Die wirtschaftliche Entwicklung sei bestimmt durch neue Rufe nach mehr Planung, nach mehr Gängelung und nach mehr Bevormundung, und deshalb sei es gut, sich an die Ideen von Ludwig Erhard zu erinnern. So endete Dr. Gerhard Stoltenberg, damals Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, seinen Artikel, in dem er Ludwig Erhard zum 80. Geburtstag gratulierte. Wir dokumentieren eine – leicht bearbeitete – Fassung der Geburtstagsehrung, die zuerst in Das Parlament vom 5. Februar 1977 erschienen ist. Der Beitrag ist auch zu finden in: Ludwig Erhard – Erbe und Auftrag, Aussagen und Zeugnisse, herausgegeben von Karl Hohmann, veröffentlicht von der Ludwig-Erhard-Stiftung, Econ Verlag 1977.

Es war ein bewegender Augenblick, als Ludwig Erhard, zwar gebeugt unter der Last der Jahre, aber überzeugend und ehrlich wie immer zur Konstituierung des 8. Deutschen Bundestages ans Rednerpult trat. Die Sorgen, die ihn bewegen, kleidete er in den schlichten Satz: „Der neue Bundestag beginnt seine Arbeit in einer Zeit großer Besorgnisse und schmaler Hoffnungen.“ Damit wollte Erhard sagen, dass es zum zweiten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik gilt, den politischen Kampf um Sicherheit und Wohlstand, um Stabilität und inneren Frieden unseres Landes aufzunehmen.

„Der neue Bundestag beginnt seine Arbeit in einer Zeit großer Besorgnisse und schmaler Hoffnungen.“

1949, als es um die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland ging, gab es allerdings für das Gros der Bürger nicht einmal „schmale Hoffnungen“. Damals begegnete ich Ludwig Erhard zum ersten Mal. Das war in Kiel, kurz vor der Bundestagswahl. Not und Sorge um die Existenz, um Wohnung, Arbeit und um Brot bestimmten den Alltag der Menschen. Für politische Versammlungen fanden sie alle nur karges Interesse. Zu Erhard aber kamen an einem verregneten Sommerabend fast tausend Menschen in den größten Saal der Stadt.

Denn an Erhard vor allem entzündeten sich in jenen Tagen die Leidenschaften in Zustimmung und Widerspruch. Er war schließlich der Mann, der mit der Abschaffung der Zwangswirtschaft nach der Währungsreform die wichtigste wirtschafts- und gesellschaftspolitische Entscheidung der Nachkriegszeit getroffen hatte. Gegen den Protest der SPD und großer Teile der Gewerkschaften, die felsenfest davon überzeugt waren, dass Marktwirtschaft in einem zerstörten Land nur das Chaos heraufbeschwören könne.

Heute mag kaum jemand ermessen, wie viel Mut seinerzeit dazu gehörte, eine Ordnung zu begründen, in der die Vorschrift klein, der freie Wille und die Verantwortung des Einzelnen hingegen groß geschrieben wurden. Zwang, so glaubten allzu viele, sei das einzige Mittel, um die Not zu besiegen. Verwaltung des Wenigen, Zuteilung des Mangels schienen das Gebot der Stunde. Zu lange hatten die Menschen unter dem Joch eines Staates gelebt, der auch in die letzte menschliche Regung mit behördlichen Verordnungen eingegriffen hatte.

Jene Versammlung in Kiel bewies die große Kraft des Politikers und Menschen Ludwig Erhard, der von seinem Konzept nicht nur subjektiv überzeugt war, sondern es auch mit hohem wissenschaftlichem Sachverstand und moralischer Autorität vertrat. Für die Menschen war in der Folgezeit das Erlebnis, jahrzehntelange Enge nationalstaatlicher und nationalwirtschaftlicher Grenzen zu überwinden, bewegend. Und der steigende Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten nach Mangel und Existenzangst war befreiend.

„Für die Menschen war in der Folgezeit das Erlebnis, jahrzehntelange Enge nationalstaatlicher und nationalwirtschaftlicher Grenzen zu überwinden, bewegend. Und der steigende Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten nach Mangel und Existenzangst war befreiend.“

Manche Freunde und Gegner übersahen dabei in der ersten Stunde, dass Erhard Soziale Marktwirtschaft nicht nur ausschließlich binnenwirtschaftlich verstand. Seine grundlegende Entscheidung bedeutete mehr: Sie war der Wiedereintritt eines völlig zerstörten Landes in die Weltwirtschaft. Mit der Zustimmung zur vollen Währungskonvertibilität, zur umfassenden Liberalisierung leistete die Bundesrepublik einen entscheidenden Beitrag zur weltwirtschaftlichen Stabilität, und sie begründete ihre Stellung unter den Industrienationen neu, und damit letztlich auch ihren Wohlstand. Darin muss man wohl Erhards größte Tat sehen.

