„Jeder ist seines Glückes Schmied. Es herrscht die individuelle Freiheit, und dies umso mehr, je weniger sich der Staat anmaßt, den einzelnen Staatsbürger zu gängeln oder sich gar zu seinem Schutzherrn aufspielen zu wollen.“ (Ludwig Erhard, 1958)

Wohl kein Begriff schillert in so vielfältigen Farben wie der Begriff der Freiheit, vom Begriff des Sozialen einmal abgesehen. Und doch nimmt seine Zauberkraft nicht ab, und es ist unmöglich, auf ihn zu verzichten. Freiheit kann manchmal auch Herrschaft bedeuten – wie im Falle der Freiheit von den eigenen Affekten, welche die Stoiker im Sinne einer „Herrschaft der Vernunft“ fordern. Genauso nennt sich manchmal auch die zügellose Herrschaft der Leidenschaften und Begierden Freiheit. Ferner strebt manche Gruppe nur nach Macht und Eigenherrschaft, wenn sie ihre Freiheit fordert. Freiheit kann auch Willensfreiheit bedeuten und gerät damit ins Metaphysische.

Die individuelle Freiheit

Mit individueller Freiheit (Typ 1) soll im Sinne von klassisch-liberalen Autoren von John Locke bis zu Friedrich August von Hayek die Freiheit als individuelle Handlungsfreiheit verstanden werden, als Freisein vom willkürlichen Herumkommandiertwerden durch andere Menschen, wie es das Schicksal eines Sklaven, eines Angebundenen oder Eingesperrten ist. Der freie Mensch dient seinen eigenen Zwecken, ist nicht nur Mittel für die Ziele anderer, auch wenn er sich für andere – seine Familie, Freunde, Landsleute – einsetzen, ja aufopfern mag. Dies ist der Königsbegriff der Freiheit, jener, auf den es einem Liberalen vor allem ankommt. Der französische Sozialphilosoph Bertrand de Jouvenel drückte es einmal so aus: „Freiheit ist nicht die mehr oder weniger illusorische Partizipation an der absoluten Souveränität des sozialen Ganzen über seine Teile, sondern die direkte unmittelbare und konkrete Souveränität des Menschen über sich selbst, die ihm erlaubt und ihn zwingt, sich selbst zu verwirklichen, die ihm die Herrschaft und damit auch die Verantwortung über sein Schicksal gibt, die ihm Rechenschaft abverlangt über seine Handlungen gegenüber den Mitmenschen, die gleiches Recht besitzen – hier liegt die Aufgabe der Rechtsprechung –, und auch gegenüber seinem Gott, dessen Intentionen er bejahen oder verneinen kann.“ De Jouvenel fügt hinzu: „Nicht als ein Element des persönlichen Glücks ist die Freiheit von den großen Philosophen immer wieder gefordert worden, sondern weil sie den Menschen aus seiner instrumentalen Rolle befreit […] und ihm seine Würde zurückgibt.“

Wie steht es in Deutschland mit dieser individuellen Freiheit? Es gibt ja die verbreitete Meinung, wir lebten heute im „freiesten Staat der deutschen Geschichte“. Dies mag für die geistige und religiöse Freiheit gelten, wenn auch hier der strenge Egalitarismus der „politischen Korrektheit“ enorme Fortschritte macht und oft genug – zum Beispiel in der sogenannten Antidiskriminierungspolitik mit Gleichstellungskommissaren und dem Leitbild einer „inclusiven Gesellschaft“, die niemanden „ausgrenzen“ will – in Meinungsverbote und Einschränkungen der Vertragsfreiheit ausartet.

Inwiefern? Persönliche, namentlich gruppenbezogene Bewertungen und Präferenzen werden damit unterdrückt, da sie Differenzen und Wettbewerb verursachen. Es soll alles und jedermann gleich wertvoll, nicht nur gleichberechtigt, sondern eben „gleichgestellt“ und damit auch sozial gleich wertgeschätzt sein. Der erfolgreiche Unternehmer oder Künstler gilt nicht mehr als der verwahrloste Bettler – alles andere wäre diskriminierender „Rassismus“ (nicht nur politisch, auch religiös und kulturell). Dies ist die aktuelle Form eines politisch sanktionsbewehrten Relativismus, mit dem sogar die vorzugswürdige Wertbasis der eigenen Kultur geleugnet oder doch infrage gestellt wird. Man soll sein Land oder seine Kultur nicht mehr anderen vorziehen dürfen.

