Man kann sich natürlich, wenn auch zu immensen Kosten, noch eine ganze Weile vor der Einsicht drücken, aber letztlich wird kein Weg daran vorbei führen: Die deutsche „Energiewende“ ist die teuerste der Welt – und als eine solche ist sie zugleich die an Widersprüchen reichste und an Erfolgen ärmste. Das heißt: Sie ist gescheitert.

Was wir brauchen, ist eine grundlegend andere Energie- und Klimaschutzpolitik. Die Gründe liegen auf der Hand: Erstens, niemand hat die deutsche Politik gezwungen, sich einer Zielsetzung zu verschreiben, die schon aus der Sicht des Jahres 2007 überambitioniert und im Blick auf die EU-Beschlusslage (minus 40 Prozent CO2-Emissionen bis 2030) politisch und fachlich kontraproduktiv, also unsinnig war. Mit dem abrupten, aus der gegebenen Sachlage nicht zu begründenden und rechtlich zweifelhaften Atomausstieg ab dem Jahr 2011 wurde es endgültig unerreichbar, die CO2-Emissionen in Deutschland, gemessen an den Daten des Jahres 1995, schon zehn Jahre früher, also bis 2020 um 40 Prozent zu mindern.

Momentan bewegen wir uns bei 28 Prozent unter dem Wert von 1995. Und dabei ist noch bemerkenswert, dass sich der Rückgang der Treibhausgas-Emissionen im Laufe der Jahre spürbar verlangsamt hat. In den ersten fünf Jahren war es der Zusammenbruch der vormaligen DDR-Industrie, der – wenn auch ungewollt – zur Hilfe für den Klimaschutz wurde. Im Laufe der Jahre schwächte sich der Rückgang sodann Schritt für Schritt ab. Zwischen 2014 und 2016 ist er – all der kostspieligen Förderung der erneuerbaren Energien zum Trotz – nahezu zum Stillstand gekommen.

Angesichts dessen wirkt es geradezu verbohrt, wenn CDU/CSU und SPD nunmehr in ihrem 28-seitigen Sondierungspapier zur Großen Koalition unterschrieben haben, mit einer „Sonderausschreibung“ für Onshore- und Offshore-Wind- sowie Solaranlagen im Umfang von acht bis zehn Millionen Tonnen CO2 wolle man dem heimischen Klimaschutzziel 2020 wenigstens so nahe wie möglich kommen, dies allerdings unter der „Voraussetzung“ der „Aufnahmefähigkeit der Netze“. Jeder weiß, dies wird nicht der Fall sein bzw. wird nur im Wege von Stromexporten zu „Minuspreisen“ oder Subventionen für willkürlich stillzulegende Kohlekraftwerke zu bewerkstelligen sein.

Atomausstieg: Rückschlag für die deutsche Klimaschutzpolitik

Das heißt, wenn es nicht zu einer grundlegenden Wende der „Energiewende“ kommt, werden die deutschen Stromkunden und Steuerzahler jährlich weiterhin für die forcierte Förderung von Wind- und Solaranlagen, für den nunmehr über weite Strecken Unter-Tage-Leitungsbau sowie für die Stabilisierung der Stromversorgung und/oder vorzeitig stillzulegende konventionelle Kraftwerke jährlich mehr als 30 Milliarden Euro aufzuwenden haben.

Zweitens hat der vorgezogene deutsche Atomausstieg nicht nur die großen deutschen Energieversorgungsunternehmen zerschlagen, Vermögen vernichtet und Steuergelder verschlungen, sondern er bedeutete zugleich einen gewaltigen Rückschlag für die deutsche Klimaschutzpolitik. Er nahm und nimmt mit der Nukleartechnologie die CO2-ärmste konventionelle Energiequelle als unverzichtbare Grundlast vom Markt und stärkt – was absehbar war – die kostengünstigste, aber CO2-reichste Braunkohle.

Emissionsärmere Gaskraftwerke haben dagegen keine Chance. Sie sind teurere Stromerzeuger und arbeiten nur wirtschaftlich rentabel, wenn sie ihre Leistung zu Spitzenzeiten verkaufen können – also dann, wenn unter anderem die EEG-geförderte Solarenergie präsent ist. Auch modernste Gaskraftwerke liegen inzwischen still. Und so wurde das zentrale Ziel der Energiewende, die CO2-Emissionen für den Klimaschutz so schnell und so weitgehend wie möglich zu senken, zu Makulatur.

Dass Umweltschutzorganisationen dennoch – nach dem Atomausstieg – prompt den kompletten Kohleausstieg fordern, war zu erwarten. Sie tun das buchstäblich ohne Rücksicht auf Verluste, und zwar sowohl im Blick auf die Wirtschaftlichkeit als auch auf die Sicherheit der Energieversorgung. Zumal die Hoffnung auf energetische Hilfe aus unseren Nachbarstaaten trügt. Diese wären nicht in der Lage, den deutschen Grundlastbedarf verlässlich zu gewährleisten – nicht einmal mit den uns umgebenden, teils ziemlich in die Jahre gekommenen Atomkraftwerken.

Energiewende: Staatswirtschaftliche Veranstaltung

Der dritte Fehler war und ist die Vorstellung einer isolierten deutschen Energiewende, die bei unseren Nachbarn längst auf viel Verdruss, Ärger und Kritik stößt. Deutschland hat mehr Nachbarn – insgesamt neun – als alle anderen EU-Mitgliedstaaten. Sie mit unseren gelegentlich – je nach Wetterlage – überschüssigen Strommengen zu bedrängen, ist eine Zumutung. Das führt zu Netzstörungen; wir gefährden damit teils deren Versorgungssicherheit, teils ihre nationalen Umbaukonzepte; und sie tun das oft nur gegen Bares, sogenannte Minuspreise.

