Prof. Dr. Fritz Söllner
Technische Universität Ilmenau, Fachgebiet Finanzwissenschaft

Regierungsdirektor Dr. Rupert Pritzl
Bayerisches Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie sowie Lehrbeauftragter an der FOM Hochschule, München

In der deutschen Klima- und Energiepolitik lassen sich alle vier der von Hermann Lübbe genannten Merkmale des politischen Moralismus wiederfinden: die Identifikation des moralischen Verfalls als Problemursache; die Argumentation ad hominem; die Selbstermächtigung zum Regelverstoß; moralische Appelle und Symbolpolitik als Versuche der Problemlösung. Auf diese Weise wird eine ökonomisch irrationale Politik betrieben, die enorme Kosten verursacht und zu einer deutlichen Einschränkung der Handlungsfreiheit führt, aber so gut wie nichts zur Lösung des Klimaproblems beiträgt.

1 Heute aktueller denn je: Hermann Lübbes „Politischer Moralismus“

Die Warnung Hermann Lübbes vor einer zunehmenden „Neigung, auf die Herausforderungen von Gegenwartsproblemen moralisierend zu reagieren“, die dieser schon 1984 aussprach, ist heute aktueller denn je.1Hermann Lübbe, Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, Münster 2019, Seite 74. Der zitierte Essay stellt die Ausarbeitung eines erstmals 1984 gehaltenen Vortrags dar. Denn der gesellschaftliche Diskurs in Deutschland wird in vielen Politikbereichen von einem politischen Moralismus geprägt, der eine unvoreingenommene, kritische und sachlich geführte Diskussion behindert bzw. unmöglich macht. Dies wird ganz besonders in der Klima- und Energiepolitik sichtbar, die durch hohe Emotionalisierung und Moralisierung gekennzeichnet ist. Sie beruht auf wenigen emotionalen Großentscheidungen: der Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) im Jahr 2000; dem Ausstieg aus der Kernenergie nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011; dem im Gefolge der „Klimahysterie“ von 2019 beschlossenen Ende der Nutzung der Kohleenergie im Jahr 2020.

Wenn man – wie Hermann Lübbe – den politischen Moralismus als die Aufforderung interpretiert, „dem Verstand zu gebieten, doch endlich den Mund zu halten“2Hermann Lübbe, Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, Münster 2019, Seite 5., so wird schnell klar, dass sich eine moderne Gesellschaft mit einem politischen Moralismus in eine unheilvolle Selbstbeschränkung hineinmanövriert, in der Argumente nicht zählen und eine sachliche gesellschaftliche Diskussion in vielen Bereichen nicht mehr möglich ist. Der politische Moralismus kann daher als Paradebeispiel für die schon von Max Weber kritisierte Gesinnungsethik gelten,3Max Weber, Geistige Arbeit als Beruf, Zweiter Vortrag: Politik als Beruf, München und Leipzig 1919, Seiten 56–60. was schon aus dem Untertitel von Lübbes Essay deutlich wird. Der politische Moralismus stellt gewissermaßen die typische Erscheinungsform der Gesinnungsethik im Bereich der Politik dar.

Der enge, ja unauflösliche Zusammenhang zwischen Gesinnungsethik und politischem Moralismus wird auch im Folgenden deutlich werden, wenn wir den politischen Moralismus in der Klima- und Energiepolitik analysieren (Teil 2). In Teil 3 zeigen wir die Auswirkungen einer moralisierenden Klima- und Energiepolitik für Wirtschaft und Gesellschaft auf. Im Anschluss daran stellen wir das Phänomen des politischen Moralismus in einen weiteren Zusammenhang und skizzieren, wie der Rückweg zu einer vernunftorientierten Politikgestaltung aussehen könnte (Teil 4).

2 Die vier Aspekte des politischen Moralismus und ihre Rolle in der aktuellen Klima- und Energiepolitik

Lübbe identifiziert vier wesentliche Charakteristika des politischen Moralismus. Alle vier lassen sich unschwer in der aktuellen Klima- und Energiepolitik wiederfinden. Mehr noch, sie prägen diese Politik so stark, dass dieselbe als der Idealtyp einer moralisierenden Politik gelten kann.

2.1 Moralischer Verfall als Problemursache

Erstens gehört zum politischen Moralismus „die zivilisationskritische Praxis, die Folgelasten moderner Zivilisationen, die in etlichen Lebensbereichen inzwischen rascher als ihre Lebensvorzüge wachsen, statt als entwicklungsbegrenzende Kosten als Beweis für die geschichtsphilosophische These zu interpretieren, dass die moderne Zivilisation das Endstadium einer bis in die Moral unseres kulturellen Naturverhältnisses hinreichenden Verfallsgeschichte sei“.4Hermann Lübbe, Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, Münster 2019, Seiten 120–121. Als Ursache für die Klimakrise wird in der öffentlichen Diskussion häufig die niedrige Gesinnung vieler Menschen genannt. Das Klima werde destabilisiert, weil böswillige und rücksichtslose Menschen das Klima absichtlich gefährden oder eine Gefährdung desselben zumindest in Kauf nehmen würden, um ihre egoistischen Ziele zu verfolgen – zulasten ihrer umweltbewussten und gutwilligen Zeitgenossen und zulasten künftiger Generationen. Typisch für diese Art der Schuldzuweisung ist die wütende Anklage von Greta Thunberg: „How dare you!“ Die Aussage, dass der Klimawandel „menschengemacht“ sei und die zumindest zum Teil auch zutrifft, wird weitergehend interpretiert und in dem Sinn gebraucht, dass der Klimawandel das Produkt von Vorsatz und Fahrlässigkeit, also ein Produkt absichtlichen Handelns sei. Eine solche Kausalattribution ist einfach und bequem; sie schafft ein klares Feindbild, und sie motiviert die „Klimaaktivisten“ durch emotionale Appelle an die Verworfenheit der anderen und die eigene moralische Überlegenheit. Aber sie ist falsch.