Von seinem einmal als richtig erkannten Konzept ist Ludwig Erhard nie abgewichen, auch wenn ihn, was zum Beispiel durch Gerd Bucerius verbrieft ist, manchmal ernste Zweifel geplagt haben. So im Herbst 1948, als die Preise unaufhaltsam stiegen und Erhard gegenüber Freunden die Frage stellte, ob sein Konzept wohl aufgehen werde. Öffentlich trat er damals wie heute immer offensiv für seine Ideen ein. Als ihm im Wirtschaftsrat der Abgeordnete Gerhart Kreissig unter dem Beifall der SPD zurief: „Wie hoch werden die Eierpreise steigen?“, antwortete Erhard kurz: „Bin i a Laubfrosch?“

Auch 1950/51, während der Korea-Krise, als sogar ein großer Teil seiner Parteifreunde mit der Rückkehr zur Zwangswirtschaft liebäugelte, setzte Erhard sich durch. Und 1957, als er das Kartellgesetz gegen den Druck des Bundesverbandes der Industrie verwirklichte. Oder 1961, als er gegen harte Opposition die Aufwertung der Deutschen Mark durchsetzte.

An jeder dieser großen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Entscheidungen hat Ludwig Erhard maßgeblich mitgewirkt. Am stärksten sind von ihm jene geprägt, die seinen ordnungspolitischen Zielen entsprachen. Für ihn waren steigende Wirtschaftskraft und Wohlstand niemals Selbstzweck. Sie sollten einer reicheren und freiheitlicheren Lebensgestaltung des Einzelnen dienen, ohne Gängelung durch den Staat oder gesellschaftliche Gruppen. Und sie sollten die Sicherung großer Ressourcen für die öffentlichen Aufgaben ermöglichen. Dieses humane Konzept der Sozialen Marktwirtschaft ist immer wieder deutlich angesprochen worden. Es hat dennoch, und das registrieren wir vor allem heute, für die deutsche Nachkriegsgesellschaft nicht die prägende Kraft gewonnen, um die es Ludwig Erhard immer gegangen ist.

„Für ihn waren steigende Wirtschaftskraft und Wohlstand niemals Selbstzweck. Sie sollten einer reicheren und freiheitlicheren Lebensgestaltung des Einzelnen dienen, ohne Gängelung durch den Staat oder gesellschaftliche Gruppen. Und sie sollten die Sicherung großer Ressourcen für die öffentlichen Aufgaben ermöglichen. Dieses humane Konzept der Sozialen Marktwirtschaft ist immer wieder deutlich angesprochen worden.“

Mit dem zunehmenden zeitlichen Abstand von dem Tief der Nachkriegsjahre nahm die Härte des Gruppen- und Verteilungskampfes zu. Erhard hat als Wirtschaftsminister und als Bundeskanzler diese Gefahren erkannt und versucht, ihnen mit Argumenten und Aktionen zu begegnen. Er sprach in den sechziger Jahren immer wieder davon, dass nach dem Ende der Nachkriegszeit eine neue Phase der Sozialen Marktwirtschaft eingeleitet werden müsse. Er verlangte, die ordnungspolitischen Regelungen noch stärker auszuprägen, und es ging ihm darum, die Menschen als mündige Bürger über die Grenzen der Verbände und Gruppen hinweg unmittelbar zu erreichen und neue Instrumente für die großen Strukturaufgaben unserer Industriegesellschaft zu entwickeln. Dieses zukunftsweisende Konzept ist in der Härte der tagespolitischen Auseinandersetzungen damals nur von wenigen begriffen worden, es wurde von einflussreichen politischen und publizistischen Gegnern bewusst falsch verstanden. Von jenen eben, die mit massiver Polemik gegen den (sprachlich sicher etwas unscharfen) Begriff von der „Formierten Gesellschaft“ zu Felde zogen.

Was meinte Erhard mit „Formierter Gesellschaft“? Doch wohl den Versuch, so beschrieb es Rüdiger Altmann, „soziale Kämpfe alten Stils mehr als bisher zu begraben, das Ritual der Konflikte abzuschwächen“. Unter „Formierter Gesellschaft“ verstand Erhard Harmonisierung. Niemand wird im Rückblick auf die Mitte der sechziger Jahre bestreiten können, dass diese Harmonisierung damals im Ansatz gelungen war und in der Folgezeit weitgehend wieder verloren worden ist.

Kaum ein Politiker hat in der Bundesrepublik je diese Achtung und diesen Respekt der Bevölkerung erfahren wie gerade Erhard. Die Sympathie, die ihm zufloss, hat er sicher selbst gespürt und auch zu nutzen versucht. Immer wieder appellierte er an die Vernunft der Bürger, manchmal wohl auch in dem Irrglauben, dass die Erkenntnis, was gut sei, auch dazu führen werde, entsprechend zu handeln. Der Glaube an diese Einsicht des Bürgers war falsch. Und das mag wohl wesentlich zu seinem Scheitern als Kanzler beigetragen haben.

Was Erhard wollte, war eine Versöhnung der Gegensätze, war eine Synthese, von der wir heute wieder weit entfernt sind. Das zeigt sich auch in der wirtschaftlichen Entwicklung, die bestimmt ist durch Arbeitslosigkeit, durch eine schwere Krise des sozialen Systems und auch der öffentlichen Finanzen. Bestimmt auch durch neue Rufe nach mehr Planung, nach mehr Gängelung und nach mehr Bevormundung.

Deshalb ist es gut, sich an die Ideen von Ludwig Erhard zu erinnern. Auch heute können wir seinen Rat brauchen. Er hat einmal, kurz nachdem er als Bundeskanzler zurückgetreten war, auf die Frage, welches Vermächtnis er diesem Volk hinterlasse, schlicht und bündig geantwortet: „Vorläufig mich selbst.“ Daran sollte man sich, wenn Rat gefragt ist, erinnern.

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