Thomas Schmid, Träger des Ludwig-Erhard-Preises für Wirtschaftspublizistik 2008, setzt mit seinem Beitrag unsere Artikelserie zum Thema Asylpolitik fort. Er ist der Meinung, dass eine Gesellschaft in aller Regel mehr Zuwanderung verträgt, als sie glaubt. Dennoch müsse sich Deutschland die Integration als ein Projekt vornehmen, das einen langen Atem erfordert.

Zugegeben, es fällt schwer zu entscheiden, ob es bewundernswerter Mut oder in höchstem Maße fahrlässiger Übermut gewesen war, der die deutsche Bundeskanzlerin bewogen hat, im September dieses Jahres für ziemlich offene Grenzen zu plädieren. Mehr noch: War es Sturheit oder Weitsicht, auch dann noch zu dieser Entscheidung zu stehen, als längst schon in Bayern, in ganz Deutschland, in Ungarn, Polen und vielen anderen europäischen Staaten der Ruf nach Grenzziehung und Flüchtlingsabwehr sehr laut geworden war? Einiges spricht dafür, dass Angela Merkel zwar eine richtige Entscheidung getroffen hat, dies aber ohne wirkliche Ahnung der Probleme tat, die darauf folgen würden. Sie wagte – für sie ungewöhnlich – einen Schritt ins Offene. Wer einen solchen Schritt wagt, geht ein hohes Risiko ein.

All jenen, die Frau Merkel heute als kopflos oder als „moralische Imperialistin“ kritisieren, muss man freilich entgegenhalten, dass sie bislang – über den Ruf nach Wiederherstellung des alten nationalstaatlichen Grenzregiments hinaus – keinerlei Ideen und Vorschläge vorzubringen haben, wie denn das Flüchtlingsproblem, das weit über Europa hinausreicht, zu lösen oder wenigstens zu mildern sei. Wenn die Staaten der Europäischen Union ihr altes nationalstaatliches Regiment wieder in Kraft setzen, dann haben sie zwar sich selbst – vielleicht – irgendwie geschützt. Sie hätten dann aber ihre Augen vor der Tatsache verschlossen, dass wir spürbarer und direkter als je zuvor in einer Welt leben und dass uns die Miseren in der arabischen Region und anderswo wirklich etwas angehen – nicht nur, weil Europa und die USA an ihnen nicht unschuldig sind. Wir sollten also nicht mehr so tun, als ginge uns das nichts an.

Unsere Gesellschaft ist schützenswert

Der Mittlere Osten wird nach menschlichem Ermessen auf absehbare Zeit ein schwärender Konfliktherd bleiben, und auch in anderen Regionen der Welt wird es sich ähnlich verhalten. Weil die Menschen dort kaum noch Hoffnung auf ein auskömmliches Leben und eine sich selbst tragende Entwicklung ihrer Länder haben, ist es nur zu verständlich, dass sie ihrer Misere entfliehen und dorthin gehen wollen, wo Wohlstand, Sicherheit und politische Stabilität herrschen: nach Europa, das leichter zu erreichen ist als die Vereinigten Staaten. Das heißt, dass Europa, die Staaten Europas und die EU viel besser werden müssen in der Kunst, Einwanderer nicht nur unterzubringen, sondern wirklich aufzunehmen, anzunehmen, ihnen die Regeln des europäischen Zusammenlebens zu erklären, nahezubringen und gegebenenfalls auch autoritativ zu oktroyieren. Zwar ist es richtig, dass Europas Aufnahmekapazität nicht unendlich groß ist und deswegen Instrumente zur Begrenzung von Einwanderung nötig sind. Viel mehr Energie, Aufmerksamkeit und politische Kraft sollte aber in das schwierige Geschäft der Aufnahme von Flüchtlingen investiert werden. Integration: Das ist die gewaltige Aufgabe, vor der Europa steht.

Manche Grünen-Politiker, allen voran Katrin Göring-Eckardt, hören derzeit nicht auf, lauthals zu verkünden, sie freuten sich darauf, dass durch die neue Einwanderung Deutschland markant verändert werde. Das ist ein unfreundliches und fahrlässiges Argument. Unfreundlich, weil es die Flüchtlinge als Schutzsuchende insofern nicht ernst nimmt, als es sie zu Agenten einer gewünschten Veränderung Deutschlands macht und damit instrumentalisiert. Fahrlässig ist das Argument, weil in ihm eine beträchtliche Missachtung der Gesellschaft mitschwingt, in der wir leben. Natürlich werden die Einwanderer Deutschland verändern, schon deswegen, weil sie in ihrer großen Mehrheit Muslime sind. Aber sie verändern eine Gesellschaft, die sicher noch verbessert werden kann, die vor allem aber schützens- und bewahrenswert ist.

