Im Foyer des Bundeswirtschaftsministeriums begrüßt eine Büste von Ludwig Erhard die Besucher. Heute erhält der legendäre Wirtschaftsminister (1949–1963) und Bundeskanzler (1963–1966) einen Nachbarn: Karl Schiller, Wirtschaftsminister der SPD von 1966 bis 1972.

Erhards Büste wurde auf Betreiben von Michael Glos aufgestellt. Schiller erhält den Ehrenplatz auf Wunsch des amtierenden sozialdemokratischen Bundeswirtschaftsministers Sigmar Gabriel. Auf den ersten Blick sieht es aus wie einer dieser vielen Machtkämpfe um die Deutungshoheit und politische Schönheitskonkurrenz: Wer war der Bessere? Der Tüchtigere? Kann der einstige „Superminister“ Karl Schiller, der die zwar erfolgreiche, aber angeblich „naive“ Wirtschaftspolitik Erhards in das goldene Zeitalter des Keynesianismus und der Globalsteuerung überführt hatte, den „Vater des Wirtschaftswunders“ beerben? Der Rote oder der Schwarze – Spieglein, Spieglein an der Wand, wer stellt die besseren Wirtschaftsminister im Land?

Beschäftigt man sich mit beiden, kommt man zu einem überraschenden Ergebnis: Die damalige Kontroverse prägt in ihren Folgen die Gegenwart mit Staatsverschuldung und expansiver Geldpolitik. Am Ende schwenkte Schiller auf Erhards Kurs ein und bestätigte dessen Befürchtungen. Schlimmer noch: Sie verbündeten sich sogar. Und heute wären beide entschiedene Kritiker der Wirtschaftspolitik, der sie aus starren Bronze-Augen stumm vom Sockel zuschauen müssen.

Vom „Stabilitätsgesetz“ zum „Wachstumsgesetz“

Erhard hatte gegen Ende seiner Amtszeit noch den Entwurf eines „Stabilitätsgesetzes“ formuliert. Ziel war, die öffentlichen Haushalte vor wachsender Staatsverschuldung zu schützen und den Geldwert zu sichern. Das waren nach seiner Ansicht die entscheidenden Rahmenbedingungen für erfolgreiches Wirtschaften. Aber das reichte wohl nicht mehr, die Wirtschaftspolitiker insbesondere der FDP und SPD hatten ehrgeizigere Ziele: die Steuerung und Bändigung der Wirtschaft über den Konjunkturzyklus hinweg. Das war kein deutsches Phänomen. „We are all Keynesians now“, spottete der spätere Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman über den Siegeszug des in Gesetzesform gegossenen Keynesianismus damals. Dem Diktat des Zeitgeistes voranschreitend wurde unter Karl Schiller im Juni 1967 ein Gesetz mit ähnlichem Namen, aber gewaltig abweichender Stoßrichtung verabschiedet: das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“, das im Wesentlichen noch heute gilt. Es war die Hochzeit der Vorstellung, der Staat könne nicht nur, er müsse auch ein beständiges Wirtschaftswachstum steuern – und zwar durch Staatsverschuldung, wie es der britische Ökonom John Maynard Keynes skizziert hatte.

Erhard erschien dagegen altmodisch, „naiv“, wie damals formuliert wurde. Unbestritten seine Verdienste um den Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft seit 1947, aber knapp zwei Jahrzehnte später schienen die Märkte gesättigt, neue Regeln schienen notwendig – Wachstumsförderung durch den Staat schien das Mittel der Wahl. Und Keynes′ Portrait hing prominent im Vorzimmer des Wirtschaftsministers Karl Schiller. Keynes′ General Theory hält „nun endlich Einzug in Deutschland“, so der zuversichtliche Minister zu seiner „konjunkturpolitisch flexiblen Wirtschafts- und Finanzpolitik aus einem Guss“.

Mit Blick auf die gegenwärtige Debatte faszinierend: Erhard, dessen Politik das Wachstum erst ermöglicht hatte, lehnte Wirtschaftswachstum als generelles Ziel ab – eine Auffassung, die heute ungeheuer modern erscheint. Jeder Einzelne habe zu entscheiden, ob er mehr arbeiten wolle oder eben weniger. Wozu also künstlich Wachstum generieren, wenn die Menschen stattdessen etwa Freizeit wollen? „Um diese individuelle Freiheit ging es Erhard“, schreibt Horst Friedrich Wünsche, Erhards letzter Mitarbeiter und Biograph. Die Zeitläufte geben Erhard Recht. In keinem Land der Welt arbeiten die Menschen so wenige Jahresstunden wie in Deutschland; und Erhards Überlegungen erstreckten sich auch auf ökologisch nachhaltige Überlegungen, auch wenn der moderne Begriffsapparat erst im Entstehen war. Zudem fürchtete Erhard, dass solche staatlichen Eingriffe für die Wirtschaft langfristig nur schädlich sein konnten.

Verschuldungsmentalität und aktivistische Wirtschaftspolitik

Seine Vorbehalte wurden weggewischt; Wachstum erlangte Gesetzeskraft, übrigens nicht nur in Deutschland – es war eben schick, Keynesianer zu sein. Das Ergebnis ist bekannt: Ihm seien „5 Prozent Inflation lieber als 5 Prozent Arbeitslosigkeit“, dröhnte etwa der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, der als Weltökonom Schillers Gesetz umsetzte. Seine Bilanz ist verheerend – die grandiose Zielverfehlung allerdings führte nicht zu einer Korrektur der Politik, sondern zu ihrer Fortsetzung mit höherem Mitteleinsatz. Mit der Wirtschaftskrise 1974/75 stieg der Anteil der öffentlichen Schulden am Bruttosozialprodukt sprunghaft von vorher meist weniger als 20 Prozent auf 24,9 Prozent. Die Verschuldungsmentalität zur Lösung wirtschaftlicher Probleme hatte sich im politischen Betrieb festgesetzt, sodass die Schuldenquote bis Ende der 1980er Jahre stetig auf über 40 Prozent klettern konnte und auf das nochmals Doppelte in der Gegenwart.

