Einheitliche Geldpolitik in einem gemeinsamen Währungsraum ist keine leichte Übung. Gerade deshalb muss sie sich auch an ihren Risiken und Nebenwirkungen messen lassen. Mit der Vielzahl ihrer neuen, unkonventionellen Instrumente und ihrer aktivistischen Ausrichtung hat die Europäische Zentralbank die Grenzen der Geldpolitik allerdings zweifelsohne überschritten.

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat eine Niedrigzinsphase eingeläutet, um gegen eine ausgeprägte Wachstumsschwäche und eine sehr niedrige Inflation anzugehen. Sie ist damit einem weltweiten Trend gefolgt. Alle Industrieländer sind unmittelbar nach der Finanzkrise ähnlich vorgegangen. Es hätte große Verwerfungen produziert, sich in Europa völlig anders zu positionieren. Und sicher brauchte die Wirtschaftsentwicklung in manchen Phasen auch die stützende Hand der Geldpolitik. Aber es stellt sich doch die Frage, wie weit man das treiben kann und sollte.

Rein technisch ist diese Geldpolitik erstaunlich weit in bisher unbekanntes Gelände vorgedrungen. Negative (Nominal-)Zinsen hätten vor einigen Jahren fast alle Ökonomen, Politiker und Marktteilnehmer für schlicht unmöglich gehalten. Und es gab auch bisher nie einen Grund, dies zu empfehlen. Bei den Negativzinsen ist die EZB ein Vorreiter gewesen, zumindest unter den großen Notenbanken. Mit echten Negativzinsen hatten zuvor nur die Notenbanken kleiner Länder wie der Schweiz, Dänemark oder Schweden experimentiert. Aber das sind Länder, die Wechselkursziele verfolgen und ihre Währung gegen überbordenden Aufwertungsdruck verteidigen mussten. Ein vergleichbarer Aufwertungsdruck drohte dem Euro zu keinem Zeitpunkt.

Kurzfristig ist dies vielleicht ein Verdienst der Gemeinschaftswährung: Es ist in den Krisen der letzten Jahre nicht zu Wechselkursturbulenzen im Binnenmarkt gekommen. Dafür haben wir leider andere Krisen erlebt: Staatsschuldenkrise, Bankenkrise, Rezessionen und gesellschaftliche Unruhe durch breite Arbeitslosigkeit. Hier konnten die festen Wechselkurse im Euroraum dann wiederum kein Ventil bieten, um divergente Entwicklungen auszugleichen.

EZB als Wahrer der Währungsunion statt als Garant regulärer Geldpolitik

Inzwischen ist es Teil der Aktivitäten oder gar Hauptmotiv der EZB-Geldpolitik geworden, diese Spannungen und die daraus resultierenden Krisen zuzudecken.

Die EZB selbst hat über lange Zeit Deflationsgefahren als das entscheidende Motiv ihrer extremen Politik angeführt. Das ist aber ein wenig überzeugendes Argument. Die Inflationsraten verharren tatsächlich schon seit einigen Jahren nahe der Nulllinie – mal knapp darüber, mal knapp darunter. Aber eine schwache Preisentwicklung ist schlicht auch ein Zeichen der strukturbedingten Wirtschaftslage in den Krisenländern. Sie müssen ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen. Und der Großteil der gedrückten Preisentwicklung ist dem Ölpreis geschuldet. Dieser Effekt ist aber zeitlich endlich und könnte sich sogar umkehren. Deshalb kann selbst der Rückgriff auf vermeintlich massive Deflationsgefahren solch verzweifelte Maßnahmen wie Negativzinsen und Quantitative Easing rechtfertigen.

Jenseits der Frage nach den Motiven ist die Frage nach den Auswirkungen aber dringend. Bisher hat die Negativzinspolitik keinen Investitionsboom im Euroraum ausgelöst. Das anhaltende De-Leveraging in den Krisenländern wirkt dem entgegen. In Deutschland haben wir ein robustes Wachstum und eine hervorragende Entwicklung des Arbeitsmarktes. Aber auch hier haben die Niedrig- und Negativzinsen die Sachkapitalbildung nicht angeschoben. Ohnehin kann das leistungsfähige Finanzierungssystem in Deutschland sinnvolle Investitionsvorhaben auch ohne Druck der EZB selber umsetzen.

Sichtbar ist stattdessen der durch Niedrig- und Negativzinsen ausgelöste Anlagenotstand vieler Sparer und Investoren. Am Aktienmarkt und Immobilienmarkt können dadurch Spekulationsblasen entstehen. Damit verbunden sind gefährliche Strukturverschiebungen.