Negative Zivilisationsfolgen, wie etwa die Gefährdung des Klimas, haben in der heutigen Welt „überwiegend die handlungstheoretische Charakteristik von Nebenfolgen“.5Hermann Lübbe, Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, Münster 2019, Seite 81. Damit ist nicht gemeint, dass es sich um unwichtige oder vernachlässigbare Phänomene handelt, sondern dass dieselben nicht bewusst herbeigeführt wurden; vielmehr treten sie typischerweise als unbeabsichtigte Konsequenz der Verfolgung anderer, häufig allgemein akzeptierter Ziele auf. Die Chinesen bauen keine Kohlekraftwerke, um den Gehalt der Atmosphäre an Treibhausgasen zu erhöhen, sondern um ihre Wirtschaft verlässlich und günstig mit Energie zu versorgen und um so Hunderte von Millionen von Menschen aus der Armut zu befreien und ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen. Und der deutsche Autofahrer nutzt einen Diesel-PKW nicht, um Feinstaub und CO2 in die Luft zu blasen, sondern weil dieser sein Mobilitätsbedürfnis am besten befriedigt, ihm also den besten Kompromiss aus Anschaffungskosten, Unterhaltskosten, Reichweite, Fahrleistung und Komfort bietet. Eine solche Sicht der Dinge würde vielleicht die Klimaaktivisten dazu bringen anzuerkennen, dass auch sie selbst vom zivilisatorischen Fortschritt profitieren, der durch die Verfolgung des eigentlichen Ziels der Wirtschaftspolitik der westlichen Industrieländer, nämlich dem der Steigerung der wirtschaftlichen Wohlfahrt, erreicht wurde – und dass deshalb für die „Nebenfolgen“ letztlich die gesamte Gesellschaft verantwortlich ist.

Sowohl im Sinn des gesellschaftlichen Friedens als auch der Erarbeitung von Lösungen zur Bewältigung der „Nebenfolgen“ ist es wenig zielführend, mit moralischen Anklagen und mit Schuldzuweisungen zu arbeiten. Stattdessen ist es notwendig, die Komplexität der modernen, arbeitsteiligen und ausdifferenzierten Gesellschaft sowie die vielfältigen Interdependenzen zwischen dieser und ihrer natürlichen Umwelt anzuerkennen. Das mag zwar anstrengender und emotional weniger befriedigend sein, als die Welt in „Böse“ und „Gute“ einzuteilen, ist aber die Grundvoraussetzung für eine rationale Lösung des Klimaproblems und anderer komplexer Probleme.

2.2 Argumentation ad hominem

Zweitens ist ein Kennzeichen des politischen Moralismus „die rhetorische Praxis des Umschaltens vom Argument gegen Ansichten und Absichten des Gegners auf das Argument der Bezweiflung seiner moralischen Integrität; statt der Meinung des Gegners zu widersprechen, drückt man Empörung darüber aus, dass er sich gestattet, eine solche Meinung zu haben und zu äußern“.6Hermann Lübbe, Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, Münster 2019, Seite 120. Wenn man die Ursache der Klimakrise in einer „klimaschädlichen“ Gesinnung sieht, dann ist es mehr als naheliegend, die moralische Integrität und den guten Willen der so Gesinnten zu bezweifeln. Deshalb verdienen es deren Ansichten und Argumente nicht, angehört und diskutiert zu werden, sondern diese müssen unterdrückt und unschädlich gemacht werden, damit nicht Gutgesinnte zum Zweifeln gebracht und Unsichere auf Abwege geführt werden.

Es ist daher gängige Praxis, dass kritische Stimmen zur Energie- und Klimapolitik nicht angehört, sondern mit Vorwürfen zum Schweigen gebracht werden sollen, die von „Totengräber der Energiewende“ über „Klimawandelleugner“ oder gar „Klimaleugner“ – eine in letzter Zeit beliebte, aber an Unsinnigkeit kaum zu überbietende Bezeichnung – bis hin zu „Klimaverbrecher“ reichen. Gemeinsam ist allen diesen Totschlag„argumenten“, dass sie die moralische Gesinnung der Kritiker höchstpersönlich in Abrede stellen bzw. dieselben von vornherein grundlegend diskreditieren und so keine sachliche Auseinandersetzung zulassen. Nicht die argumentative Entgegnung in der klimapolitischen Diskussion wird beabsichtigt, sondern die Diskreditierung und moralische Entwertung der Person des Gegenübers. Für diese ist diese Stigmatisierung meist nur schwer behebbar und bedeutet womöglich ihr gesellschaftliches Aus, mit der Folge, dass sie ad personam an keiner öffentlichen Diskussion mehr teilnehmen kann.

Auf diese Weise wird mittels Emotionalisierung, Moralisierung und „Personalisierung“ der öffentlichen Debatte eine vernünftige und sachliche Diskussion unmöglich gemacht. Gegenstand einer solchen müsste einerseits die Notwendigkeit bzw. Sinnhaftigkeit klima- und energiepolitischer Ziele, andererseits die Auswahl der zur Erreichung dieser Ziele geeigneten Instrumente sein. Die hierbei maßgeblichen Kriterien wären die Effektivität und die Effizienz der Energie- und Klimapolitik in Bezug auf das eigentliche Ziel derselben, das doch unbestreitbar in der weltweiten Verringerung der Treibhausgasemissionen liegt. Da die aktuelle Politik aber diesen Kriterien ganz offensichtlich nicht genügt (vgl. Teil 3), sind deren Vertreter an einer offenen und kritischen Diskussion letztlich gar nicht interessiert. Dies gilt insbesondere für die Grünen als die „moralischste aller Parteien in Deutschland“.7Boris Palmer, Erst die Fakten, dann die Moral. Warum Politik mit der Wirklichkeit beginnen muss, München 2019, Seite 18. Da gerade sie ihr politisches Selbstverständnis mit der gegenwärtigen, moralisierenden Klima- und Energiepolitik existenziell verbinden, werden sie am wenigsten eine kritische und rational geführte Diskussion über Ziele und Instrumente der Klimapolitik zuzulassen bereit sein.

Man könnte hier von einem Teufelskreis zwischen der Art der Politik und der Art der Politikdiskussion sprechen: Einerseits trägt eine moralisierende Debatte zu einer irrationalen Politik bei; andererseits befördern die Vertreter und Nutznießer dieser Politik die Moralisierung der öffentlichen Diskussion nach besten Kräften.

Zu einem wesentlichen Teil mitverantwortlich für die Art und Weise, wie in Deutschland über die Energie- und Klimapolitik diskutiert wird, ist die Berichterstattung in den Medien. Denn diese beschäftigt sich häufig weniger mit der Aufarbeitung und Darstellung des komplexen Sachzusammenhangs und aktueller Forschungsergebnisse, sondern konzentriert sich vor allem auf die Skandalisierung der Folgen der Erderwärmung und auf die emotionale bzw. emphatische Darstellung von Einzelschicksalen („Emotionalisierungsstrategie“). In Deutschland sehen sich die Journalisten verpflichtet, vor allem über die Risiken des Klimawandels zu berichten und dabei die bestehenden Unsicherheiten bezüglich der Forschungsergebnisse – aus hehren Klimaschutzmotiven („noble cause corruption“) – eher zu verschweigen. Knapp zwei Drittel der im Jahr 2014 befragten Journalisten geben an, mit ihrer Berichterstattung die Notwendigkeit ökologischer Reformen in Politik und Wirtschaft hervorheben zu wollen.8Axel Bojanowski, Journalisten im Klimakrieg. Aus Politik und Zeitgeschichte, Jg. 69 (2019), (47–48), Seiten 35–38.

