Besprochen wird: Thilo Sarrazin, Wunschdenken. Europa, Währung, Bildung, Einwanderung – warum Politik so häufig scheitert, München 2016, 571 Seiten.

Thilo Sarrazin, früher Finanzexperte in herausragenden politischen Stellungen und derzeit vieldiskutierter deutscher Publizist, hat als Summe seiner Erfahrungen und Ideale nun eine Art Handbuch für gute Politik vorgelegt: wie in allen seiner Bücher anschauungsgesättigt, zahlenunterlegt, in präziser, manchmal sarkastischer Sprache – und spannend zu lesen.

Wie ist der Autor im ordnungspolitischen Spektrum einzuordnen? Er nennt sich selber einen „optimistischen Technokraten“ und Agnostiker, zitiert gern Karl Popper, Max Weber und Friedrich August von Hayek, bekennt sich zur offenen Gesellschaft, ist gegen staatlichen Paternalismus und für Marktwirtschaft und Privatisierung (außer in der Sozialversicherung) und für politische Dezentralisation. Man könnte ihn am ehesten als pragmatischen liberal-konservativen Denker bezeichnen, mit – wie sich versteht – Loyalität zum deutschen Gemeinwesen und europäischen Kulturwerten.

Die Kunst des richtigen Augenblicks in der Politik

Das Buch beginnt mit differenzierten Betrachtungen über Erfolgsfaktoren erfolgreicher Gesellschaften. Nach einem kritischen Kapitel über kollektivistische Utopien in Vergangenheit und Gegenwart (bis zur aktuellen Gleichheitsutopie absoluter „Inklusion“) wendet er sich den Regeln und Prinzipien guten Regierens zu, eine moderne Version früherer „Fürstenspiegel“. Was legitime und was illegitime Regierungsziele sind, wird plausibel ausgeführt unter dem Motto „zehn Regeln für den guten Regenten“, ebenso werden die Grundsätze guter Regierung formuliert – derlei liest man heutzutage selten. Interessant sind auch Sarrazins Ausführungen über den aus der griechischen Mythologie stammenden Begriff des „Kairos“, also die Kunst des richtigen Augenblicks in der Politik.

In großer Breite wird dann das Gegenteil guter Politik dargestellt („Wie politische Fehler entstehen und was sie bewirken“) und dies in Fallstudien deutscher Politik deutlich gemacht, die dafür ja in jüngster Zeit reichlich Material bietet: von der Währungs- bis zur Energie- und Klimapolitik, von der kopflosen Einwanderungspolitik (Stichwort: die „Entgrenzung“ Deutschlands), dem Umgang mit dem Demographieproblem bis zu Fragen des Bildungswesens, welches Sarrazin im Niedergang sieht. In der deutschen Politik sieht er Unwissenheit, Anmaßung, Bedenkenlosigkeit, Opportunismus und Selbstbetrug am Werke („Wer schützt eigentlich ein Land, wenn seiner Regierung die Urteilskraft abhandengekommen ist?“). Die Zukunft Deutschlands hänge von der Behandlung der Immigrationsfrage, dem Umgang mit seinem demographischen Problem und der Qualität seiner Bildungsstrukturen ab. – „Nicht auch von einer funktionierenden Marktwirtschaft?“, müsste man in diesem Kanon noch fragen.

Moderate Kritik am Wohlfahrtsstaat

Das konkret für Deutschland in der Welt Wünschbare wird in weiteren Kapiteln ausgeführt, wobei Sarrazin die Sicherung der Grenzen besonders am Herzen liegt. Man könne die Welt nicht als große Allmende betrachten: „Die Besiedlung und Kultivierung eines Landes und der Aufbau einer entwickelten Gesellschaft verleihen unveräußerliche, vererbliche Rechte an die dortigen Einwohner, von denen man andere ausschließen kann.“ Darum spricht sich der Autor für eine selektive Einwanderungspolitik aus. Seine Vorschläge für eine Reform des Sozialstaates sind nur sehr vorsichtig liberal. Sein Leitbild für Europa ist das einer Föderation souveräner Staaten mit der finanziellen Nichthaftungsregel, denn einen europäischen Bundesstaat hält er für undurchführbar. In der Währungsfrage ist Sarrazin Monetarist. In einem langen Anhang von 160 Seiten Umfang werden Beobachtungen und Erfahrungen zum politischen Leben zusammengestellt, beispielsweise Politik und Religion, Erotik, Gefühl und Eitelkeit – das ist interessant zu lesen, aber nicht gut für die Gesamtarchitektonik dieses sowieso vielschichtigen Buches.

Insgesamt ist das vorliegende Werk ein gedankenreiches, unabhängiges, couragiertes Buch, das von einem gemäßigt-liberalen und wertkonservativen Standpunkt aus verfasst wurde. Der Orientierungswert für das allgemein interessierte Publikum ist beträchtlich und auch für jeden Politiker, der nicht, wie Sarrazin es nennt, in die Gattung der gefühlvollen Dilettanten oder gesichtslosen Opportunisten fällt. Einem konservativen Neoliberalen wie beispielsweise Wilhelm Röpke einer war, hätte dieses Buch sicher gut gefallen, auch wenn er sich wohl eine schärfere Kritik am Wohlfahrtsstaat gewünscht hätte.

Prof. Dr. Gerd Habermann ist Vorsitzender der Friedrich August von Hayek-Stiftung für eine freie Gesellschaft.

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