Gefahren, Nebenwirkungen und Zielkonflikte

Die Geldpolitik ist gemessen an ihren einheitlichen Zielen nicht mehr wirksam. Mittlerweile ist festzustellen, dass andere wirtschaftspolitische Akteure gefordert sind. Eine stärkere Erholungs- und Beschäftigungsdynamik in den Südländern des Euroraums lässt sich nur durch eine wachstumsfreundliche Wirtschaftspolitik und vor allem dringend nötige beherzte Strukturreformen erreichen. Für die Lösung der Krise in Europa wären andere Instrumente als das Breitschwert des Zinsniveaus und der Notenbankbilanz gefragt. Hier schadet die Geldpolitik sogar, wenn sie den anderen Politikfeldern immer wieder Zeit kauft und den Handlungsdruck reduziert. Denn so nimmt sie die Anreize für entschlosseneres Handeln.

Gleichzeitig fährt die EZB mit ihrer geldpolitischen Ausrichtung ein hohes Risiko. Sie begibt sich in immer stärkere Abhängigkeiten. Zum Beispiel wird sie durch die Ankäufe von Staatsanleihen zum größten Gläubiger ihrer Mitglieder. Hier verwischen die Grenzen zwischen Geldpolitik und Staatsfinanzierung. Das war eigentlich nach den vereinbarten Spielregeln der Währungsunion aus gutem Grund verboten. Diese guten Regeln sind nun leider faktisch dahin. Es ist außerdem kaum vorstellbar, wie die umfangreichen Positionen an aufgekauften Staatsschulden in der Zukunft wieder abgebaut werden können. Damit steht in Frage, wie die EZB wirklich wieder Unabhängigkeit erreichen will.

Aktuell richtet die Negativzinspolitik große Kollateralschäden an. Auf die problematischen Verteilungswirkungen, auf die Probleme für Sparer, Altersvorsorge, betriebliche Rentenzusagen, für Stiftungen und für große Teile beispielsweise der deutschen Finanzdienstleister – Lebensversicherungen, Bausparkassen, Teile der Kreditwirtschaft – ist schon oft hingewiesen worden. Ganze Branchen werden vor massive Herausforderungen gestellt und/oder in ungewollte oder im schlimmsten Fall unbeherrschbare Risiken getrieben. Teilweise werden sie völlig ihres Geschäftsmodells beraubt. Und auch das zurecht oft zitierte Beispiel Japans zeigt, dass ein anhaltendes Niedrigzinsumfeld die Sparkultur zerstört und damit wichtige Wachstumsgrundlagen vernichtet.

Liquidität bleibt ohne hilfreiche Wirkung

Die mit den Assetkäufen geschaffene Überschussliquidität braucht heute niemand. Anders als in den Krisenjahren 2008 bis 2010, als der Interbankenmarkt deutlich klemmte, wird die immer mehr zur Belastung für das Bankensystem. Dennoch wird das Ankaufprogramm der EZB weiter fortgesetzt und ausgeweitet. Angeblich soll die Überschussliquidität die Kreditvergabe ankurbeln. Aber sie tut es nicht. Die leichte Belebung, die wir inzwischen auch in einigen Südländern sehen, wäre ohnehin gekommen. Es ist ein theoretischer Trugschluss, dass Zentralbankgeld im Bankensystem durch Kreditvergabe verringert werden könnte. Stattdessen werden gerade realwirtschaftlich ausgerichtete Kreditinstitute in eine Sackgasse getrieben. Und immer mehr Märkte werden von verzerrenden und verdrängenden Interventionen der Notenbank erfasst. Eine solche Geldpolitik kann nicht richtig sein.

Entscheidend ist es jetzt, dass die Geldpolitik so bald wie möglich die Kraft findet, ihren Kurs zu korrigieren. Der Negativzins darf nicht noch weiter vertieft werden, sondern muss allmählich zumindest in Richtung null geführt werden. In den nächsten Monaten werden durch Basiseffekte beim Ölpreis absehbar die Inflationsraten steigen. Die problematischen, von jetzt an auch bei Unternehmensanleihen die Märkte verzerrenden Assetkäufe, können dann auch schon vor März 2017 langsam auslaufen. Bis heute sind die Inflationstendenzen sehr moderat. Aber der Preisdruck wird wieder aufkommen. Diese Entwicklung wird umso unbändiger, je mehr vorher expansiv Anlauf genommen wurde. Dann kann die EZB beweisen, dass sie es ernst meint mit ihrem Preisniveauziel. Der Lackmustest wird sein, ob ihr durch rechtzeitiges Umsteuern die Begrenzung einer nach oben überschießenden Inflation gelingt.

Eine Normalisierung und Neuausrichtung der Politik der EZB darf nicht allein mit Rücksicht auf die öffentlichen Haushalte in einzelnen Ländern immer weiter aufgeschoben werden. Diese enge Sicht wird den langfristig wirkenden Nebeneffekten der aktuellen Geldpolitik nicht gerecht. Eine Kurskorrektur wäre für die EZB kein Eingeständnis von Schwäche. Es wäre ein Zeichen der Stärke. Die Märkte würden es auch als solches verstehen.

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