Emmanuel Macron oder Ludwig Erhard – wessen ordnungspolitischem Modell soll Europa folgen? Die Ernennung eines „Euro-Finanzministers“ ist eine trügerische Heilsidee.

CDU-Politiker berufen sich in Notzeiten ihrer Partei gerne auf Ludwig Erhard. Dessen Reformen konnten im ersten Wahlkampf der Bundesrepublik vor fast 70 Jahren als Erfolge der CDU ausgewiesen werden. Aus der Sozialen Marktwirtschaft und der CDU ist ein Verhältnis der inneren Zusammengehörigkeit entstanden. Zugleich hat der erste Wirtschaftsminister der Bundesrepublik alles getan, um diese Ordnung nicht nur im Prozess des westdeutschen Wiederaufbaus, sondern auch der europäischen Einigung und der Eingliederung Deutschlands in die Weltwirtschaft zu bewahren. Von daher erklärt sich auch Erhards Widerstand gegen ein dirigistisches Europamodell im Verständnis Frankreichs, das sich im deutsch-französischen Wettbewerb der Systeme schon in der Nachkriegszeit nicht bewährt hat.

Erhard wollte als „wahrhaft guter Europäer“, wie er sich verstand, von Anfang an verhindern, dass die Pläne von Millionen von Menschen durch zentrale europäische Lenkungs-, Harmonisierungs- und Finanzierungsprogramme dominiert, die Marktstrukturen und die Marktprozesse mit der Gefahr von Interventionsspiralen verzerrt werden können. Erhard war gegen einen Staat, der mit seinen Ausgaben und Einnahmen die Wirtschaftsprozesse steuern will. Er wollte damit verhindern, dass die marktwirtschaftliche Ordnung mit staatlich dekretierten oder tolerierten Wettbewerbsbeschränkungen und einer verfälschten Wettbewerbsauslese im politischen Prozess harten Zerreißproben ausgesetzt wird. Erhard hätte sich nicht angemaßt, aus der Vielzahl der privatwirtschaftlichen Investitions- und Beschäftigungsmöglichkeiten in Europa diejenigen zu kennen, durch die die volkswirtschaftliche Gesamtleistung schneller und nachhaltiger zum Steigen gebracht werden kann als im Rahmen marktwirtschaftlicher Ordnungen mit einer subsidiären Sozial- und Bildungspolitik.

Planungsprogramm statt Ordnungsprogramm?

Mit dem Hinweis auf Steigerungsraten der Produktion in Deutschland, die sich im internationalen Vergleich sehen lassen konnten, hat er erfolgreich für seine wachstumsbeflügelnde Ordnungspolitik geworben. Davon zeugt zum Beispiel sein leidenschaftliches Eintreten für die Schaffung und Sicherung marktwirtschaftlicher Rahmenbedingungen, für die Abschaffung wirtschaftspolitischer Privilegien und die Eingliederung öffentlicher Unternehmen in die Wettbewerbsordnung, für privatwirtschaftliche Alternativen zur wachsenden Staatstätigkeit, für eine stabile Währung, marktgerechte Wechselkurse, ein innovations- und wettbewerbsförderndes Steuer- und Finanzsystem, für offene Märkte und die Beseitigung staatlicher Wachstumsschranken.

Damit wird eine ganz andere Leidenschaft für Europa sichtbar, als sie gegenwärtig in den dirigistischen Reformvorschlägen von Emmanuel Macron zum Ausdruck kommt, die der französische Präsident für die Neuausrichtung Europas gemacht hat. Das Lob von deutscher Seite kann als Bekräftigung der französischen Position gedeutet werden: Wir brauchen kein Ordnungsprogramm, wir brauchen ein Planungsprogramm für Europa.