Welches ist der Hintergrund dieser Verwirrung? Es gibt heute nur wenige, die nach seinem welthistorischen Debakel dem Marxismus-Leninismus in seiner orthodoxen Form anhängen und ihm viel Kredit geben. Seine Erbschaft haben derzeit fast in der ganzen westlichen Welt die „Dekonstruktivisten“ gemacht, jene Lehre der „postmodernen“ Intellektuellen wie Michel Foucault oder Jacques Derrida, deren zerstörerisches Bekenntnis das der absoluten Gleichheit ist. Nieder mit der kulturellen oder sozialen Differenz, hinter der nur Macht- und Herrschaftsinteressen skrupelloser Egoismen stecken! Es lebe die Harmonie der entindividualisierten „Gleichen“, die uniforme friedliche Herde – das ist der Kern ihrer Botschaft. Der diabolische Trick, den nur wenige durchschauten, war es, den Begriff der Nichtdiskriminierung und gesetzlichen Gleichheit, der in den Bereich des öffentlichen Rechts gehört, in den Bereich des Privatrechts zu übertragen, wo er dessen Charakter und mit ihm die individuelle Freiheit zerstört.

Kaum besser steht es im Bereich der ökonomischen und sozialen Handlungsfreiheit: Die Vertragsfreiheit ist in weiten Teilen eingeschränkt oder ganz abgeschafft – vom gesetzlichen Mindestlohn bis zu den feinen Verästelungen unseres Arbeitsrechts, des individuellen wie des kollektiven. Sogar die Zeitverwendung ist reguliert („Arbeitszeitordnung“). Noch weitergehend ist die Abschaffung der Freiheit zur elementaren Eigenvorsorge: Nicht nur die Proletarier der Bismarckzeit, sondern beinahe alle Bürger sind heutzutage gezwungen, die großen Versorgungsanstalten der sogenannten sozialen, also staatlichen „Versicherung“ zu nutzen, werden mit ihrem eigenen Geld vom Staat abhängig gemacht hinsichtlich der Vorsorge gegen beinahe alle normalen Risiken des Privatlebens. Es ist heute in Deutschland das Privileg einer Minderheit, sozial noch selbständig zu sein. Selbst die Familie wird durch die Sozialisierung ihrer Kosten und sogar Funktionen (flächendeckende staatliche Kinderbetreuung mit „Rechtsanspruch“) mehr und mehr durch Staat und Behördendienste ersetzt. Dies alles schlägt sich nieder in der Höhe der Abgabenquote, in der Verstaatlichung der Einkommensverwendung: In vielen Fällen läuft es für den Bürger auf einen Taschengeld-, zumindest einen Ein-Drittel-Netto-Staat hinaus. Weiteres im Sinne der Bevormundung leistet die vordringende Verbraucherschutzpolitik, die den Konsumenten seiner Souveränität auf den Märkten beraubt, da sie ihn offenbar für ein führungs- und schutzbedürftiges Wesen hält. Jeder Kaufvertrag, den man unterschrieben und damit zugestimmt hat, kann nachträglich noch einseitig vom Kunden, den man offenbar nicht mehr ganz für voll nimmt, innerhalb bestimmter Fristen dementiert werden. Staatliche Protektion gegen „Übereilung“! Überhaupt hat der Präventionsgedanke auf vielen Gebieten, zum Beispiel auch im Unfallschutz, den gesunden Menschenverstand und das Maß weitgehend verabschiedet. Kurz: In sozialer und ökonomischer Hinsicht steht Deutschland tief unter dem im 19. Jahrhundert erreichten Freiheitsstandard, und auch in geistiger kaum mehr darüber.