Journalisten geben damit ihre investigative Funktion und ihre fachlich-unabhängige Position auf und machen sich selbst zu verlängerten Sprachrohren der Politik und betreiben vor allem affirmative kritiklose Politikbeschreibung und einseitige Krisenrhetorik.9Denis Gräf / Martin Henig, Die Verengung der Welt. Zur medialen Konstruktion Deutschlands unter Covid-19 anhand der Formate ARD Extra – die Coronalage und ZDF Spezial, 2019; https://www.researchgate.net/publication/343736403_Die_Verengung_der_Welt_Zur_medialen_Konstruktion_Deutschlands_unter_Covid-19_anhand_der_Formate_ARD_Extra_-Die_Coronalage_und_ZDF_Spezial/link/5f3cd755299bf13404cee520/download. Die Klimadebatte in Deutschland ist daher weniger geprägt von fundiert recherchierten Fakten und ausgewogener Berichterstattung, als vielmehr von der politisch-wohlmeinenden Gesinnung der Journalisten und der Moralisierung der Berichterstattung. Statt investigativem Journalismus sehen wir einen (vermeintlich) wohlmeinenden „Haltungs- bzw. Gesinnungsjournalismus“ mit einer eklatanten politischen Unausgewogenheit.10Gewisse Zweifel an der selbstproklamierten „Ausgewogenheit“ der journalistischen Berichterstattung in den öffentlich-rechtlichen Medien lassen sich nicht vermeiden, wenn man bedenkt, dass ca. 92 Prozent der Volontäre bei der ARD sich politisch selbst dem grün-rot-roten Spektrum zurechnen; vgl. Lynn Kraemer et al., Wie divers ist der ARD-Nachwuchs? Journalist online, 4.11.2020; https://www.journalist.de/startseite/detail/article/wie-divers-ist-der-ard-nachwuchs.

2.3 Selbstermächtigung zum Regelverstoß

Drittens impliziert der politische Moralismus „die Selbstermächtigung zum Verstoß gegen die Regeln des gemeinen Rechts und des moralischen Common sense unter Berufung auf das höhere Recht der eigenen, nach ideologischen Maßgaben besseren Sache“.11Hermann Lübbe, Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, Münster 2019, Seite 120. Ideologien lassen sich vereinfacht durch Eindimensionalität in der Zielsetzung und Kompromisslosigkeit in den politischen Maßnahmen charakterisieren. Insofern ist die aktuelle Klimapolitik stark ideologiegeprägt, da der Klimaschutz in der gesellschaftlichen Diskussion heutzutage zur alles entscheidenden „Überlebensfrage der Menschheit“12Franz Alt, Lust auf Zukunft. Wie unsere Gesellschaft die Wende schaffen wird, Gütersloh 2018, Seite 82. stilisiert wird und von vielen als das höchste, wichtigste und dringlichste gesellschaftliche Ziel betrachtet wird, dem sich alle anderen Ziele, wenn sie denn in diesem Zusammenhang überhaupt noch der Erwähnung für würdig befunden werden, unterzuordnen haben.

Kompromisse mit anderen gesellschaftlichen Zielen müssen und dürfen bei einer Verabsolutierung des Klimaziels nicht gemacht werden. Und natürlich sind alle Mittel und Instrumente recht und billig, um dieses Ziel zu erreichen – seien es etwa Schulstreiks, Beeinträchtigungen der öffentlichen Ordnung oder Verstöße gegen bestehendes Recht. Mit dem Narrativ vom unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang („Es ist klimapolitisch fünf vor zwölf!“ oder „Das Treibhausgasrestbudget reicht nur noch für fünf Jahre!“) werden gesellschaftlich Angst und Panik geschürt und die extreme Dringlichkeit der Klimakrise vor Augen geführt, damit die in dieser Ideologie für richtig erachteten klimapolitischen Maßnahmen unverzüglich – auch unter bewusster Verletzung demokratischer Prinzipien (zum Beispiel die Einbindung des Parlaments bei Richtungsentscheidungen), gezielter Umgehung bzw. Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien (zum Beispiel Freiheitsrechte, Eigentumsschutz) und unter Auslassung einer rationalen Güterabwägung – durchgesetzt werden. Es ist daher nicht verwunderlich, dass so manche Klimademonstranten in einigen Fällen ganz offensichtlich mit stark moralbesetzter klimapolitischer Selbstjustiz die bundesrepublikanische Rechtsordnung mit Füßen treten (zum Beispiel die Ereignisse um die Rodung des Hambacher Forstes, die Klimastreiks in Berlin oder die Aktivitäten der radikalen Gruppe „Extinction Rebellion“).13Vgl. zum Beispiel Siegfried Franke, Zur Aushöhlung des Rechtsstaates, Marburg 2020, Seiten 116 f., sowie Hans-Jürgen Papier, Die Warnung. Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird, 3. Auflage, München 2019, Seiten 105 ff.

„Eine solche Haltung ist (…) von einem hohen Maß an Arroganz und Selbstüberschätzung gekennzeichnet; Menschen verkennen schnell, dass ihre eigenen subjektiven Moralvorstellungen kein Allgemeingut sind. In der rechtsstaatlichen Demokratie ist es der durch Volkswahlen legitimierte Gesetzgeber, der den Auftrag zur Bestimmung und zur Konkretisierung dessen hat, was das Wohl des Gemeinwesens ist und was der Allgemeinheit am meisten nützt“, so der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2019.14Hans-Jürgen Papier, Die Warnung. Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird, 3. Auflage, München 2019, Seite 107. Das Bewusstsein für die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit und für die Notwendigkeit der Einhaltung von Recht und Gesetz ist nicht nur bei den Klimaaktivisten schwach ausgeprägt, sondern auch – erschreckenderweise – bei den Vertretern von politischen Parteien und der Regierung. So hat es Bundeskanzlerin Angela Merkel beim überhasteten Atomausstieg mit dem deutschen Recht (insbesondere dem grundgesetzlich garantierten Eigentumsrecht und der Handlungsfreiheit) nicht so ganz ernst genommen, was nicht zuletzt durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2016 zu den Entschädigungszahlungen an die Energieversorgungsunternehmen deutlich geworden ist. 2020 musste das Bundesverfassungsgericht Bundesumweltministerin Svenja Schulze ermahnen, die im Jahr 2018 von der Bundesregierung beschlossenen Entschädigungsregelungen für die Stromversorger Vattenfall und RWE verfassungskonform neu zu regeln.15 Ohne Verfasser, Schulze: Entschädigung für Atomausstieg ›zügig‹ neu regeln. Die Welt online, 12.11.2020; https://www.welt.de/regionales/hamburg/article219952390/Schulze-Entschaedigung-fuer-Atomausstieg-zuegig-neu-regeln.html.

