Das Bundeswirtschaftsministerium sei das „Kraftzentrum für Soziale Marktwirtschaft“, so Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag im Februar 2018. Jürgen Jeske, Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung, befasst sich mit der Frage, wie realistisch eine Renaissance der Sozialen Marktwirtschaft ist.

Es wäre zu schön, um wahr zu sein: eine Renaissance der Sozialen Marktwirtschaft im Geist Ludwig Erhards. Peter Altmaier, der neue Bundeswirtschaftsminister und langjährige glaubensstarke Optimist im Kanzleramt, gibt sich jedoch zuversichtlich. Er sieht eine solche Erneuerung und schwärmt bereits davon, die Soziale Marktwirtschaft wieder zu einem Exportartikel „made in Germany“ zu machen. Gleichzeitig soll das in den vergangenen Jahrzehnten in seiner Bedeutung zurückgefallene, aber auch oft unterschätzte Wirtschaftsministerium zu einem „Service-Ministerium“, vor allem für den Mittelstand werden. Altmaier weiß sich im Einklang mit der Bundeskanzlerin, die nach dem Verzicht auf das Finanzministerium auf dem letzten CDU-Parteitag erklärte, das Wirtschaftsministerium sei das „Kraftzentrum der Sozialen Marktwirtschaft“. Es liege jetzt „an uns“, also der CDU-geführten Regierung, etwas daraus zu machen.

Das wäre im Grunde sehr zu begrüßen. Aber wie realistisch ist das? Das Wirtschaftsministerium ist 1949 in den Schlangenbader Beschlüssen als Querschnittsressort konstruiert worden. So sollten in seinen Geschäftsbereich grundsätzlich alle Aufgaben gehören, die für die Führung der Wirtschaftspolitik von Bedeutung sein könnten. Dem Ministerium komme die Stellung „eines Generalreferenten der Bundesregierung für alle Wirtschaftsfragen“ zu, hieß es. Es sollte, anders gesagt, eine umfassende ordnungspolitische Zuständigkeit erhalten. Eine solche Zuordnung ist von Anfang an, wie überhaupt die Ordnungspolitik, ein deutsches Spezifikum gewesen. In anderen europäischen Ländern ebenso wie in den Vereinigten Staaten gibt es das nicht. In dieser Rolle als kontrollierende ordnungspolitische Instanz und Mahner zur ökonomischen Vernunft ist das Ministerium in wechselnden Regierungskoalitionen und unter unterschiedlich durchsetzungsfähigen Ministern nicht immer erfolgreich gewesen. Selbst Erhard, der das Ministerium in seinen Anfängen maßgeblich geprägt hat, konnte sich nicht immer durchsetzen. So blieb bei der wahltaktisch erfolgreichen Rentenreform von 1957 (dynamische Rente) die ökonomische Vernunft ebenso auf der Strecke wie in Teilen der Europa-Politik. Später wurde auch mehrfach der Aufgabenbereich gestutzt.

Soziale Marktwirtschaft als Exportartikel?

Überhaupt ist die deutsche Wirtschaftspolitik unter Erhard von 1948 bis zu seinem Abgang 1966 keineswegs durchweg prinzipienfest gewesen. Die Soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik war eher eine pragmatische Mischung zwischen Marktfreiheit und Staatseingriffen, was nicht zuletzt mit ihrer offenen, anpassungsfähigen Konzeption zusammenhängt. Erhard, der Pragmatismus immer wieder angeprangert hat, meinte dazu, selbst in der politischen Praxis müsse man ab und zu sündigen; aber wer den rechten Weg wisse, dürfe auch mal abweichen. Aber wissen alle, die heute über die Wiederbelebung der Sozialen Marktwirtschaft sprechen, den „rechten Weg“? Was ist überhaupt heute, siebzig Jahre nach Verkündung der Sozialen Marktwirtschaft, der rechte Weg? Wie soll die Renaissance der Marktwirtschaft in einer Regierungskoalition vonstattengehen, in der sich zwar Union und Sozialdemokraten beide zur Sozialen Marktwirtschaft bekennen, aber unterschiedliche Akzente setzen?

In der SPD drängt ein starker Flügel weiter nach links zu mehr Gerechtigkeit, Solidarität und Umverteilung. Das zeigt gerade erst wieder die Diskussion um ein „solidarisches Grundeinkommen“. In der CDU will die Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer in einem neuen Grundsatzprogramm darlegen, wie die Soziale Marktwirtschaft unter den Bedingungen von Globalisierung und Digitalisierung erneuert werden kann. Man darf gespannt sein, wie viel von Erhards Geist sich darin wiederfindet; denn die Katholikin Kramp-Karrenbauer wird zum Sozialflügel der CDU gerechnet. In jüngsten Veröffentlichungen beruft sie sich jedoch gern auf Erhard und den Neoliberalen Wilhelm Röpke.

Schon in dem vom Sachverständigenrat zu Recht kritisierten Koalitionsvertrag sind eine neue Umverteilungswelle und ein weiterer Ausbau des ohnehin schon zu großen Sozialstaates vorgezeichnet. Ist also am Ende keine „Renaissance der Sozialen Marktwirtschaft“ zu erwarten, sondern eher ein Weiterregierungs-Kompromiss zweier im Wesentlichen sozialdemokratischer Parteien – auf Kosten der steuerlich geschröpften Mittelschicht sowie zulasten nachfolgender Generationen und der Zukunft des Landes im weltwirtschaftlichen Konkurrenzkampf? Der große Liberale Friedrich August von Hayek hat einmal gesagt, die größte Bedrohung für die freie Marktwirtschaft sei, wenn Konservative mit Sozialisten falsche Kompromisse schlössen.

