Prof. Dr. Michael Wohlgemuth
Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung

Nicht in Großbritannien, aber auf dem europäischen Festland war man sich bisher weitgehend einig, die Europäische Union sei von Anfang an ein politisches Projekt gewesen, dessen Finalität zwingend in einer immer engeren politischen Union, ja bei etwas wie den Vereinigten Staaten von Europa liege. Die Krise der Europäischen Währungsunion hat zwar bewiesen, dass der Versuch, eine ökonomisch zweifelhafte und riskante Tat als politisches Projekt zu verstehen und nach politischen Kriterien zu gestalten, scheitern musste. Nun aber dient die Euro-Krise dazu, die Schaffung einer politischen Union – zumindest was die Länder der Eurozone betrifft – nachzuholen. Die selbstverschuldete Krise wird damit zur Chance, das zu erzwingen, was vor Einführung des Euro politisch nicht durchsetzbar war.

Allerdings gibt es dabei ein bisher großzügig ausgeblendetes Problem: Für weitgehende Schritte in Richtung einer politischen Union fehlen auch im derzeitigen Zustand sowohl (verfassungs-)rechtliche als auch demokratische Grundlagen. Gleichwohl gilt die Aussage, dass eine Währungsunion ohne politische Union oder Fiskalunion nicht gelingen könne, zumindest in Berlin und Brüssel als Binse. In Paris wurde schon immer von einer politischen Steuerung der Währungsunion geträumt. Zu beachten ist aber auch: Wenn in Berlin und Paris von „Wirtschaftsregierung“, „politischer Union“ oder „Fiskalunion“ gesprochen wird, werden zwar dieselben Begriffe verwendet, doch meint man damit grundsätzlich Verschiedenes.

Regelbindung versus „Planification“

Die französische Position – und sehr ähnlich die italienische – bedeutet ganz sicher nicht, dass die Souveränität der Republik und die ihres Präsidenten etwa durch einen EU-Finanzminister oder strengere Regeln für die französische Haushaltspolitik beschränkt werden soll.

Eine europäische Wirtschaftsregierung nach französischem Vorbild meint vor allem:

  • Vergemeinschaftung der Schulden der Eurozone,
  • noch mehr fiskalpolitisches Engagement der Europäischen Zentralbank (EZB),
  • gemeinsame Steuern der EU,
  • ein gemeinsames Budget der Eurozone,
  • eine gemeinsame europäische Arbeitslosenversicherung,
  • eine gemeinsame Einlagensicherung und vor allem
  • mehr europäische Industriepolitik. Konkret heißt das einerseits Subventionen für europäische und vor allem französische Unternehmen sowie andererseits Hilfen und Protektion für französische Unternehmen, die im globalen Wettbewerb nicht bestehen können und sich daher als Verlierer der Globalisierung fühlen.

An der Stelle ordnungspolitischer Regeln der Selbstbindung von Regierungen sollen politische Entscheidungen EU-weiter „Planification“ stehen. Also intergouvernementale Willensakte der Staatschefs, die – gedeckt oder getrieben von einer Mehrheit in einem Parlament der Eurozone – über ein Eurozonenbudget entscheiden, das mit vergemeinschafteten Steuern und Finanzmitteln aus öffentlicher Verschuldung gespeist wird. Die deutsche Idee einer Fiskalunion – zumindest nach den Vorstellungen von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble – steht diesen Vorstellungen konträr gegenüber. Eine politische Union müsste demnach – wie etwa im Fiskalpakt – durch verbindliche Regeln weitgehend entpolitisiert und durch möglichst automatische Sanktionen oder mithilfe unabhängiger Entscheider durchgesetzt werden.

Angestrebt wird eine Wirtschaftsverfassung und nicht eine Wirtschaftsregierung. Das wäre zumindest eine idealtypische Interpretation einer deutschen Vorstellung von einer Fiskalunion, die auf das zentrale Konzept der ordoliberalen „Freiburger Schule“ zurückgreifen würde, das für Ludwig Erhard die geistige Grundlage seines erfolgreichen Modells bildete. Im Kern geht es bei den deutschen Vorstellungen von einer Wirtschaftsverfassung um das Primat regelbasierter Ordnungspolitik gegenüber interventionistischer Prozesspolitik. Von dieser Leitlinie hat sich in den letzten Jahrzehnten freilich auch die Bundesrepublik Deutschland immer weiter entfernt. In den meisten Gesellschaften außerhalb Deutschlands ist die Idee von Ordnungspolitik noch schwerer zu vermitteln.

Selbst unklar definierte Mischsysteme brauchen die demokratische Legitimation

Die Zustimmung aller 28 (beziehungsweise bald 27) Mitgliedstaaten zu dem einen oder anderen Modell einer europäischen Wirtschaftsregierung oder Wirtschaftsverfassung ist schlichtweg illusorisch. Bestenfalls käme es wie in der Vergangenheit auch zu einer typisch „europäischen Lösung“ mit unklar definierten Elementen aus beiden Modellen.

Beide Modelle – das gilt auch für beliebige Kombinationen – verlangen zudem eine demokratische Legitimation nicht nur was die Vertragsänderung selbst angeht, sondern auch bezüglich der Verlagerung zentraler Elemente, die bisher in nationalstaatlicher Souveränität ausgeübt waren. Das dürfte sogar in Deutschland schwierig werden, wo bisher mehr als anderswo ein sogenannter „permissive consensus“ herrschte: die weitgehend uninteressierte Bereitschaft, das hinzunehmen, was bezüglich europäischer Integration beschlossen wird. Infolge der EU-Rettungspolitik ist diese Bereitschaft aber in Deutschland – so wie in anderen EU-Ländern auch – weitgehend erodiert.