Der Umgang der Bundesregierung mit dem Atomausstieg scheint nur ein Symptom einer zunehmend nonchalanten Einstellung vieler Politiker zum Prinzip der Rechtsstaatlichkeit zu sein. So hat sich etwa die Bundeskanzlerin 2018 dahingehend geäußert, dass die Bundesregierung Recht und Gesetz „wo immer das notwendig ist“ (!) einhalten wolle – eine Äußerung, die Bände spricht.16Zitiert nach Siegfried Franke, Zur Aushöhlung des Rechtsstaates, Marburg 2020, Seite 38. Es ist alarmierend, dass der Bruch grund- und einfachgesetzlicher Rechtspositionen durch die Bundesregierung und die Geringschätzung des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit durch die Bundeskanzlerin nur wenig Beachtung in der Öffentlichkeit hervorgerufen hat. Im Gegenteil: Es hat der Beliebtheit von Bundeskanzlerin Merkel und ihrer Politik in weiten Teilen der Bevölkerung kaum geschadet. Das klimapolitische Ziel moralisch stets vor Augen scheint es, dass sich die politischen Vertreter nicht um die Beachtung des Rechtsstaates kümmern müssen, sondern dieser – fast schon als lästig anzusehenden – Pflicht entrückt sind.

Offensichtlich hat die Strategie der moralisierenden Selbstlegitimation gut gewirkt. Eine solche ist aus zwei Gründen gerade im Fall der aktuellen Klima- und Energiepolitik nachgerade notwendig: Einerseits steigt angesichts der großen Ineffizienzen und der Ineffektivität der Klimapolitik das Erfordernis, die Klimapolitik mit moralischen Argumenten zu legitimieren, denn andere bleiben kaum noch übrig (vgl. Teil 3). Die Bundesregierung hatte daher schon früh zur Umsetzung der Energiewende eine „Ethikkommission“ unter der Leitung des früheren Umweltministers Klaus Töpfer eingesetzt, deren Zweck darin bestand, die Energiewendepolitik unangreifbar zu machen, Kritiker zu diskreditieren und sie als „unethisch“ erscheinen zu lassen und vom öffentlichen Diskurs auszuschließen.17Vgl. Roland Tichy, Lyssenko oder Apollo? Die ideologisch-planwirtschaftliche Technologiepolitik der Kanzlerin, in: Philip Plickert (Hrsg.), Merkel – Eine kritische Bilanz, 6. Auflage, München 2017, Seiten 129–139. Die von der Bundeskanzlerin verwendete politische Rhetorik der Alternativlosigkeit führt auch die starke moralische Fundierung bzw. Selbstlegitimation vor Augen, die keine Alternativen und keine Kompromisse und erst recht keine gesellschaftliche Diskussion mit einer rationalen Kosten-Nutzen-Abwägung zulässt.

Andererseits muss, je mehr in der politischen Praxis gegen elementare Regeln unserer Rechtstradition verstoßen wird, je mehr also der Selbstrechtfertigungsbedarf der Politik wächst, die moralische Reflexion umso intensiver werden, welche unter Berufung auf das höherrangige Recht einer ideologisch fortgeschrittenen Wirklichkeitsorientierung eben jene Verstöße gleichsam legitimiert. In Mitleidenschaft gezogen wird dabei nicht die moralisierende Reflexionsfähigkeit, sondern die Vernunft und Urteilskraft, die jeden Menschen aufgrund eigener Erfahrung und traditionell gefestigtem politischem Wirklichkeitssinn gemeinsinnfähig urteilen lässt, was erlaubt ist und was nicht.18Vgl. Hermann Lübbe, Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, Münster 2019, Seiten 16 f. Und wenn Vernunft und Urteilskraft auf der Strecke bleiben, besteht keine Aussicht mehr auf eine Argumentation auf der Grundlage sachlicher Überlegungen und auf vernünftige, sachorientierte Politik.

Zur „regierungsamtlichen“ Selbstlegitimation gibt es ein „zivilgesellschaftliches“ Pendant: Die Regel- und Gesetzesverstöße bei der Propagierung des Klimaschutzes werden beispielsweise von vielen „Fridays for Future“-Anhängern durch persönliche Verzichtshandlungen und (temporär) hingenommene Verhaltensbeschränkungen gerechtfertigt: vegetarische oder vegane Ernährung, Radfahren, freiwilliger Konsumverzicht – und überhaupt: selbstgewähltes umweltfreundliches Verhalten im persönlichen Nahbereich. Allerdings geht vor allem bei der jüngeren Generation das tatsächliche klimapolitische Engagement über reine Bekundungen und ostentative Handlungen meist nur wenig hinaus. Von einer veränderten Sichtweise zu einer tatsächlichen Änderung der Lebensweise ist noch ein weiter Weg.19Vgl. Horst Opaschowski, Ist der Wohlstand gefährdet, sinkt das Interesse an Umweltfragen, in: Wohlstand für Alle – Klimaschutz und Marktwirtschaft, hrsg. von Ludwig-Erhard-Stiftung, Bonn 2020, Seite 39, online hier. Selbst wenn es zu einer solchen kommen sollte, ist zu bezweifeln, ob sich auf diese Weise überhaupt ein nennenswerter Beitrag zum Klimaschutz leisten lässt.20 Vgl. Björn Lomborg, False Alarm, New York 2020, Seiten 89–100.

Auch hier können wir einen sich selbst verstärkenden Prozess beobachten: Die moralisierende Selbstlegitimierung der Aktivisten befördert die der Politiker – und vice versa. In der Folge werden demokratische Prozesse und rechtsstaatliche Prinzipien durch eine höhere Moral so zurückgedrängt bzw. außer Kraft gesetzt, dass die abstrakte Herrschaft des Rechts zunehmend durch die konkrete Herrschaft der Moral ersetzt wird. Nicht ohne Grund warnen Kritiker wie Siegfried Franke21Vgl. Siegfried Franke, Zur Aushöhlung des Rechtsstaates, Marburg 2020. oder Hans-Jürgen Papier22Hans-Jürgen Papier, Die Warnung. Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird, 3. Auflage, München 2019. vor einer Aushöhlung des Rechtsstaats.

