Wie sind die im Koalitionsvertrag formulierten Pläne der Großen Koalition nach den Erhard’schen Prinzipien von Freiheit und Verantwortung zu bewerten? Lesen Sie die Antwort von Dr. Ursula Weidenfeld, Vorsitzende der Jury des Ludwig-Erhard-Preises für Wirtschaftspublizistik.

Rente, Krankenversicherung, Arbeitslosigkeit. Wenn man die Überschriften im Koalitionsvertrag studiert, scheint es, als hätten sich die Verhandler tatsächlich über die großen Themen der Zeit gebeugt. Doch wenn man genauer hinschaut, sieht man, dass vor allem Probleme gelöst werden, die keine sind: Fake Problems.

Das hört sich lustiger an, als es ist. Es ist offensichtlich, dass die Behandlung der Fake Problems den politischen Prozess in den kommenden dreieinhalb Jahren verstopfen werden (wenn die Sozialdemokraten dem Vertrag zustimmen). Die Scheinprobleme blockieren die politische Energie und hindern Politiker und Ministerialbeamte am Denken. Sie werden Legislative und Exekutive in einer Endlosschleife von Mütterrente, Langzeitarbeitslosenqualifizierungsprogramm und Gesundheitskommissionsberatungen beschäftigen. Nur weiterbringen werden sie das Land nicht.

Ein Gemeinwesen aber, das Politik auch in den kommenden drei Jahren nur im Konsum höherer Staatsausgaben wahrnehmen kann, entwickelt zuerst eine Anspruchs-, dann eine Verachtungshaltung. Solange die Wirtschaft läuft, sind die Ansprüche nur für Ordnungspolitiker ein Problem. Sie vermissen Richtungweisendes zum Thema Digitalisierung, demografischer Wandel, Freiheitsrechte des Einzelnen. Sie klagen zurecht, dass das Freiheitsversprechen zugunsten von Versorgungsbegehren zurückgedrängt wird. Doch auch die anderen werden nicht glücklich, obwohl am Ende jeder ein Geschenk bekommt. Auch die Wähler merken, dass die echten Probleme nicht gelöst werden und dass die Regierung keine Richtung finden wird.

Die Mütterrente oder das Langzeitarbeitslosenprogramm sind gute Beispiele. Bei der Mütterrente geht es jetzt um die vor 1992 geborenen dritten Kinder, deren Mütter einen Extra-Rentenanspruch bekommen sollen. Die Betroffenen haben kein Geld verlangt, sie hätten auch keines bekommen müssen. Denn die meisten dieser Frauen haben noch den alten, üppigen Anspruch auf Witwenrente. Das echte Problem der Rente liegt jenseits des Jahres 2030. Dann gehen die Babyboomer in den Ruhestand, bis dahin müssen mutige Entscheidungen getroffen werden: weniger Rente, mehr private Vorsorge, höhere Beiträge, mehr Staatsgeld, längere Arbeitszeiten? Schade, dass die politische Energie schon anderweitig vergeudet wurde. Für das große Thema der Rente wird eine Kommission einberufen – nur die kleinen Themen hat die Koalition sich selbst zugetraut.

Beispiel Arbeitsmarkt: Unzählige Anläufe wurden unternommen, Langzeitarbeitslosen zu helfen. Ohne Erfolg. Denn die meisten Langzeitarbeitslosen haben heute kein Arbeitsmarktproblem mehr, sie haben soziale Schwierigkeiten. Sie wohnen am falschen Ort, sind alleinerziehend, krank, abhängig oder mehrfach beeinträchtigt. Ein sozialer Arbeitsmarkt hilft ihnen nicht, bringt aber dafür die örtliche Privatwirtschaft durcheinander. Andererseits aber gibt es tatsächlich ein grundlegendes Arbeitsmarktproblem. Es heißt Digitalisierung. Auch wenn nicht klar ist, wie viele Arbeitsplätze am Ende tatsächlich durch den digitalen Wandel verändert oder überflüssig werden, so werden sich die Arbeitsbeziehungen in den kommenden Jahren grundlegend wandeln. Man sollte annehmen, dass sich zumindest die Sozialpolitiker für die Zukunft sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung interessieren. So war es aber nicht. Geschweige denn, dass sich die künftigen Koalitionäre damit beschäftigt hätten, wie überkommene Regulierungen – zum Beispiel das Personenbeförderungsgesetz, oder Zweckentfremdungsregelungen auf dem Wohnungsmarkt – die Entwicklung neuer Unternehmen und neuer Arbeitsplätze behindern.

Die Kunst guter Politik ist es, Großes groß zu entscheiden, Kleines dagegen im politischen Alltag zu behandeln. Nur dann kann man Bürger für neue politische Wege gewinnen. Die künftige Große Koalition – wenn sie zustande kommt – macht es anders herum. Sie macht das ganz Kleine ganz groß. Für das Große aber ist schon am Anfang dieser Legislaturperiode keine politische Energie mehr übrig.

Dieser Beitrag ist eine erweiterte und aktualisierte Version eines Kommentars der Autorin im Tagesspiegel.

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