Unter Martin Schulz will die SPD wieder Schutzmacht sein. Absurderweise gilt dem neuen Parteichef und Kanzlerkandidaten vor allem die breite Mittelschicht als hilfsbedürftig – was für eine Herablassung.

Martin Schulz verheißt der deutschen Sozialdemokratie eine Renaissance. Der neue SPD-Chef ist ein erfahrener und wortstarker Wahlkämpfer. Geschickt rückt der Kanzlerkandidat das Thema der sozialen Gerechtigkeit in den Fokus – eines der wenigen Politikfelder, auf denen die Bevölkerung der SPD die größten Kompetenzen einräumt. Bislang sind zwar nur Bruchstücke seines Programms bekannt, wie etwa das Versprechen eines verlängerten Arbeitslosengeldes oder die Ankündigung kostenloser Kita-Plätze für alle. Doch schon jetzt ist die große Erzählung, mit der Schulz die Wähler zu überzeugen versucht, deutlich wahrnehmbar.

Der sprichwörtliche „kleine Mann“ spielt darin die Hauptrolle. Vom Schutz für die Schwachen spricht der Sozialdemokrat und verweist in seinen Reden gefühlig auf Arbeiter, Rentner oder junge Paare, die er getroffen habe und die ihm ihre Ängste und ihre Verzweiflung geschildert hätten. Nur die SPD könne Schutzmacht all dieser kleinen Leute sein und nur ein Bundeskanzler Martin Schulz ihr Schutzpatron. Mehr soziale Leistungen und bessere staatliche Betreuung sind seine Antwort auf die Unsicherheiten unserer Zeit.

Schwächliche Bürger mit Abstiegsängsten?

Begeistert folgt die SPD ihrem neuen Anführer. Die Rolle des Kümmerers liegt der Partei, die einst als Arbeiterpartei groß wurde. Die altbekannte Botschaft vom Kampf für die Unterdrückten soll die Partei wieder stark machen: Was vor 100 Jahren richtig war, kann heute nicht falsch sein. Tatsächlich jedoch zeugt der Schulz-Sound von einer Herablassung, die viele Wähler abstoßen muss. Denn das Menschenbild, das Schulz‘ Narrativ zugrunde liegt und das seine Partei bisher unwidersprochen akzeptiert, zeigt einen hilfsbedürftigen Bürger, der nicht in der Lage ist, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, und den jeder Schicksalsschlag unweigerlich aus der Bahn wirft.

Zweifellos gibt es Menschen, die ohne die zahlreichen staatlichen Hilfestellungen unter die Räder kämen. Aber anders als der SPD-Chef suggeriert, handelt es sich um kleine Minderheiten und keineswegs um große Teile der Bevölkerung. Denn im Vergleich zur Frühzeit der Sozialdemokratie ist Deutschlands Arbeiterschaft heute hervorragend ausgebildet, verdient ordentlich und erfreut sich einer umfassenden sozialen Absicherung, inklusive Kündigungsschutz, voller Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und bezahltem Urlaub. Die abhängig Beschäftigten hierzulande haben keine Veranlassung, sich von Schulz als schwächliche Mitbürger mit Abstiegsängsten hinstellen zu lassen.

»Das mir vorschwebende Ideal beruht auf der Stärke, dass der Einzelne sagen kann: ‚Ich will mich aus eigener Kraft bewähren, ich will das Risiko des Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal selbst verantwortlich sein. Sorge du, Staat, dafür, dass ich dazu in der Lage bin.‘« (Ludwig Erhard)

Der Hoffnungsträger der Sozialdemokraten versäumt es selten, bei öffentlichen Auftritten auf seine Herkunft „aus einfachen Verhältnissen“ hinzuweisen. Dabei zählt ein Mann wie sein Vater, der immerhin Polizist im mittleren Dienst war, in puncto Bildung und Einkommen zweifellos zur Mittelschicht. Wer die Gruppe der kleinen Leute derart groß definiert, verstellt den Blick auf diejenigen, die wirklich in prekären Lagen leben und auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Und dazu gehört eine Beamtenfamilie, selbst wenn sie sich keine großen Dinge leisten kann, beim besten Willen nicht. Doch wenn Schulz von „den Schwachen“ spricht, dann meint er nicht den unteren Rand der Gesellschaft, sondern zielt auf die – wahlentscheidende – Mitte. Als der SPD-Mann seinen Plan verkündete, das Arbeitslosengeld deutlich länger gewähren zu wollen, erzählte er von einem 50-Jährigen, der mit 14 Jahren in seinem Betrieb angefangen hatte und ihm seine Furcht vor Arbeitslosigkeit und dem raschen Abstieg auf Hartz-IV-Niveau geklagt habe. Man hätte dem Menschen Mut machen und darauf hinweisen können, dass für Ältere heute die Chancen auf dem Arbeitsmarkt so gut sind wie seit Jahrzehnten nicht mehr und das Entlassungsrisiko so gering wie lange nicht. Wer seit frühster Jugend berufstätig war, zählt auch mit 50 plus nicht zu den Schwachen. Doch Schulz‘ Ansatz, Arbeitslose länger zu alimentieren, vermittelt fatalerweise genau diesen Eindruck.