2.4 Moralische Appelle und Symbolpolitik

Der politische Moralismus beinhaltet viertens „das appellative Bemühen, die Verbesserung gesellschaftlicher Zustände über die Verbesserung moralischer Binnenlagen, durch pädagogische und sonstige Stimulierung guter Gesinnung zu erwarten statt von einer Verbesserung rechtlicher und ordnungspolitischer Institutionen in der Absicht, uns zu bewegen, auch aus Eigeninteresse zu tun, was das Gemeinwohl erfordert“.23Vgl. Hermann Lübbe, Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, Münster 2019, Seite 121. Wenn die Klimakrise auf die „schlechte“ oder fehlende Moral von großen Teilen der Bevölkerung zurückgeführt wird (vgl. Teil 2.1), dann muss man natürlich versuchen, diese Moral zu heben und eine „gute“ Gesinnung zu bewirken. Von vielen Klimaaktivisten, aber auch von Politikern und Kirchenvertretern, hört man deshalb eindringliche Appelle, „zur Vernunft zu kommen“, „umzukehren“ und „die Schöpfung zu bewahren“. Allein, diese Appelle fruchten sehr wenig – was bei einem Problem, welches aus ökonomischer Sicht durch einen globalen negativen externen Effekt verursacht wird, auch nicht anders zu erwarten ist. Und dies liegt nicht an mangelnder Rationalität oder am bösen Willen der Adressaten dieser Appelle (vgl. Teil 3).

Was tut der politische Moralist aber, wenn seine Appelle nutzlos verhallen? Wenn die Menschen nicht freiwillig ihr Verhalten ändern, dann muss man sie eben mit Geboten und Verboten dazu zwingen. Wie ist dabei vorzugehen? Da die Gutgesinnten und moralisch Hochstehenden sich per definitionem gut und moralisch verhalten, stellt deren Verhalten den Maßstab dafür dar, was gutes und richtiges Verhalten ist – vollkommen unabhängig davon, ob dieses Verhalten tatsächlich die gewünschten Folgen zeitigt und welche Konsequenzen damit verbunden sind. Denn vom Standpunkt des politischen Moralismus überträgt sich die Qualität des Handelnden zwangsläufig auf die Qualität der Handlungen. Gutgesinnte handeln immer gut und Schlechtgesinnte handeln immer schlecht. Gutgesinnte fahren Rad oder Elektroauto, verwenden Energiesparleuchten, leben vegetarisch oder vegan und installieren Photovoltaikanlagen auf den Dächern ihrer Häuser.

Allen anderen, die dies nicht freiwillig und aus besserer Einsicht tun, muss dieses Verhalten auf die eine oder andere Weise vorgeschrieben werden: Autos mit Verbrennungsmotor werden einerseits durch die massive Subventionierung der Elektromobilität, andererseits durch immer restriktivere Emissionsvorgaben und sogar Fahrverbote „ausgebremst“; Glühlampen werden verboten; es gibt Vorschläge, den Fleischkonsum durch Sondersteuern oder verpflichtende „Veggie-Days“ zu reduzieren; Photovoltaikanlagen werden nicht nur stark subventioniert, sondern in Kürze den Bauherren sogar vorgeschrieben. Auf diese Weise erreicht man ein „gutes“ Verhalten auch bei den „Bösen“, erreicht also, dass diese sich so verhalten, als ob sie „gut“ wären – und stimuliert so indirekt eine gute Gesinnung. Vielleicht sehen die so Gemaßregelten ja irgendwann ein, dass dies alles zu ihrem eigenen Besten und zu dem der ganzen Menschheit ist und ändern im Lauf der Zeit ihre Gesinnung. Angesichts solch hehrer Ziele spielen dann solche Petitessen wie Recht und Gesetz oder Rechtsstaatlichkeit keine große Rolle mehr.

Für eine nüchterne und sachliche Abwägung von Handlungsalternativen bleibt hier kein Raum. Kohle- und Kernenergie haben nicht jeweils Vor- und Nachteile, die es abzuwägen gilt, sondern sind Teufelswerk und müssen baldmöglichst abgeschafft werden. Und Photovoltaikanlagen und Windräder dürfen hinsichtlich ihrer Kosten und Nutzen nicht mit anderen Arten der Energieerzeugung verglichen werden, sondern stellen den energie- und klimapolitischen Heilsweg dar, an dem kein Zweifel erlaubt ist. Allerdings erweisen sich viele energie- und klimapolitischen Vorhaben als reines Wunschdenken und als Illusion, wenn sie mit den harten Tatsachen der ökonomischen und naturwissenschaftlichen Realität konfrontiert werden. Nicht ohne Grund spricht der Physiker André Thess in diesem Zusammenhang von „Energiewendemärchen“.24André Thess, Sieben Energiewendemärchen. Eine Vorlesungsreihe für Unzufriedene, Berlin 2020. So klafft eine enorme Anspruchslücke zwischen dem politischen Versprechen eines wirksamen Klimaschutzes (und insbesondere der Klimaneutralität bis 2050) auf der einen Seite und den bisherigen Erfolgen der Klimapolitik auf der anderen Seite.

Auf allen Ebenen – von den Bundesländern über den Bund bis zur EU – formulieren Politiker mittlerweile immer ambitioniertere und fast schon utopische Ziele, bei denen höchst fraglich ist, wie diese realistischer Weise jemals erfüllt werden können. Daher bemühen sich Politiker um kleine sichtbare Schritte bzw. Fortschritte, um damit zu zeigen, dass es ja – zumindest ein wenig – in die richtige Richtung geht.25Vgl. Knut Kübler, Zu den Wirkungen des Klimaschutzprogramms 2030 – Eine picoökonomische Analyse, Energiewirtschaftliche Tagesfragen Jg. 70, Heft 3, 2020, Seiten 36–41. In der aktuellen Klima- und Energiepolitik findet man zahlreiche Belege für diese politische Inszenierungsstrategie: immer mehr Personal in den einschlägigen Behörden, mehr Gesetze und Verordnungen, zusätzliche Gremien und Abstimmungsrunden (zum Beispiel das „Klimakabinett“ der Bundesregierung und diverse Klimaräte), ein umfassendes jährliches Monitoringwesen sowie mehr Öffentlichkeitsarbeit und Kampagnen. Auch die starke Fokussierung von Politik und Öffentlichkeit auf den Stromsektor dient der politischen Selbstinszenierung und Selbstbestätigung. Denn hier erreicht der Anteil erneuerbarer Energien mittlerweile (angeblich!) fast 50 Prozent, was als vorzeigbarer Erfolg lautstark bejubelt wird und die eigenen Bemühungen zu bestätigen scheint.