Das Grundgesetz, der Föderalismus, die kulturelle, landschaftliche, landsmannschaftliche und architektonische Vielfalt, die Herrschaft des Rechts, die in sich ruhenden Institutionen, die Achtung vor dem religiösen Glauben und die Ächtung des religiösen Fanatismus: Das alles sind Errungenschaften, die zum Teil hart erkämpft worden sind und die eine ganz eigentümliche Mischung aus Tradition und Moderne, aus Herkunft und Gegenwart, auch aus Vernunft und Gefühl darstellen. Die Balance, die hier gefunden wurde, ist nicht selbstverständlich, sie kann gestört und zerstört werden – deswegen muss sie bewahrt und gepflegt werden. Deutschland braucht nicht den Zuzug von vielen Einwanderern, um zu einem guten Land zu werden. Im Gegenteil, die Einwanderer müssen bemüht sein, ihrer neuen Heimat gerecht zu werden. Schließlich haben sie mit ihrer Entscheidung, nach Deutschland zu kommen, diesem Land ein großes Kompliment gemacht und zu erkennen gegeben, dass sie es seiner gegenwärtigen Verfasstheit für ein erstrebenswertes Gemeinwesen halten. Den – vermutlich nicht wenigen – Flüchtlingen aber, die nach ihrer Ankunft erst einmal keinen allzu großen Respekt vor unseren Regeln an den Tag legen, muss unmissverständlich klar gemacht werden, dass diese Regeln selbstverständlich auch für sie gelten.

Integration braucht Institutionen

Dabei können wir einiges aus der Einwanderung nach Deutschland lernen, die Ende der 1950er Jahre des vergangenen Jahrhunderts eingesetzt hat. Sie war zwar – von der Wirtschaft – gewollt, verlief aber in gewisser Weise naturwüchsig. Von der falschen Annahme ausgehend, dass die Arbeitsmigranten aus dem Süden Europas nach ein paar Jahren wieder in ihre Heimat zurückkehren würden, sorgten sich Staat und Wirtschaft lange Zeit wenig darum, dass die Migranten in der deutschen Gesellschaft auch mental ankommen. Sie wurden separiert, in eigenen Wohnheimen, untergebracht. Es gab weder in den Betrieben noch an Volkshochschulen noch sonst wo deutsche Sprachkurse für sie. Und erst recht gab es keine Bemühungen, sie mit der Kultur der Bundesrepublik, mit ihrem Grundgesetz, ihren Regeln und der Geschichte Deutschlands vertraut zu machen. Wie die Migranten sich nicht sonderlich für Deutschland interessierten, so interessierte sich Deutschland nicht sonderlich für die Migranten. Man lebte nebeneinander her. Dieses wechselseitige Desinteresse trug seinen Teil dazu bei, dass sich so viele Arbeitsmigranten und ihre Familien, auch selbstverschuldet, in einer eigenen Welt selbstgenügsam einrichteten und damit in der ersten Generation die Chance verpassten, in der Gesellschaft an- und voranzukommen.

Das sollte sich jetzt nicht wiederholen. Deutschland muss sich die Integration als ein Projekt vornehmen. Als ein Projekt, das langen Atem erfordert. Und das keineswegs von jener sozialarbeiterischen Mentalität getragen sein sollte, die früher viele Hilfsorganisationen für Ausländer auszeichnete und die heute manche Hilfsorganisation für Flüchtlinge prägt. Integration braucht Institutionen. So erfreulich die spontane und bis heute andauernde Hilfsbereitschaft so vieler Freiwilliger ist – die Zivilgesellschaft wäre mit der Aufgabe der Integration heillos überfordert. Der freiwillige Helfer kennt Aufs und Abs, und er hat jedes Recht, sein Engagement einzustellen, wenn es ihm passt. Staatliche Institutionen haben dieses Recht nicht. Integration ist daher in hohem Maße eine Staatsaufgabe. Zurzeit sind die Bundesländer und ihre Behörden vor allem damit beschäftigt, die Flüchtlinge zu verteilen und Unterkünfte für sie zu schaffen. Gleichzeitig – und nicht erst später – sollte in hohem Tempo mit der Schaffung von Institutionen der Integration begonnen werden, von den Kommunen bis zur bundesstaatlichen Ebene. Auch wäre ergebnisoffen zu erörtern, ob Deutschland vielleicht ein Integrationsministerium braucht, das allein schon mit seiner Existenz die Dringlichkeit der Aufgabe deutlich macht.