Und schon in Schillers Amtszeit zeichnete sich ab, dass auch die Inflation zum Problem werden würde. Während in den 1960er Jahren die Inflationsrate durchweg unter 4 Prozent gelegen hatte – 1967 und 1968 sogar unter 2 Prozent–, lag sie 1971 erstmals bei über 5 Prozent und zwei Jahre später sogar nochmal zwei Prozentpunkte darüber. Diese historischen Zahlen machen schaudern angesichts der Bemühungen der Europäischen Zentralbank, die von der überdehnten Fiskalpolitik jetzt die Wachstums-Arbeit übernommen hat und für dieses Ziel die Geldpolitik instrumentalisiert, daher die Geldmenge ausweitet und versucht, die Inflation anzuheizen. Ist es möglicherweise Machbarkeitswahn oder blinder Glaube an eine Kontrollfähigkeit, die tatsächlich gar nicht vorhanden ist? Der große Soziologe Niklas Luhmann jedenfalls verspottete diese Art Inflation der aktivistischen Wirtschaftspolitik als „planmäßige Eingriffe in planmäßige Eingriffe“.

Soweit die Geschichte – die leider bis heute ihre Spuren hinterlässt. Denn der globale Keynesianismus ist die Hauptursache für die globale Schuldenkrise, die 2008 in der Finanzkrise mündete und uns als Griechenland-Krise weiter verfolgt: Die Wachstumsziele der Regierungen sind ehrgeizig; für Wachstum um fast jeden Preis wird steigende Staatsverschuldung in Kauf genommen, die sich selbst immer weiter aufbläst. Auch in guten Jahren werden Schulden nicht getilgt – da gilt es schon als Erfolg, wenn sie nur etwas langsamer anwachsen. Spätestens seit 2002 wurde klar, dass Schulden vieles können, bloß kein nachhaltiges Wachstum erzeugen. Seither wird die Geldpolitik für Wirtschaftswachstum instrumentalisiert: Nicht mehr der Geldwert steht im Zentrum der amerikanischen Fed oder der Europäischen Zentralbank, sondern die Wachstumsförderung. So richtig klappt auch das nicht; und ähnlich wie die Verschuldungspolitik ist sie am Ende ihrer Wirksamkeit angelangt: Die Zinsen liegen bei null, und wer jetzt noch Geldpolitik fordert, muss notgedrungen auch über die Pest negativer Zinsen nachdenken und gleichzeitig ihre Durchsetzung über die Cholera der Bargeldabschaffung erzwingen.

Erhard und Schiller: Gemeinsam für die Soziale Marktwirtschaft

Der Mentor der neuen Politik, Karl Schiller, war schon früher zu diesem Schluss gekommen: Er schied aufgrund des Scheiterns seines Konzeptes 1972 aus der Bundesregierung aus; enttäuscht darüber, dass im politischen Alltag zwar Schuldenerhöhungen leicht, aber auch in konjunkturell besten Zeiten Einsparungen kaum durchsetzbar sind. In seinem Rücktrittsbrief schreibt er: „Ich bin nicht bereit, eine Politik zu unterstützen, die nach außen den Eindruck erweckt, die Regierung lebe nach dem Motto ’nach uns die Sintflut‘ .Die Regierung hat die Pflicht, über den Tellerrand des Wahltermins hinauszublicken und dem Volk rechtzeitig zu sagen, was zu leisten ist und was zu fordern ist.“

Im folgenden Bundestagswahlkampf stritt er sogar mit Ludwig Erhard gemeinsam für die Soziale Marktwirtschaft. In einer Anzeigenkampagne heißt es: „Es gab Zeiten mit Differenzen. […] Doch heute stimmen wir in den entscheidenden Grundfragen überein. […] Es geht um die Marktwirtschaft. Da kann es nichts Trennendes geben.“ Schiller war tatsächlich ein überzeugter Marktwirtschaftler, was sich durch viele seiner Äußerungen und Publikationen belegen lässt: „Man kann die Weisheit von Regierungen und Ämtern für sehr hoch halten. Aber die Weisheit von Regierungen und Ämtern ist in allen Fragen der Steuerung der produktiven Kräfte – oder wie wir in unserem Ökonomen-Deutsch reden –, in allen Fragen der Allokation der Ressourcen, weit begrenzter als die Urteilsfähigkeit des Marktes“, sagte er beispielsweise 1979 in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Ludwig-Erhard-Preises für Wirtschaftspublizistik. Und Klaus von Dohnanyi konstatierte 1995, dass Schiller „letztlich Ludwig Erhard näher als der sozialdemokratischen Mehrheit auch nach Godesberg“ gestanden habe.

Wenn Sigmar Gabriel demnächst also Karl Schiller neben Ludwig Erhard stellt, ist es eine Botschaft, die zu neuer Bescheidenheit aufruft: Wachstum ist nicht alles, die Klugheit staatlicher Wirtschaftspolitik eher fragwürdig und ihre Umsetzung selbst in der Stunde der Erkenntnis faktisch unmöglich.

Der vorliegende Text ist eine leicht bearbeitete Fassung von: Roland Tichy, „Freiheit statt Wachstum“, erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. September 2015.

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