Was François Fillon von den Reformern Jacques Rueff und Ludwig Erhard lernen kann.

Der französische Präsidentschaftskandidat François Fillon will die Wähler für ein liberales Reformprogramm gewinnen, um damit die maroden Staatsfinanzen zu sanieren und die krisenhaften Zustände mit hoher Arbeits­losigkeit, unzureichenden Perspektiven des Wirtschaftswachstums und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit zu überwinden. Fillon muss hierzu dem eingefleischten französischen Etatismus und Interventionismus den Kampf ansagen.

Auf diese Tradition der staatlichen Wirtschaftsplanung ging nach 1945 die französische „Planification“ zurück – mit einem Staat, der als entscheidender Impulsgeber und Planer für den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt angesehen wird, tatsächlich aber oft den Wandel verhindert, die Wirtschaft eher gebremst und auch hinsichtlich der europäischen Einigung in eine Sackgasse geführt hat.

Um dieser Situation zu entkommen, liegt es nahe, dass sich Fillon auf die andere französische Tradition stützt, nämlich die des wirtschaftsliberalen Denkens. Zu den größten französischen Reformern zählt Jacques Rueff (1896 bis 1976), der in seinem Leben Professor, hoher Finanzbeamter, Regierungsberater und Notenbanker war, später an der europäischen Einigung mitwirkte und Europarichter wurde. Auf ihn kann Fillon zurückgreifen, wenn es um marktorientierte Reformen geht.

Die Erfolge von Jaques Rueffs Reformprogramm

Immerhin hat Rueff in seinem wissenschaftlichen Hauptwerk „L’ordre social“ (1. Auflage 1945) die Grundlagen für eine moderne, freiheitliche „Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“ geschaffen. Das wäre nach dem Tübinger Ökonomen und Frankreich-Kenner Josef Molsberger der treffendere Titel für Rueffs Opus magnum. Rueff war ein geistiger Frühaufsteher. Wie sein Freund Wilhelm Röpke und andere große Liberale sah sich Rueff als international angesehener Wissenschaftler in der Pflicht, geistige Triebkraft der Politik zu sein. Er wollte den bedrückenden Problemen nicht mit einer Symptombehandlung, sondern mit einer tiefgreifenden Therapie begegnen.

Rueffs große Stunde als liberaler Reformer und Politikberater kam 1957/1958, als Frankreich der „kranke Mann Euro­pas“ war. Das Wachstum hinkte hinter Deutschland hinterher, die Defizite und die Inflation waren zu hoch. Rueff und einigen anderen Fachleuten gelang es in dieser Situation, die französische Regierung unter Charles de Gaulle von den Vorteilen eines liberalen Stabilisierungs- und Reformprogramms zu überzeugen. In den Misserfolgen Frankreichs sah er kein unabwendbares Schicksal, sondern ein Versagen des protektionistisch-etatistischen Systems. Bei Rueffs Rosskur ging es konkret darum, das Land unter den Bedingungen des verschärften Wettbewerbs in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) konkurrenzfähig zu machen und politisch zu stabilisieren. Rueff hatte den eisernen Willen, die Inflation zu stoppen, die Staatsverschuldung abzubauen, das Subventionschaos und wettbewerbswidrige „Sklerosen“ auf den Güter- und Arbeitsmärkten zu beseitigen, auf Handels- und Devisenmarktbeschränkungen zu verzichten, die Währung abzuwerten und den neuen Franc konvertibel und attraktiv zu machen. Hierzu konnte Rueff auch auf die vorher in Westdeutschland erzielten Erfolge verweisen. In diesen sah er das schlüssige Ergebnis von Ludwig Erhards marktwirtschaftlicher Ordnungspolitik.

Und tatsächlich – trotz aller Unkenrufe – war die finanzielle und wirtschaftliche Gesundung Frankreichs schon nach fünfzehn Monaten mit Händen zu greifen, wie sich an der Inflationsentwicklung, der Aktivierung der Leistungs- und Devisenreservebilanz sowie dem Beschäftigungs- und Einkommenswachstum zeigte. Doch Rueffs Reform blieb schließlich im Sog kurzsichtiger nationalstaatlicher Ziele der gaullistischen Regierung stecken, ja sie fiel neuen planifizierenden Aktionsprogrammen zum Opfer.

Wir brauchen ein Ordnungsprogramm für Europa

Reformer müssen auf ihrem steinigen Weg hart im Nehmen sein. Auch Erhards Politik wurde von seinen Gegnern gar als Verbrechen gebrandmarkt. Was könnte dem Vorhaben Fillons besonders schaden? Die heutige Eurozone ist etwas ganz anderes als die EWG. Der Glaube, die Währungsunion mit einheitlicher Geldpolitik und einem Wechselkurs würde gleichsam im Selbstlauf Fehler in der nationalen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik ausschließen oder korrigieren, ist widerlegt worden. Das liegt auch daran, dass es keine harte Budgetbeschränkung gibt (wie sie eigentlich ein wirklicher Stabilitätspakt mit harten Defizitregeln erzwingen sollte), was Reformen unausweichlich gemacht hätte. Stattdessen gibt es einen pervers elastischen Zugang zu munter sprudelnden Quellen für eine „weiche“ politische Kreditversorgung.

Das Bewusstsein, wie gravierend die Probleme Frankreichs und der Eurozone sind, ist in der Öffentlichkeit vernebelt worden. Vernünftige und notwendige nationale Anpassungen und Reformen können dadurch leichter abgewählt werden. Die Währungsunion hat das Anreizniveau für moralisches Fehlverhalten auf dem Wählerstimmenmarkt maßlos erhöht. Und der einheitliche Wechselkurs wirkt für Frankreich wie eine aufgezwungene Überbewertung. Eine Abwertung der Währung fällt – anders als in Rueffs Reformkonzept – als Mittel der wirtschaftlichen Gesundung aus. Daher rührt ein umso stärkerer Reformzwang in den übrigen, sozial besonders sensiblen Bereichen. Die Währungsunion in ihrer heutigen Verfassung ist deshalb geeignet, aus liberalen Reformvorhaben eine Sisyphusarbeit zu machen.

Was könnte Fillons Reformpolitik unterstützen? Um aus der Sackgasse herauszukommen, gibt es eigentlich keine funktionsfähige und menschenwürdige Alternative. Es hat in der Zeit Rueffs nur ganz wenige Liberale unter Frankreichs Wirtschafts- und Währungsprofessoren gegeben. Heute gibt es in Frankreich weltoffene liberale Netzwerke auch mit Studenten und jüngeren Wissenschaftlern. Von diesen kann erwartet werden, dass sie Fillons Politik in den Medien ähnlich begleiten, wie es im Falle Erhards die Neo- und Ordoliberalen sowie ordnungsökono­misch geschulte Publizisten getan haben. Fillons Reformpläne könnten in Frankreich größere Zustimmung finden, wenn die anderen EU-Länder mit entsprechender Zielrichtung den Wettbewerb der Ordnungen befeuern würden – ganz im Sinne von Erhard: „Wir brauchen kein Planungsprogramm, wir brauchen ein Ordnungsprogramm für Europa.“ Es wäre ein Kontrapunkt zum fatalen Brüsseler Vereinheitlichungsstreben, das den Wettbewerb der Lösungen eher behindert.

Prof. em. Dr. Alfred Schüller lehrte VWL an der Universität Marburg.

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