So erscheint die deutsche Energiewende als eine insgesamt vor allem auf Wind- und Solarenergie verengte, nationale und staatswirtschaftliche Veranstaltung, wie sie jedenfalls in Westdeutschland noch nie gegenüber einer Branche praktiziert wurde. Es gibt keine energiewirtschaftliche Bewegung in diesem Kräftespiel, die nicht auf staatliche Intervention zurückzuführen wäre und entsprechende Subventionen auslöste. Die nationalstaatliche Ausführung ist zudem aus europäischem Gesichtswinkel rechtlich so problematisch wie politisch, auch klimapolitisch unsinnig. Binnenwirtschaft findet nicht statt, preisgünstigere Stromexporte – beispielsweise aus dem an erneuerbarer Elektrizität reichen Dänemark – müssen draußen bleiben, weil Deutschland sonst in zwei Strompreiszonen in Nord und Süd auseinander dividiert werden könnte.

All dies ergibt eine Melange, in der sich die deutsche Energiewende verfangen hat. Sie hat sich in einem regulatorischen Verhau aus Tarif-, Preis-, Steuer- und Subventionsgesetzen und Verordnungen verheddert, der an Intransparenz, Komplexität und Innovationsfeindlichkeit kaum mehr zu überbieten ist. In der Konsequenz bewirkt dies, dass die energieintensive Industrie unser Land verlässt. Großinvestitionen aus diesem Sektor finden inzwischen jenseits unserer Grenzen, nunmehr überwiegend in den USA statt, wo sie steuerlich gefördert, statt hierzulande verteuert und überreguliert zu werden.

Und die politische Konzentration auf die Stromerzeugung (statt auf die Wärmeerzeugung, die rund die Hälfte des Endenergieverbrauchs ausmacht) und hier auf bestimmte Technologien, nämlich auf Wind- und Solarenergie, erweist sich längst – vor allem mangels Speichermöglichkeiten – als fatal. Sie fördert den Absatz von Strom (oder von Dämmstoffen oder von E-Autos) statt Forschung und Entwicklung mit dem Ziel von Innovationen, die im Zeitalter der Digitalisierung und unter dem Eindruck der globalen Klimaschutzpolitik auf nahezu allen Feldern an Fahrt gewinnen.

Eine der Sozialen Marktwirtschaft verschriebene Europäische Energieunion

Was ist zu tun? Die Antwort liegt auf der Hand. Sie ergibt sich zum Ersten aus unserer, übrigens im Vertrag zur deutschen Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mustergültig normierten Sozialen Marktwirtschaft, die der DDR-Staatswirtschaft im Jahr 1990 auch von Rechts wegen ein Ende setzte. Und die Antwort ergibt sich zum Zweiten aus dem, was wir sind und sein wollen, nämlich: ein europäisches Deutschland. Die Konsequenz aus beidem ist nichts anderes als eine der Sozialen Marktwirtschaft verschriebene Europäische Energieunion.

Der Appell geht an die, die auf dem Wege sind, politische Verantwortung in der neuen Legislaturperiode zu übernehmen. Es gilt, die Weichen im Sinne einer umfassenden Klimaschutzpolitik in Richtung Markt, Wettbewerb und Europa zu stellen und dabei vor Augen zu haben, dass die Energiewende alle Sektoren des Energieeinsatzes im Blick haben muss, also Strom und Wärme für Haushalte und die Industrie ebenso wie für Verkehr, Gebäude und Landwirtschaft. Dies marktwirtschaftlich zu steuern, geht nicht über die Festlegung bestimmter Technologien – was nicht Aufgabe von Politik, sondern der Märkte ist –, sondern nur über den Preis oder über Steuern, konkret: über einen wirksamen europäischen Emissionshandel, gegebenenfalls durch CO2-Abgaben ergänzt.

Der Emissionshandel, wie er europäisches Recht ist, darf aber nicht mehr, wie heute, durch alle möglichen nationalen Subventionen unterlaufen werden. Markt funktioniert nur frei, Subventionen stören oder zerstören ihn! Deshalb müssen sich alle EU-Mitgliedstaaten, die sich am Emissionshandel beteiligen, auf gemeinsame, in allen Staaten gleichermaßen gültige Standards, auch gleiche Förderstandards für erneuerbare Energien oder – besser – für Wissenschaft und Forschung verständigen.

Den europäischen Energiemarkt vollauf in Gang zu bringen, das geht schließlich nur über dementsprechende grenzüberschreitende Infrastrukturen. Deren Finanzierung soll rund 1,5 Billionen Euro beanspruchen. Sie sollte privat erfolgen, wozu eine öffentliche Anlauffinanzierung – etwa aus dem „Juncker-Topf“, der ausschließlich auf Energie- und IT-Projekte ausgerichtet werden sollte – und attraktive Investitionsbedingungen notwendig sind.

Die Energiewende vom Jahr 2000 bis heute war ein teures, sehr teures Lehrstück. Aber es ist noch nicht zu spät. Doch dazu müssen die „Willigen“ in Deutschland wie in der EU die Weichen jetzt neu stellen. Für eine wirkliche, also wirksame europäische Energie- und Klimaschutzpolitik.

Ministerpräsident a.D. und Bundesminister a.D. Wolfgang Clement wurde im Jahr 2014 mit dem Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet. Lesen Sie hier seine Preisrede.

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