Die meisten Menschen sind fähig, ihr Leben zu meistern

Das Menschenbild von den hilfs- und führungsbedürftigen Landeskindern, denen der wohlmeinende Vater Staat stets und überall zur Seite steht, bildet einen großen Gegensatz zum Credo, das der frühere SPD-Chef und Kanzler Gerhard Schröder mit seiner Agenda 2010 vertreten hatte. „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistungen von jedem Einzelnen abfordern müssen“, hatte Schröder 2003 im Bundestag angekündigt. Von Eigenverantwortung ist bei Martin Schulz dagegen nicht die Rede. Doch so unbequem es mitunter sein mag, selbst aktiv zu werden und Verantwortung zu übernehmen, so befriedigend ist es, auf diese Weise etwas zu erreichen. Selbst ein gering entlohnter Job bringt mehr Selbstwertgefühl als die Überweisung von der Arbeitsagentur.

Die meisten Menschen sind fähig, ihr Leben zu meistern. Und der hiesige Sozialstaat gibt ihnen ein hohes Maß an Sicherheit. Doch wenn Schulz über Deutschland spricht und dabei „soziale Unwuchten“ anprangert, so meint man sich in die Zeit der Weltwirtschaftskrise in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts zurückversetzt. Und Hans Falladas „Kleiner Mann was nun“ scheint auf: diese herzergreifende Geschichte des arbeitslosen Angestellten, der mit seiner kleinen Familie in bitterster Armut darbt, während die Nationalsozialisten die Macht übernehmen. Damals ging es in der Tat vielen Deutschen wie Falladas Romanhelden ums nackte Überleben. Mit der Bundesrepublik von heute hat diese Situation nichts, aber auch gar nichts zu tun. Weder die Finanzkrise noch die Euro-Krise haben Arbeitnehmern oder Rentnern hierzulande viel anhaben können.

Zwar gelingt es mittlerweile auch in Deutschland rechten Populisten, Fuß zu fassen. Doch Umfragen zeigen, dass die AfD keineswegs vor allem von sozial Abgehängten gewählt wird. Die meiste Zustimmung kommt vielmehr von Personen mit mittlerer Bildung und überdurchschnittlichen Einkommen, die sich um die Zukunft des Landes angesichts der hohen Zuwanderung sorgen. Mehr Sozialleistungen scheinen somit kein probates Mittel gegen Rechtspopulismus zu sein. Schulz will der Mittelschicht mehr Sicherheit vermitteln, indem er ihr mehr staatliche Leistungen verspricht. Dass der treu sorgende Vater Staat ihr dafür jedoch auch immer mehr Geld abnehmen will, verschweigt der Sozialdemokrat.

Dabei ist gerade die bürgerliche Mitte zur Eigenverantwortung fähig, schließlich handelt es sich hier eben nicht um „kleine Leute“. Den einzigen Schutz, den diese Wähler wahrlich nötig haben, ist ein Bollwerk gegen eine immer weiter steigende Steuer- und Abgabenlast. Denn nur der eigene Verdienst gibt ihnen die Freiheit, ihr Leben nach den eigenen Wünschen zu gestalten.

Nach der Devise: Was vor 100 Jahren richtig war, kann heute nicht falsch sein?

Der Beitrag ist erstmals in DIE WELT vom 21. März 2017 erschienen. Die Autorin Dr. Dorothea Siems ist Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung und seit 2015 Mitglied der Jury des Ludwig-Erhard-Preises für Wirtschaftspublizistik. Sie wurde 2011 mit dem Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet.

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