Wie sind die im Koalitionsvertrag formulierten Pläne der Großen Koalition nach den Erhard’schen Prinzipien von Freiheit und Verantwortung zu bewerten? Lesen Sie die Antwort von Wolfgang Clement, Ministerpräsident a.D. und Bundesminister a.D., der 2014 mit dem Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet wurde.

Es ist schon verrückt: In der europäischen Politik ist die mutmaßliche dritte Große Koalition Angela Merkels, von der harten Hand Wolfgang Schäubles befreit, offensichtlich bereit, sich dem dynamischen französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dessen Werben um eine erneuerte EU in die Arme zu werfen. Auf den wichtigsten nationalen Politikfeldern hingegen bewegen sich die beiden Nachbarn geradezu spektakulär auseinander. Ein Beobachter hat das treffend so beschrieben: „Frankreich wird immer deutscher, und Deutschland wird immer französischer.“

Während Macron – nicht ohne Erfolg – dabei ist, eine Art französische „Agenda“ zu realisieren, also den starr gewordenen heimischen Wirtschafts- und Arbeitsmarkt flexibler und wettbewerbsfähiger zu machen, die Unternehmen des Landes steuerlich zu entlasten und die Bildungspolitik nach den Regeln des „Förderns & Forderns“ (und mit deutlich mehr finanziellem und praktischem Elan) zu forcieren, weist das unter größten politischen Schmerzen zustande gekommene, sehr umfängliche Koalitionspapier der Altvorderen Merkel, Seehofer und Schulz in genau die entgegengesetzte Richtung.

Der schon von der noch amtierenden Regierung Merkel/Gabriel beschrittene Weg wies unübersehbar in Richtung von mehr Staat statt Privat, von stetig steigenden Steuereinnahmen, immer höheren Sozialleistungen (siehe: Rente ab 63 oder Mütterrente I) und wieder zunehmender Regulierung (Zeitarbeit, Werkverträge, Entgeltgleichstellungsgesetz). Dies soll nun in offenbar noch höherem Tempo so weitergehen: Von der Grundrente und einer Mütterrente II bis zu alsbald unhaltbaren „Haltelinien“ für Renten- und Beitragshöhe, von immer kleinteiligeren Eingriffen in die Verantwortungsbereiche von Unternehmern und Selbständigen (in Befristungen von Arbeitsverhältnissen, in die Handhabung von Voll- und Teilzeitarbeitsverhältnissen oder in die Vergabe von Hausarztterminen und Öffnungszeiten von Kassenarztpraxen) bis hin zu einer noch forcierten Energiewende, die mit (im internationalen Vergleich) weit überhöhten Tarifen, permanenten Interventionen ins Marktgeschehen und den auf dem Fuße folgenden, von Steuerzahlern und Tarifkunden finanzierten Subventionen den Grundregeln einer „Sozialen Marktwirtschaft“ geradezu hohnspricht.

Positiv vermerken will man gern die angekündigten Investitionen in Bildung, Wissenschaft und Forschung und in die digitalen Infrastrukturen. Aber sie sind viel zu zaghaft, um unser Land in die Weltligen der erfolgreichsten Bildungs-, Wissenschafts- und IT-Nationen zu transferieren. Sechs von 46 zusätzlichen Steuermilliarden für Kindergärten, Schulen und Hochschulen – da bleibt Chancengerechtigkeit für die „bildungsfernen Schichten“ noch lange ein Traum. (Macron investiert übrigens in unserem Nachbarland zusätzlich 15 Milliarden Euro in diesen Bereich!) E-Government mit Vernetzung aller staatlichen Ebenen und mit einem Portal für Bürger und Unternehmen „mit großer Dynamik vorantreiben“ zu wollen – wie das Koalitionspapier verspricht –, das bedeutet übersetzt: Auch in der neuen Legislaturperiode, also bis 2021, wird nichts Fertiges mehr daraus. Da kann man nur voller Neid in den europäischen Nordosten, ins längst voll digitalisierte Estland schauen!

Doch Hoffnungsschimmer lassen sich auch hierzulande ausmachen: In Berlin ist jetzt allenfalls eine Regierung des Übergangs im Werden. Die Zeit für die neuen Generationen in der politischen Führung Deutschlands rückt unweigerlich heran. Man möchte ihnen dreierlei wünschen: mehr Ehrgeiz als ihn die jetzt Regierenden aufbringen; mehr Vertrauen statt Misstrauen in den guten Willen der riesigen Mehrheit der Bürger und der Unternehmen; und eine unmissverständliche Orientierung an den Grundregeln der Sozialen Marktwirtschaft. Sie ist, wie im Vertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion der damals zwei deutschen Staaten präzise beschrieben, die Wirtschaftsordnung ganz Deutschlands. Und sie muss von einem sozialen und liberalen, also staatsfernen Denken und Handeln getragen sein. Das muss endlich wieder unser Leitbild werden!

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