehrstuhl für Nationalökonomie und Kultursoziologie, insbesondere Religionssoziologie. Zudem leitete er die „Forschungsstelle für Allgemeine und Textile Marktwirtschaft“ der Universität. Der zweite, Ludwig Erhard, arbeitete am Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware in Nürnberg. Der Kontakt wurde in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gerettet, und weil der eine 1947 die Schrift „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“ veröffentlichte und der andere ab 1949 als Bundesminister für Wirtschaft wirkte, wurde eine Legende geboren: Da in der Müller-Armack-Publikation der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ genannt wurde, und der Autor darüber hinaus von 1952 bis 1963 im Bundeswirtschaftsministerium tätig war – 1952 beruft Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard Müller-Armack zum Leiter der Abteilung Wirtschaftspolitik; 1958 erfolgt die Berufung zum Staatssekretär für europäische Angelegenheiten im BMWi –, konnte es nur so sein: Müller-Armack erdachte die Konzeption, die Ludwig Erhard im politischen Alltag als Blaupause für sein Handeln nutzte. Diese wunderbare Geschichte, hundertfach erzählt und niedergeschrieben, kann ergo nur die einzig richtige Interpretation sein. Und so findet diese schöne Legende noch heute ihre Erzähler, jüngst auf Spiegel Online.

So weit, so gut. Es könnte allerdings – wie so häufig – nicht ganz so einfach gewesen sein. Zunächst klafft ja eine zeitliche Lücke vom 1949 bis 1952: Was hat Erhard in diesen drei Jahren ohne seinen „Vordenker“ getrieben? Währungs- und Wirtschaftsreform, erster Entwurf eines Kartellgesetzes, Start in die Montanunion – alles ohne Müller-Armack.

  • Mit Beginn der politischen Verhandlungen zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in Folge der Konferenz von Messina (Juni 1955) wurde Müller-Armack mit den entsprechenden Aufgaben auf europäischer Bühne betraut. Seine Vorstellungen waren dabei nicht immer im Einklang mit seinem Minister. Ludwig Erhard plädierte für eine umfassende Freihandelszone und kooperative Strukturen. Müller-Armack fühlte sich mehr der von Bundeskanzler Konrad Adenauer vorgegebenen Integration innerhalb eines europäischen Staatenverbunds verpflichtet. Schriftwechsel zwischen Bundeswirtschaftsminister und Staatssekretär sind Folge dieser unterschiedlichen Sichtweisen.
  • 1974 erhalten beide Protagonisten den Freiherr-vom-Stein-Preis. In seiner Dankesrede betont Alfred Müller-Armack die Kontinuität der Sozialen Marktwirtschaft über die Jahrzehnte. Ludwig Erhard indes sieht das Konzept am Ende: Was daraus geworden sei, läge seinen Vorstellungen von Freiheit und Verantwortung doch eher fern.

„Was sind das aber für Reformen, die uns Wände voll neuer Gesetze, Novellen und Durchführungsbestimmungen bringen? Liberale Reformen sind es jedenfalls nicht. Es sind Reformen, die in immer ausgeklügelterer Form Bürger in neue Abhängigkeiten von staatlichen Organen bringen, wenn nicht sogar zwingen.“

  • Auch was den „Kern“ ihrer Zusammenarbeit anging, die Soziale Marktwirtschaft, waren die beiden nachweislich nicht zwangsläufig ein Herz und eine Seele. Beispiel dafür ist der Eintrag Müller-Armacks im Handwörterbuch für Sozialwissenschaften aus dem Jahr 1956: Dort steht die vielzitierte Definition: „Sinn der Sozialen Marktwirtschaft ist es, das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden“. Ludwig Erhard fand diese Aussage zumindest unvollständig. Für ihn war Freiheit auf dem Markt und sozialer Ausgleich nur akzeptabel, wenn dieses mit der „sittlichen Verantwortung des Einzelnen dem Ganzen gegenüber“ verbunden werde.

Umverteilung kann Erhard zufolge immer nur zulasten Dritter erfolgen. Ohne moralische Begrenzung – sittliche Verantwortung bei Ludwig Erhard – wird Umverteilung zum Selbstzweck. Während für Müller-Armack die Soziale Marktwirtschaft Instrument zur Erfüllung sozialer Ziele ist, sieht Erhard darin das Instrument zur Entwicklung einer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.