Wenn Politiker ihre gute Gesinnung solchermaßen selbst stimuliert haben, können sie „moralisch gestärkt“ mit teurer klimapolitischer Symbolpolitik fortfahren und weiter nur an den Symptomen herumkurieren. Diese moralzentrierte Sichtweise vernachlässigt die hohen gesellschaftlichen Kosten und Ineffizienzen dieser Klima- und Energiepolitik und vernebelt damit auch die Sicht auf die sinnvolle Gestaltung des ordnungsrechtlichen Rahmens und die Setzung geeigneter ökonomischer Anreize (vgl. Teil 3). Aber eine solche indirekte Politik über Anreize – wie sie insbesondere eine allgemeine CO2-Steuer darstellen würde – kommt für politische Moralisten ohnehin nicht infrage. Aus zwei Gründen kann es für sie nur eine direkte Verhaltenssteuerung über Gebote und Verbote geben. Erstens würde eine Anreizpolitik ihrem dualistischen Gut-Böse-Weltbild widersprechen, da ja beispielsweise eine allgemeine CO2-Steuer grundsätzlich alle Menschen betreffen und insofern kein Unterschied gemacht werden würde zwischen den „Guten“ und den „Bösen“. Zweitens wären dann „unmoralische“ Handlungen weiterhin prinzipiell erlaubt: Man könnte weiterhin PS-starke Autos mit Verbrennungsmotor fahren, könnte weiterhin Elektrizität mit Gas- oder Kohlekraftwerken erzeugen und könnte weiterhin sein Eigenheim mit Öl beheizen. Diese sündhaften Aktivitäten wären nicht verboten, sondern würden „nur“ verteuert werden. Ja mehr noch, es bestünde sogar die Gefahr, dass sich „gute“ Technologien, wie die Elektromobilität oder die Photovoltaik, nicht durchsetzen, sondern sich als das erweisen würden, was sie sind: wirtschafts-, energie- und klimapolitische Irrwege.

Dies ist für politische Moralisten natürlich vollkommen inakzeptabel. Deshalb lenken weiterhin viele Politiker und Aktivisten mit moralischer Selbstbestätigung erfolgreich von der Notwendigkeit und der Sinnhaftigkeit einer global ausgerichteten rationalen Klimapolitik ab und dürfen sich darin durch die überwiegend affirmative Haltung der (öffentlich-rechtlichen) Medien mit ihrer „Verengung der Welt“ noch bestätigt fühlen (vgl. Teil 2.2).

3 Die moralisierende Energie- und Klimapolitik – ineffektiv und ineffizient

Das Klimaproblem lässt sich aus ökonomischer Sicht als globaler negativer externer Effekt auffassen.26Vgl. zum Folgenden vor allem Rupert Pritzl/Fritz Söllner, Rationale Klimapolitik – ökonomische Anforderungen und politische Hindernisse, erscheint demnächst im List Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik. Jede Emission von Treibhausgasen, unter denen CO2 die größte Rolle spielt, erhöht die Konzentration dieser Gase in der Atmosphäre und trägt so zur Destabilisierung des Klimas bei. Dieser Effekt ist extern in Bezug auf das Marktsystem, weil der Emittent dafür keinen Preis bezahlen muss; er ist negativ, da die Klimadestabilisierung zu Nutzeneinbußen und Kostensteigerungen führen wird; er ist global, da es keine Rolle spielt, wer wo wie viel emittiert, sondern die Höhe der weltweiten Gesamtemission entscheidend ist. Dieser externe Effekt kann internalisiert werden, indem die Emissionen von Treibhausgasen bepreist werden (durch eine Emissionssteuer oder ein Emissionsrechtehandelssystem) und so ein ökonomischer Anreiz zu deren Vermeidung geschaffen wird. Ein solcher Preis führt dazu, dass Prozesse und Güter im Verhältnis ihrer Emissionsintensität verteuert werden und deshalb versucht wird, neue, klimafreundlichere und damit kostengünstigere Technologien einzuführen. Der Preis schafft einen Anreiz für Unternehmer und Konsumenten, nach den günstigsten Vermeidungsmöglichkeiten zu suchen.

Vollkommen sinnlos sind dagegen Appelle zu Verhaltensänderungen, da es für die so angesprochenen Individuen nicht rational wäre, dieselben zu befolgen. Der Nutzen emissionsverursachender Aktivitäten kommt vollständig dem Emittenten zugute, aber die dadurch verursachten Schäden betreffen die gesamte Weltbevölkerung, also nur zu einem infinitesimalen Teil ihn selbst, sodass es aus individueller Sicht keinen Anlass gibt, das Verhalten zu ändern: Eine individuelle Emissionsreduktion würde den Nutzen des betreffenden Emittenten spürbar schmälern, aber praktisch keinen Beitrag zur Klimastabilisierung leisten. Es existiert hier ein Konflikt zwischen individueller Rationalität (eine individuelle Verhaltensänderung wäre irrational) und kollektiver Rationalität (eine Einschränkung der Gesamtemissionen ist sinnvoll und notwendig), wie er für externe Effekte typisch ist. Dieser Konflikt lässt sich nicht durch Appelle, sondern nur durch eine Anpassung der Rahmenbedingungen des individuellen Handelns beseitigen, also durch die Schaffung entsprechender ökonomischer Anreize. Denn die Verursacher des externen Effektes werden nur dann alle Kosten ihrer Aktivitäten bei ihren individuellen Entscheidungen berücksichtigen, wenn sie diese auch tragen müssen.

Diese Anreize müssen auf globaler Ebene und einheitlich gesetzt werden, da die Klimapolitik nur dann effektiv und effizient ist, wenn alle Emittenten aller Branchen und Wirtschaftssektoren in allen Ländern denselben Anreizen unterliegen. Nicht zielführend ist dagegen, was in Deutschland und in der EU gerade geschieht, dass sich nämlich einzelne Länder bzw. Ländergruppen Emissionsreduktionsziele setzen. Schaut man sich die Zahlen zu den weltweiten Treibhausgasemissionen an, so wird schnell klar, dass die EU oder gar Deutschland allein bei Weitem nicht in der Lage sind, für eine spürbare Reduktion der Gesamtemissionen und damit für eine Stabilisierung des Weltklimas zu sorgen. Im Jahr 2017 betrug laut Bundesministerium für Umwelt der Anteil der EU (ohne Deutschland) an den weltweiten Treibhausgasemissionen lediglich 7,3 Prozent (Deutschland hat einen Anteil von 1,9 Prozent). Zum Vergleich dazu betrug der Anteil der USA 13,7 Prozent und der von China 27,3 Prozent. Angesichts der absoluten Zunahme an Treibhausgasemissionen in China und Indien sinkt der Anteil der EU und Deutschlands Jahr für Jahr.27Vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit. Klimaschutz in Zahlen. Fakten, Trends und Impulse deutscher Klimapolitik, Berlin 2020, Seite 12.