Lange schon lässt sich die Politik gerne fachlich beraten. Jetzt wäre es an der Zeit, allen wissenschaftlichen Verstand und alle wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Fragen von Migration und Integration zu mobilisieren und an die Politik heranzutragen. Wie lassen sich die Fehler vermeiden, die vor Jahrzehnten im Umgang mit den „Gastarbeitern“ gemacht wurden? Wie kam es zur unheilvollen Segregation der Maghrebiner in den französischen Banlieues? Fördert oder behindert der Sozialstaat die Integration? Was können wir aus der langen Geschichte der Integration in den USA lernen? Zu diesen und vielen sich anschließenden Fragen liegt weltweit eine große wissenschaftliche Expertise vor. Sie wäre jetzt abzurufen. Und vielleicht wäre die Gründung eines Bundesinstituts für Integrationsforschung sinnvoll. Gäbe es dieses Institut schon, dann könnte es jetzt einer dringlichen Aufgabe nachgehen, nämlich zügig die soziologische Zusammensetzung der Flüchtlinge zu erforschen, die in diesem Jahr nach Deutschland gekommen sind. Denn nur, wenn das bekannt ist, kann eine sinnvolle und zielgerichtete Politik der Integration beginnen.

Deutschland steht nicht vor der Selbstaufgabe

Nicht zuletzt geht es aber auch darum, wieder zu etwas mehr Gelassenheit zurückzukehren. Ja, es muss viel getan werden, um die Zahl der nach Deutschland Kommenden zu begrenzen. Das geschieht auch schon in einem vielteiligen, experimentellen Prozess. Hektische Hilfe- und Basta-Rufe sind dabei so wenig hilfreich wie voreilig in die Öffentlichkeit getragene Vermutungen, auf den Flüchtlingsrouten sei eine nennenswerte Zahl islamistischer Terroristen unterwegs. Wie auch der nicht weniger hektische Ruf nach mehr „Willkommenskultur“ wenig hilfreich ist. Das gut organisierte und institutionell ressourcenreiche Deutschland besitzt große Kapazitäten, mit der in der Tat großen Herausforderung der Flüchtlingsfrage produktiv umzugehen. Wir stehen nicht vor der Selbstaufgabe des Staates. Es gehört zu den schönen Eigenschaften Deutschlands, dass es zur Selbstkorrektur fähig und alles andere als ein „failing state“ ist.

Und vergessen wir nicht: Zwar gibt es Grenzen der Belastbarkeit. Es gilt aber auch: Eine Gesellschaft verträgt in aller Regel mehr Zuwanderung, als sie glaubt. Und auch mehr Zuwanderer aus Kulturkreisen, die der Mehrheitsgesellschaft erst einmal fremd sind. Ein gutes Beispiel dafür liefert die Geschichte des Einwanderungslands par excellence, der USA. Lange Zeit waren sie von Einwanderern vor allem aus England geprägt, die Puritaner oder Quäker waren. Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Zahl der Einwanderer mit katholischem Glauben – etwa aus Irland, Italien und Deutschland – zunahm, sahen sich viele Gemeinden Amerikas bedroht. Sie fürchteten, die Katholiken würden die Homogenität der bestehenden Städte, Dörfer und Weiler zerstören und das bisher friedliche Leben mit religiösen Konflikten aufladen. Jahrzehntelang fand eine breite öffentliche Debatte über die „katholische Gefahr“ statt. Und einer der am lautesten erhobenen Vorwürfe gegenüber den Katholiken lautete, sie könnten gar keine loyalen Amerikaner werden, da sie im Zweifelsfall nicht dem amerikanischen Präsidenten, sondern dem Papst in Rom gehorchen würden. Es hat sehr lange gedauert, bis sich die Überzeugung durchgesetzt hatte, auch praktizierende Katholiken könnten gute US-Bürger sein. Dass New Yorks Kardinal Francis Spellman ein wichtiger Berater von Papst Pius XII. war, führte noch während der 1950er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in der amerikanischen Öffentlichkeit zu Verwerfungen. Und als im Jahr 1960 John F. Kennedy als Präsidentschaftskandidat der Demokraten antrat, fehlte es im Wahlkampf nicht an Versuchen, dem Kandidaten die Eignung für das Präsidentenamt mit dem Argument abzusprechen, der Mann sei doch Katholik und daher nicht glaubwürdig. Kennedy gewann dennoch. Es hatte mehr als 150 Jahre gedauert, bis sich in den USA die Einsicht durchgesetzt hatte, dass die amerikanische Demokratie auch Katholiken verträgt und zu integrieren vermag.

Auch Deutschlands Integrationskraft ist größer, als etliche vermuten. Und es wird wohl ebenfalls eine Weile dauern, bis sie das einsehen.

Hier geht es zum Blog des Autors: www.schmid-Blog.de.

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