Schon – dank Spiegel enthüllt – die im Kloster verfasste Schrift „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“ (Nachdruck in: Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, Verlag Paul Haupt 1976, Seiten 19 ff.) von Müller-Armack dürfte eher für Dissonanzen mit Erhard denn für Gleichklang sprechen. So ist Müller-Armack überzeugt: „Wenn auf dem Weg der Besteuerung die höheren Einkommen gekürzt und in Form direkter Beihilfen weitergeleitet werden, liegt geradezu der Idealfall eines marktgerechten Eingriffs vor“ (Seite 132). „Höhere Einkommen“ sind zwar nicht näher spezifiziert, aber, so heißt es einige Seiten weiter: „Theoretisch gesehen, könnte der Staat durch scharfe Erfassung aller höheren Einkommen eine Kaufkraftumleitung in Kraft setzen, die die denkbar stärkste Nivellierung zur Folge hätte… Auf jeden Fall ließe sich auf diesem Wege einer solchen Einkommensumleitung jeder gewünschte soziale Ausgleich durchsetzen, ohne mit den Spielregeln des Marktes in Widerspruch zu geraten“ (Seite 144).

Daraus zu interpretieren, Müller-Armack habe konzipiert, Erhard exekutiert, ist mutig. In einem jüngst erschienenen Buch (Uwe Fuhrmann, Die Entstehung der „Sozialen Marktwirtschaft“ 1948/49. Eine historische Dispositivanalyse, UVK 2017, Seite 317) steht kurz und knapp: „Das muss insbesondere für Alfred Müller-Armack betont werden: Es war nicht sein Konzept, das 1948/49 verfolgt wurde.“

So uneins wie „geistiger Vater“ und „Exekutor“ in Bezug auf Sinn und Zweck einer Sozialen Marktwirtschaft waren, so wenig eindeutig ist auch die Entstehung des Begriffes, denn in mindestens zwei weiteren Quellen lässt sich der Begriff Soziale Marktwirtschaft ebenso finden.

  • 1948 schreibt Harold Rasch, Jurist in Bonn, über „Grundfragen der Wirtschaftsverfassung“ (Verlag Helmut Küpper 1948). Das vierte Kapitel seiner Publikation trägt die Überschrift: „Grundzüge einer sozialen Marktwirtschaft“ (Seiten 118 ff.). Während Rasch in seinen Anmerkungen Quellen von Friedrich August von Hayek und Wilhelm Röpke benennt, fehlt von Müller-Armack jede Spur.
  • Eher anekdotisch anmutend wird die Entstehung des Begriffs in den Memoiren von Karl Günther Weiss beschrieben (Wahrheit und Wirklichkeit. Der Weg aus den Weltkriegen in die Soziale Marktwirtschaft und eine künftige Weltordnung, Verlag Ermer 1996). Weiss, als Jurist in den 1940er Jahren Referent im Reichswirtschaftsministerium, sitzt im Januar 1945 mit Ludwig Erhard zusammen und diskutiert mit ihm einmal mehr die wirtschaftspolitischen Nachkriegsvorstellungen. In dieser Runde fällt dann auch aus Sicht des Autors zum ersten Mal der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ (Seite 571).

In Zeiten, in denen angeblich Recherche und Faktencheck die journalistische Arbeit dominieren, ist die neuerliche Erzählung über Erhard und Müller-Armack in jedem Fall optimierbar. Anderenfalls bestätigen Nacherzählungen dieser Art lediglich, dass das einstige „Sturmgeschütz der Demokratie“ längst abgerüstet wurde und inzwischen eher als Erbsenpistole ihr Dasein fristet. Übrigens: Anderenorts kann der Interessierte mindestens ebenso häufig erfahren, Ludwig Erhard habe 100prozentig das umgesetzt, was Walter Eucken ihm vorgab. Aber das ist eine andere Geschichte.

Lesehinweise

Horst Friedrich Wünsche, Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft. Wissenschaftliche Grundlagen und politische Fehldeutungen, Lau Verlag 2015

Horst Friedrich Wünsche, Zur Ideengeschichte der Sozialen Marktwirtschaft, in: Historisch-Politische Mitteilungen, Konrad-Adenauer-Stiftung, Heft 23, Böhlau Verlag 2016

https://www.ludwig-erhard.de/wp-content/uploads/2015-12-14-Expose.pdf

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