Zudem hat das Bundesverfassungsgericht widerholt festgestellt, dass die EU kein Bundesstaat werden darf, solange das Grundgesetz gilt. Diese Linie zielt auf die Aufrechterhaltung staatlicher Souveränität, zu der als Kernbestand das Budget- und Steuerrecht zählen. In seinem „OMT-Urteil“ vom 14. Januar 2014 (OMT – Outright Monetary Transactions) hat das Bundesverfassungsgericht schon beim unbegrenzten Ankauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank eine rote Linie ziehen wollen. Nun lehrt die Erfahrung, dass sich solche rote Linien letztlich oft als recht flexibel herausstellen. Das heißt: Solange deutsche Budgetbelastungen in ihrem Umfang begrenzt bleiben und der ausdrücklichen Zustimmung des Bundestags unterliegen, dürfte noch einiges in Richtung einer Fiskalunion möglich sein.

Abbildung der Wählerpräferenzen in einem EU-Parlament

Anders ist es mit Visionen von einem Bundesstaat, nach denen EU-Organe eigene Steuerkompetenzen erhalten und Schulden, die Arbeitslosenversicherung oder Spareinlagen vergemeinschaftet werden sollen. Hier gilt der Schlachtruf der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung: „no taxation without representation“. Der Verweis auf das EU-Parlament oder ein neu geschaffenes „Eurozonen-Parlament“, das in einer echten Fiskalunion über eigene Steuern und Aufgaben einer Art europäischen Finanzausgleichs verfügen oder nationale Haushaltspläne korrigieren soll, reicht dann nicht mehr.

Grund dafür ist, dass es am zentralen demokratischen Prinzip „one man one vote“ mangeln würde: Bekanntlich hat die Stimme eines Einwohners von Malta schon jetzt bei Europawahlen über elf Mal mehr Gewicht als die eines Deutschen. Im Unterhaus eines Bundesstaats, der weitreichende verteilungspolitische Kompetenzen und am Ende auch Kompetenz-Kompetenz beanspruchen würde, wäre so etwas nicht mehr haltbar.

Um in einem „One-man-one-vote-Parlament“ der EU die nationalen Parteipräferenzen überhaupt noch einigermaßen abbilden zu können, müsste man die Zahl der Abgeordneten zumindest verzehnfachen und käme dann auf etwa 7500 Abgeordnete. Ob sich die EU-Föderalisten dies schon einmal überlegt haben? Sie mögen weiter auf die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, Identität und Solidarität und damit auch auf einheitlich auftretende und untereinander konkurrierende pan-europäische Parteien setzen. Das wird aber sehr lange dauern, wenn es überhaupt gelingt. Derzeit zeigen die Trends eher in die entgegengesetzte Richtung.

Derweil mit einer europäischen Wirtschaftsregierung, einer Fiskalunion und Ähnlichem einfach schon einmal in der Hoffnung zu beginnen, dass ein europäischer Demos einem vorauseilenden Quasi-Bundesstaat eines Tages nachträglich Legitimation verschaffen wird, ist schlicht verwegen und unverantwortlich. Eine solche Strategie wäre geeignet, das europäische Projekt durch Überdehnung zu zerstören.

Warnung vor aufkommender Nationalromantik in Europa

Aber auch dazu wird es wohl nicht kommen. Der Traum der Vereinigten Staaten von Europa ist vorerst ausgeträumt – was auch der zunehmend parteipolitisch wirksam gewordenen Nationalromantik geschuldet ist, die sich in ganz Europa zeigt. Diese populistischen Kräfte von rechts und links sind freilich zugleich die falschen Freunde der liberalen Gegner eines europäischen Superstaats. Sie könnten ihrerseits den Alptraum eines Rückfalls in Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Protektionismus fördern.

Leider gibt es keine Zeitmaschine, die man einsetzen könnte, um Fehler der Vergangenheit zu korrigieren. Sonst könnte man zwei konkurrierende Währungsunionen bilden: eine „Nord“- oder „Hart“-Eurozone mit ordoliberaler Wirtschaftsverfassung sowie – wenn es die betreffenden Länder denn unbedingt wollen – eine „Süd“- oder „Weich“-Eurozone mit interventionistischer Wirtschaftsregierung. Eine solche nachträgliche Kurskorrektur ist wünschenswert – aber utopisch.

Stattdessen ist ein andauerndes Krisenmanagement der Eurozone zu erwarten und nicht deren baldige Auflösung. Allerdings werden daher die meisten Probleme wohl kaum dauerhaft gelöst werden. Im besten Fall zeigen inkohärente Maßnahmen (siehe auch „Der Bericht der fünf EU-Präsidenten: Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden“) eine analgetische Wirkung – obwohl eine Rückkehr der Marktsignale, die derzeit durch die Null-Zins-Politik der EZB ausgeschaltet werden, sicher wirksamer wäre als neue politische Pakte. Das wäre ebenfalls wünschenswert, aber auch danach sieht es derzeit nicht aus.

Ludwig Erhard war sich in einer Rede vor dem Europäischen Parlament im Jahr 1962 sicher: „Man kann nicht auf der einen Seite Wettbewerb und auf der anderen Seite Planung, Planifikation oder Programmierung haben wollen.“ – Die EU war indes schon immer ein „Sowohl-als-auch-Projekt“. Realistisch betrachtet, wird das wohl auch so bleiben.

Prof. Dr. Michael Wohlgemuth ist Direktor der Open Europe Berlin gGmbH, www.openeuropeberlin.de.

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