Ob die EU oder Deutschland sich ambitioniertere Emissionsziele setzen und diese – im günstigsten Fall – auch erreichen, wird auf globaler Ebene also kaum ausreichen, den gegenwärtigen Trend der Erwärmung zu stoppen oder gar umzukehren. Deshalb wäre es besser, in Abwesenheit einer international koordinierten Klimaschutzpolitik knappe Ressourcen in die Adaption an den Klimawandel zu investieren (zum Beispiel in die Verstärkung der Nordseedeiche oder den Waldumbau), anstatt diese für wirkungslose Emissionsreduktionsanstrengungen zu verschwenden.28Das Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 stellt keine solche international koordinierte Klimaschutzpolitik dar, sondern ein unkoordiniertes Sammelsurium weitgehend unverbindlicher nationaler Aktionspläne. Die deutsche Klimapolitik ist schon aus diesem Grund ineffektiv und damit nicht rational. Hinzukommt, dass die Anstrengungen zur Emissionsreduktion, die Deutschland schon unternimmt und noch vorhat (abgesehen davon, dass sie so gut wie keine Auswirkungen auf das Klima haben bzw. haben werden), ineffizient sind, also höhere volkswirtschaftliche Kosten als nötig verursachen.

Aus umweltökonomischer Sicht ist ganz klar ein einheitlicher Preis für den Ausstoß von Treibhausgasen notwendig, der entweder direkt durch eine Emissionssteuer oder indirekt durch ein Emissionszertifikatssystem eingeführt werden könnte. Im ersten Fall würde der Steuersatz festgelegt und die Emissionsmenge würde sich gemäß den Reaktionen der Emittenten ergeben; im zweiten Fall würde die Zertifikats- bzw. Emissionsmenge bestimmt und der Zertifikatspreis würde sich durch Angebot und Nachfrage am Markt bilden („cap and trade“). Entscheidend ist, dass in beiden Fällen einheitlich vorgegangen wird, das heißt dass alle Emittenten in gleichem Maße belastet werden. Nur so können die Treibhausgasemissionen effektiv und effizient, also zu den geringstmöglichen Kosten reduziert werden. Denn auf diese Weise würden die Kosten des Klimawandels den Verursachern angerechnet, und diese hätten einen Anreiz, die Treibhausgasemissionen zu senken. Dabei würden die Emittenten ihre Emissionen umso stärker reduzieren, je niedriger ihre Reduktionskosten sind, sodass insgesamt die Emissionsreduktion zu den geringstmöglichen Kosten erfolgen würde.

Im Gegensatz dazu ist die Klimapolitik in Deutschland – nach Meinung des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung29Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Aufbruch zu einer neuen Klimapolitik, Sondergutachten, Berlin 2019. und des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium30Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, Energiepreise und effiziente Klimapolitik, Berlin 2019. – kleinteilig, ineffizient und leistet (fast) keinen Beitrag zur klimapolitisch erwünschten Verringerung der Treibhausgasemissionen. Dies gilt vor allem für das im Jahr 2000 eingeführte Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), das den Ausbau erneuerbarer Energien bei der Stromerzeugung fördert. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit31Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, Zur Förderung erneuerbarer Energien, Berlin 2004. hatte schon im Jahr 2004 darauf hingewiesen, dass die direkte Förderung erneuerbarer Energien durch das EEG innerhalb des übergreifenden EU-Emissionshandelssystems (EU-ETS) keinen Beitrag zur Verringerung der Treibhausgasemissionen erbringt, sondern nur zu einer Verlagerung in andere Länder führt. Und viele Experten fragen sich, wie wir mit regenerativen Energien und – auf absehbare Zeit – ohne ausreichende Stromspeicher die Versorgungssicherheit für den Industriestandort Deutschland in Zukunft gewährleisten können.

Der Kohleausstiegsbeschluss, die massive Förderung der Elektromobilität und das „Klimapaket 2030“ sind weitere Weichenstellungen der deutschen Klimapolitik, die diese Linie fortführen. Angesichts eines solchen Vorgehens überraschen enorme Ineffizienzen bei der Reduktion von CO2-Emissionen nicht. Bei einem Vergleich der durchschnittlich errechneten CO2-Vermeidungskosten (in Euro/t vermiedener CO2-Emissionen) kommt man je nach den getroffenen Annahmen zwar zu unterschiedlichen Aussagen, deren Grundtenor jedoch eindeutig ist: Die spezifischen CO2-Vermeidungskosten der Windenergie onshore belaufen sich demnach auf etwa 1.900 Euro und die der Photovoltaik auf etwa 1.874 Euro;32Initiative CO2-Abgabe, Energiesteuern klima- & sozialverträglich gestalten: Wirkungen und Verteilungseffekte des CO2-Abgabekonzepts auf Haushalte und Pendelnde, Freiburg 2019. für den Bereich der Elektromobilität sind die spezifischen Vermeidungskosten auf 1.100 bis 1.200 Euro/t zu veranschlagen.33 Joachim Weimann, Elektroautos und das Klima: die große Verwirrung, Wirtschaftsdienst Jg. 100, Heft 11, 2020, Seiten 890–895. Für den Kohleausstieg, dessen Gesamtkosten mindestens 100 Milliarden Euro betragen werden, lassen sich die Vermeidungskosten noch nicht genau beziffern, aber es deutet viel darauf hin, dass die Abschaltung moderner Kohlekraftwerke nicht die kostengünstigste Möglichkeit zur Reduktion von CO2-Emissionen darstellt.34Joachim Weimann, Der Ausstieg aus der Kohle: alternativlos oder verantwortungslos? Perspektiven der Wirtschaftspolitik 20(1), 2019, Seiten 14–22.

Wenn man diese hohen Vermeidungskosten dem derzeitigen Marktpreis im EU-ETS von etwa 25 Euro pro Tonne CO2-Emissionen gegenüberstellt, so ergibt sich ein Faktor von etwa 44 bis 76, um den die aufgeführten CO2-Vermeidungsmaßnahmen bzw. ‑technologien teurer sind als der EU-ETS-Preis. Es ist klar, dass wir mit diesen verschiedenen Maßnahmen bei Weitem nicht die kosteneffizientesten Maßnahmen ergriffen haben und genau das Gegenteil einer volkswirtschaftlich effizienten Klimapolitik betreiben. Hinzukommt, dass diese nicht nur ineffizient, sondern größtenteils auch ineffektiv ist: So lässt sich im Fall der Stromerzeugung auf europäischer Ebene, nämlich innerhalb des übergreifenden EU-ETS, keine Vermeidungswirkung erzielen – zumindest nicht ohne weitere Maßnahmen, die ihrerseits zusätzliche Kosten verursachen würden.35Es sind hier zwei Arten von Ineffektivität zu unterscheiden: Zum einen ist jede nur nationale bzw. nur europäische Politik deswegen ineffektiv, weil dadurch das Klima nicht beeinflusst werden kann. Zum anderen ist die deutsche Politik in den genannten Fällen außerdem deswegen ineffektiv, weil auf europäische Ebene die Emissionen nicht reduziert werden können. Eine Besserung ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Im Rahmen des „Green Deal“ der EU soll die gegenwärtige, ineffektive und ineffiziente Klimapolitik weiter verfolgt und noch wesentlich intensiviert werden.36Vgl. Fritz Söllner, Der ›Green Deal‹ der EU: Ein umwelt- und wirtschaftspolitischer Irrweg, in: Wirtschaftliche Freiheit, 29.6.2020; http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?author=358.