„Die beste Integration Europas, die ich mir vorstellen kann, beruht nicht auf der Schaffung neuer Ämter und Verwaltungsformen oder wachsender Bürokratien, sondern sie beruht in erster Linie auf der Wiederherstellung einer freizügigen internationalen Ordnung.“ (Ludwig Erhard 1962)

Schon 1954 stellte Erhard klar: Die europäische Zusammengehörigkeit kann keine ökonomische Achsenbildung Paris–Bonn unter dem Banner eines planifizierenden staatlichen Dirigismus bedeuten. Erhard dürfte davon ausgegangen sein, dass Frankreich und die den französischen Ideen auch damals schon geistig nahestehende Kommission durch Beschränkung des Systemwettbewerbs alles versuchen werden, die „Planification“ auf europäischer Ebene zu etablieren. Dieser Ordnungswandel ist insbesondere mit der Währungsunion unter Berufung auf den janusköpfigen Maastrichter Vertrag von 1992 auf verhängnisvolle Weise schon weit fortgeschritten – freilich ohne die marktwirtschaftliche Alternative auszuschließen, wäre diese politisch gewollt.

Für Erhard, der die Fallstricke einer konsensualen Wirtschafts- und Integrationspolitik kannte, galt eine Übereinstimmung mit Frankreich auch und gerade dann als gebotene rücksichtsvolle Zusammenarbeit, wenn gegenseitig reiner Wein eingeschenkt und der Erkenntnis Rechnung getragen wird, dass es angesichts grundlegend verschiedener Positionen und der Unvereinbarkeiten, die sich daraus ergeben, besser ist, in entsprechenden Fragen nicht übereinzustimmen.

Friedensstiftung als Hauptzweck der europäischen Integration

Was wäre ein Europa ohne Währungsunion heute für ein Segen? Was wäre mit einem europäischen Finanzminister als dem vermeintlichen Nothelfer und Erlöser aus einer sehr schlechten Situation gewonnen? Dieser müsste unter Berufung auf eine von oben organisierte Gemeinschafssolidarität durch Überzeugungskraft oder kraft Amtes seinen Willen gegenüber den Mitgliedern der Eurozone durchsetzen können. Wie kann das angesichts eines ungeheuren Konfliktpotenzials gelingen, das sich angesammelt hat und aus fortbestehenden gegensätzlichen nationalen Solidaritätsvorstellungen und Verteilungserwartungen entstanden ist?

Der europäische Finanzminister würde sich zwischen allen Stühlen wiederfinden. Was soll er nach welchen Gesichtspunkten und mit welcher Bindungskraft entscheiden und planen? Er wäre selbst eine „politische Figur“ (Christian Watrin) und hätte es mit der vollen Macht der Staats- und Regierungschefs, nationaler Interessenverbände und zweckpolitischer Verteilungskoalitionen zu tun. Dagegen würde er sich mangels hinreichender Ordnungsgewalt schwertun, im Interesse einer Sanierung der Staatsfinanzen und einer beschäftigungswirksamen Stärkung der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit den heute schon überbordenden staatlichen Umverteilungs-, Lenkungs- und Kreditmechanismus zurückzudrängen. Neid und Anfeindungen werden die Aufgabe, den politischen Frieden zu bewahren, unlösbar machen. Die Friedensstiftung ist aber letztlich der Hauptzweck der europäischen Integration.

Auf dem französischen Weg ist weiterhin keine konkurrenzfähige Alternative zum marktwirtschaftlichen Typ der internationalen Ordnung erkennbar. Bei aller Vielfalt der ordnungspolitischen Gestaltungsmöglichkeiten kommt es entscheidend auf die budgetäre (Eigen-)Disziplin der Mitgliedstaaten einer Wirtschafts- und Währungsunion, auf unverfälschte Preise und Wechselkurse, offene Märkte und die Bereitschaft der Zentralbank an, sich aus dem Bereich politischer Einflüsse und Kreditversorgungsprogramme verlässlich herauszuhalten.

Entsprechend wäre zu folgern: „Wir brauchen kein Planungsprogramm, wir brauchen ein Ordnungsprogramm für Europa“ – so forderte Erhard 1962 in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament. Das setzt in Deutschland voraus, dass aus der wohlverstandenen Sozialen Marktwirtschaft und der stärksten Volkspartei wieder eine Einheit wird.

Prof. Dr. Alfred Schüller lehrte Volkswirtschaftslehre an der Universität Marburg und war Direktor der Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssysteme.

Schriften von Ludwig Erhard zum Thema europäische Integration:

Wer ist ein guter Europäer? (1955)

Europa: Institution? Kooperation? Integration? (1957)

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