Zweifel sind auch angebracht, ob sich das Modell der Sozialen Marktwirtschaft noch als Exportartikel eignet. Sie war es über viele Jahre hinweg bis nach der Wiedervereinigung, dem Niedergang des Sowjet-Kommunismus und der Liberalisierung in Mittel- und Osteuropa. Inzwischen hat sich Ernüchterung breitgemacht. In vielen Ländern bestimmen jetzt autoritäre Regime und Oligarchen die Politik. Der Wirtschaftsriese China hantiert virtuos mit dem Markt, doch in der Wirtschaftspolitik hat die kommunistische Partei das letzte Wort. In den Vereinigten Staaten wirft ein nicht mehr berechenbarer Präsident mit „Deals“ und Protektionismus die Prinzipien einer liberalen Marktwirtschaft über Bord. Die Gefahr eines Handelskrieges wie Anfang der dreißiger Jahre wächst wieder. Natürlich ist Deutschland wegen seiner wirtschaftlichen Erfolge und seines Reichtums noch immer sehr attraktiv, doch der Export seines Wirtschaftsmodells hätte einen Preis, den viele Länder nicht zahlen können oder mangels Reformbereitschaft nicht zahlen wollen.

Ein neuer Gesellschaftsentwurf ist nötig

Wer eine Renaissance der Sozialen Marktwirtschaft anstrebt, braucht zuerst einen politischen Konsens darüber, was Soziale Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert überhaupt bedeuten soll. Der ohnehin nicht eindeutige Begriff ist in den vergangenen Jahrzehnten zu einer leeren Worthülse geworden, die mit unterschiedlichsten Inhalten gefüllt wird. Die einen sehen darin eine Rechtfertigung von möglichst viel staatlicher Sozialpolitik. Die anderen deuten den Begriff als Aufforderung zu mehr freiem Markt. Für Erhard war Soziale Marktwirtschaft keine politische Handlungsanweisung, sondern ein ethisches Leitbild, in dessen Mittelpunkt der eigenverantwortlich handelnde Einzelne und kein Kollektiv stand. Daraus abgeleitet war eine Ordnung, die Freiheit mit Verantwortung verbindet und eine freie Wettbewerbswirtschaft mit sozialer Sicherheit und Hilfe für die wirklich Schwachen.

Siebzig Jahre nach Erhards Wirtschaftsreform von 1948 ist aber aus seiner Idee ein Wohlfahrts- und Versorgungsstaat geworden, in dem sich Interessengruppen Verteilungskämpfe liefern und das Gesamtwohl längst vergessen ist. Erhard, der diese fatale Entwicklung selbst erkannte, hat 1965 noch einmal versucht, mit einem neuen gesellschaftspolitischen Entwurf (Formierte Gesellschaft) dem entgegenzuwirken, ähnlich wie John F. Kennedy mit seinem Konzept der „New Frontier“ und, daran anknüpfend, Lyndon B. Johnson mit der „Great Society“. Er wollte den Einfluss der organisierten Interessengruppe zurückdrängen, das Gemeinwohl wieder in den Mittelpunkt rücken und eine neue Balance zwischen Gesellschaft, Staat und Wirtschaft herstellen. Doch seine Vision war zum Teil unausgereift, blieb umstritten und scheiterte.

Auch eine Renaissance der Marktwirtschaft wird sich nur mit einem neuen Gesellschaftsentwurf herbeiführen lassen, einer Zielvorstellung, wohin und auf welche Weise sich dieses Land in den kommenden Jahren bewegen soll. Denn genau eine solche Zielvorgabe vermissen die Menschen heute in einer zunehmend komplexer werdenden Welt.

Der Blick zurück hilft dabei nicht weiter. Dazu haben sich die für eine Soziale Marktwirtschaft notwendigen Voraussetzungen zu sehr verändert. Die Wertvorstellungen in der Gesellschaft haben sich gewandelt. Das vom Staat betreute Kollektiv erscheint erstrebenswerter als Freiraum für den Einzelnen. Die Bindekraft von Institutionen bröckelt. Die Globalisierung beschränkt den Nationalstaat, an dem sich die Mehrheit der Menschen festhält. Die Gesellschaft altert. Aus Krisengebieten drängen Flüchtlinge nach Deutschland. Die Digitalisierung verändert nicht nur die Kommunikation, sondern wird auch in der Wirtschaft tiefgreifende, zum Teil noch gar nicht erkennbare Änderungen bewirken. Diesem Wandel muss eine Erneuerung der Marktwirtschaft Rechnung tragen. Union und SPD werden dazu freilich unterschiedliche Vorstellungen haben.

Darüber hinaus wird eine Renaissance der Marktwirtschaft auch eine Korrektur von Fehlentwicklungen vor allem in der ausgeuferten Sozialordnung nötig machen. Inwieweit das alles in dieser Regierungskoalition gelingen kann, bleibt abzuwarten. Bisher haben sich die Beteiligten darauf beschränkt, alle Gegensätze mit viel Geld zuzuschütten. Das ist populär, führt aber kaum zu einer wirklichen Renaissance der Sozialen Marktwirtschaft.

Jürgen Jeske, bis 2002 Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, erhielt 1994 den Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik. Seit 1997 ist er Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung. Sein Artikel ist zuerst am 18. April 2018 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter dem Titel „Zu schön, um wahr zu sein – Gelingt eine Renaissance der Sozialen Marktwirtschaft?“ erschienen (© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv).

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