Die politische Freiheit

Ein weiterer Freiheitstyp ist der kollektive im Sinne politischer Teilhabe an den gemeinsamen Angelegenheiten, den „öffentlichen Gütern“: die Freiheit der Demokratie. Diese Freiheit drückt sich in Volksinitiativen, in Wahlen und Abstimmungen aus. Das Volk hat hier das letzte Wort. Auch damit steht es im Deutschland der Gegenwart nicht zum Besten. Von „Parteienoligarchie“ sprach schon Karl Jaspers; die Parteien haben sich den Staat zur Beute gemacht, behauptet Hans Herbert von Arnim. So sind sie zu einem bedeutenden Teil staatsfinanziert, selbst die heftig angefeindeten radikalen Parteien im linken oder rechten Spektrum, wenn sie nur einige Wählerstimmen bei sich verbuchen können. Der deutsche Bürger darf alle vier oder fünf Jahre nur darüber bestimmen, ob Meier oder Schulze über ihn herrschen soll – das stärkt nicht sein Selbstgefühl und seinen Stolz als eigentlichen Souverän, der er nach allgemeiner Versicherung sein soll. In Sachentscheidungen ist er in Deutschland so gut wie machtlos. Nur auf kommunaler Ebene, schwächer auch auf Landesebene sind direktdemokratische Elemente vorhanden, auf Bundesebene gar nicht, auch nicht in Existenzfragen der Nation – im folgenreichen Kontrast zur Schweizer Eidgenossenschaft. Staatsbürgerliches Selbstbewusstsein und politisch-sachliche Schulung in den öffentlichen Angelegenheiten müssen darunter leiden. In der Schweiz weiß der normale Stimmbürger mehr von den öffentlichen Dingen als der durchschnittliche Abgeordnete des Deutschen Bundestages, hat jemand einmal zugespitzt behauptet.

Dieser zweite Typ von Freiheit im Sinne von Mitbestimmung steht rangmäßig unter dem Typ eins, auf den es vor allem ankommt. Denn Typ 2 ist ja eigentlich nur Mittel zur Sicherung von Typ 1, der persönlichen Freiheit, und gewiss auch eine nützliche Form der unblutigen Konfliktschlichtung durch Mehrheitsentscheidung und Abwahl von Eliten, die sich nicht bewährt haben. Mehrheiten können aber ohne Freiheitsgarantien im Sinn des Typ 1 zu Tyrannen über Minderheiten werden.

Freiheit nach außen

Nun ist auch ein dritter Freiheitstyp nicht zu unterschätzen: die politische Freiheit eines Gemeinwesens nach außen. Das Gegenteil ist hier die Fremdherrschaft, die sich tyrannisch auch nach innen auswirken kann. Dafür bietet die deutsche Geschichte nicht viele, aber doch einige bedeutende Beispiele: so die Herrschaft Napoleons (1806–1815), so die totalitäre Herrschaft Sowjetrusslands über große Teile Deutschlands (1945–1990) und die mildere Herrschaft der Westalliierten über Westdeutschland bis zumindest 1955, wenn nicht gar ebenfalls bis 1990. Im Jahr 1945 hat Deutschland zum ersten Male in seiner über tausendjährigen Geschichte Freiheit in diesem Sinn, also Selbstherrschaft – wenn auch lange Zeit nur über zersplitterte politische Gewalten –, gänzlich verloren. Heute ist sie durch freiwillige, übernationale Bindungen (vor allem Europäische Union, NATO) eingeschränkt. Dieser Typ 3 kann sich mit Unfreiheit nach innen (Typ 1 wie Typ 2) verbinden, wenn private Rechte eingeschränkt und demokratische Teilhaberechte beseitigt sind, in einer absolutistischen Monarchie oder Diktatur.