Ursächlich für diese Misere ist nicht etwa mangelndes Wissen um eine bessere Klimapolitik, sondern die bewusste Verweigerung einer rationalen Analyse des Klimaproblems und seiner möglichen Lösungen zugunsten einer emotionalen, gesinnungsbasierten und vorurteilsbehafteten Politik – mit anderen Worten: ursächlich ist der politische Moralismus. Denn „[e]s passt nicht ins Weltbild des Moralisten, dass, was er der Moral anvertraut wissen möchte, sich durch Entmoralisierung ungleich wirksamer bewerkstelligen lässt, und just dieses Faktum empört den konsequenten Moralisten mehr, als ihn die pragmatische Erledigung von Problemen je zu erfreuen vermöchte“.37Hermann Lübbe, Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, Münster 2019, Seite 107. Angesichts immer weiterer moralpolitischer Tabus hinsichtlich von Zielen, Instrumenten und Technologien einerseits und der zunehmenden Komplexität und Bürokratisierung wichtiger Bereiche andererseits werden die tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten der Gesellschaft immer geringer. Dadurch verbauen wir uns in zunehmendem Maße die Chance, nachhaltige Problemlösungen für die Zukunft zu entwickeln und umzusetzen. 

4 Politischer Moralismus – und kein Ende in Sicht?

Der politische Moralismus beschränkt sich nicht auf die Energie- und Klimapolitik, sondern ist charakteristisch für die gesamte gegenwärtige Politik in Deutschland (und in anderen Ländern). Die typischen Merkmale einer moralisierenden Politik sind besonders auffällig in der Flüchtlings- und Migrationspolitik sowie – ganz aktuell – in der Corona-Politik. In beiden Fällen wird emotional argumentiert und auf der Grundlage von Gesinnung und Moral entschieden; eine rationale und vorurteilsfreie Diskussion findet nicht statt, sondern wird im Gegenteil durch Ausgrenzung und Diffamierung von Kritikern soweit als möglich unterdrückt – mit bereitwilliger Unterstützung der meisten Medien.

Natürlich ist der politische Moralismus kein Kind des 21. Jahrhunderts. Schließlich warnte Hermann Lübbe schon vor über 35 Jahren vor ihm. Damals waren es Probleme wie Waldsterben oder Nachrüstung, die mitunter sehr emotional diskutiert wurden. In der Politik haben Moral und Gesinnung schon immer eine wichtige Rolle gespielt, was insofern kein Problem sein muss, als Gesinnungsethik nicht mit Verantwortungslosigkeit identisch sein und die Gesinnung nicht blind gegenüber Konsequenzen machen muss.38Vgl. Max Weber, Geistige Arbeit als Beruf, Zweiter Vortrag: Politik als Beruf, München und Leipzig 1919, Seite 56. In der Tat dominierten Gesinnungsethik und Moral die Politik zu der Zeit, als Hermann Lübbe seinen Essay verfasste, noch nicht in dem Maße, wie dies heute der Fall ist. Vielmehr gaben die Verantwortungsethiker in den etablierten Parteien, der Regierung und in den meisten Medien den Ton an. Der gesinnungsethische Standpunkt wurde – cum grano salis – nur von einigen zivilgesellschaftlichen Gruppen und der damals neuen Partei der Grünen vertreten.

Im Lauf der Zeit haben sich aber die Verhältnisse umgekehrt und die gesinnungsethische Position hat gegenüber der verantwortungsethischen Position immer mehr an Gewicht gewonnen und diese als herrschende politische Philosophie abgelöst. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg war sicher die Einführung des Euro, die gegen den Willen der Bevölkerung und gegen die Ratschläge und ungeachtet der Warnungen praktisch aller Ökonomen durchgesetzt wurde – nur auf Grundlage einer europafreundlichen Gesinnung und reinen Wunschdenkens. Heute steht die Verantwortungsethik auf verlorenem Posten: Alle etablierten Parteien, die reichweitenstarken Medien und einflussreiche zivilgesellschaftliche Gruppen vertreten gesinnungsethische Positionen und bestärken sich gegenseitig in denselben. Angesichts dieses Kartells des politischen Moralismus kann sich die Stimme der Vernunft und der Verantwortung nicht nur nicht durchsetzen – sie kann sich nicht einmal Gehör verschaffen.

Die Gründe für den Siegeszug des politischen Moralismus wären eine ausführliche politökonomische Analyse wert. Eine solche können wir im Rahmen dieses Beitrags nicht leisten. Stattdessen wollen wir abschließend kurz überlegen, ob und unter welchen Umständen eine Rückkehr zu Vernunft und Verantwortung möglich ist. Das Hauptproblem scheint in der Beliebtheit – oder zumindest der Akzeptanz – des moralisierenden Politikstils bei den Wählern zu liegen. Solange sich diese weiter mit Prinzipien, Gesinnung und Moral abspeisen lassen, haben die Politiker keinen Anreiz, von ihrer gesinnungsethischen Strategie abzugehen – und haben Politiker, die die Verantwortungsethik vertreten, wenig Aussichten, in Amt und Würden zu gelangen. Nur wenn die Wähler eine offene und vorurteilsfreie Diskussion verlangen; nur wenn sie Wert auf verantwortungsvolle und kritische Vernunft und Urteilskraft legen; und nur wenn sie erkennen, dass es angesichts der komplexen gesellschaftlichen Ordnungszusammenhänge mehr um die Etablierung abstrakter Regeln als um die Herbeiführung konkreter Ergebnisse gehen muss: nur dann besteht die Aussicht, dass der politische Moralismus zurückgedrängt und in der Politik wieder ein angemessenes Verhältnis zwischen Gesinnung und Verantwortung, zwischen Moral und Vernunft, zwischen Idealismus und Realpolitik hergestellt wird.

Es ist zu hoffen, dass die Wähler und Bürger zu dieser Einsicht gelangen, ohne dass es dafür notwendig ist, dass die Kosten und Probleme des politischen Moralismus noch weiter überhandnehmen, als dies jetzt schon der Fall ist.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, herausgegeben von der Ludwig-Erhard-Stiftung, Bonn, ISSN 2366-021X

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