Freiheit von Not

Der vierte und letzte Freiheitsbegriff ist der in einem Wohlfahrtsstaat populärste, denn die obschon stark reduzierte Freiheit vom Typ 1 oder 2 hält man für selbstverständlich. „Freiheit“ sollte hier in Anführungszeichen stehen: Es ist die „Freiheit von Not“, die positive Freiheit nach Isaiah Berlin – nicht als Ergebnis persönlicher Anstrengungen, denn das wäre unbedenklich –, sondern durch Rechtsanspruch auf Staatsleistungen. Hier werden Staatsmacht und Staatsorganisation maximiert, um die Bürger vor allen Arten von persönlicher materieller Not zu bewahren, Leiden und persönliche Anstrengung zu minimieren und solchergestalt das Glück an die Kandare zu nehmen und die für den weniger Glücklichen oder Erfolgreichen immer peinliche Ungleichheit der Lebenslagen zu nivellieren. Man spricht auch von „materialer Freiheit“ im Unterschied zu der „bloß formalen“ der Liberalen. Was nützt die liberale Arbeitsvertragsfreiheit, die Freiheit, eine Wohnung zu mieten, zu reisen, sich zu bilden oder gegen Einkommensverlust und Erwerbsunfähigkeit zu schützen, so fragen die Anhänger dieser wohlfahrtsstaatlichen, „wirklichen“ Freiheit, wenn zu alldem die Mittel fehlen und der Einzelne zu schwach und hilflos ist, sich diese Mittel durch Eigenanstrengung auf den Märkten oder in kollektiver Selbsthilfe zu beschaffen? Freisein heißt hier also so viel wie „gut versorgt sein, mit allem, was man notwendigerweise zum guten Leben braucht“. Nach der Logik dieser Freiheit ist der freilebende, auf Eigeninitiative angewiesene Fuchs in den Wäldern „unfrei“, der wohlversorgte Hofhund des Bauern hingegen „frei“. Leider muss letzterer aber an der Kette liegen und dem Bauern unbedingt gehorchen. Der arme Almbauer, der nur eine magere Kuh unter einem schlechten Dach besitzt, ist gewiss unfrei. Der wohlgenährte Sklave in der Stadt dagegen ist nach dieser Logik frei, auch das Kind, das unter strenger elterlicher Obhut steht; selbst der Gefängnisinsasse hat doch heutzutage seine täglichen warmen Mahlzeiten, Informations- und Unterhaltungsmittel, ärztliche Versorgung, Bildungsmöglichkeiten und ist gegen die Unbilden der Witterung geschützt – insoweit ist er eigentlich „frei“. Aber man kann eben arm und unglücklich und doch individuell frei sein. Freisein im Sinne des Typ 1 ist nicht gleichbedeutend mit Reichtum und Wohlstand.

Man sieht, wohin man mit diesem vierten Freiheitstypus kommt: Er ist mit der finstersten Knechtschaft vereinbar, sofern nur gewisse Bedürfnisse befriedigt sind. Ob ein so Beglückter glücklicher ist als der Freie vom Typ 1? Gewiss nur, wenn er zum Gehorchen und zur Fremdführung geboren ist – wenn er soweit sein Menschsein vergisst, dass er sich mit Lust zum bloßen Mittel für die Ziele und Zwecke anderer erniedrigen kann. Dass dieses auf Dauer nicht gutgehen kann, lehrt das Beispiel von Gemeinwesen mit solchen Strukturen – in der untergegangenen Sowjetunion oder im dahinvegetierenden Kuba nicht anders als früher im spätrömischen Reich oder im Inka-Staat. Auch Schwedens „Volksheim“ mit seinem gemeinschaftsfeindlichem „Staatsindividualismus“ empfiehlt sich nicht gerade …

So mag eines Tages denn auch unser überdehnter, verschuldeter Wohlfahrtsstaat, dessen Geldwesen der Zerrüttung zutreibt und die Eigenvorsorge und Privatsphäre zerstört, das Schicksal des Efeus an seinem Wirtsbaum erleiden. Die freie Marktwirtschaft ist der Wirt, der Efeu – der Wohlfahrtsstaat – der Gast. Lange scheinen Baum und Gast in freundlicher Symbiose zu stehen, obwohl der Gast von der Wirtspflanze lebt. Eines Tages stirbt dann der Wirtsbaum in erstickender Umschlingung seines zudringlichen Gastes ab, und sie fallen beim ersten Sturm gemeinsam zu Boden. Man kann den Tag dieses gemeinsamen Endes nur schwer voraussagen. Jedenfalls aber scheint die Zeit sich zu nähern, in der Ludwig Erhards fast vergessene Botschaft der Freiheit (vom Typ 1) wieder zu frischem Leben erwacht.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, herausgegeben von der Ludwig-Erhard-Stiftung, Bonn, ISSN 2366-021X

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