Wenige Tage vor der Bundestagswahl sagen laut Umfragen rund 40 Prozent der Wählerinnen und Wähler, dass sie unentschlossen seien. Also vielleicht doch noch einen letzten Blick in die Wahlprogramme riskieren? Immerhin sollte dort schwarz auf weiß formuliert sein, mit welchen Vorstellungen die etablierten Parteien im Wahlkampf überzeugen wollen.

Den Aufgaben der Stiftung gemäß konzentriert sich dieser Beitrag auf entsprechende Aussagen. Der Fokus auf sechs Wahlprogramme ergibt sich aus der sich abzeichnenden Besetzung des neu zu wählenden Bundestages. Demnach werden die Programme von CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP, Die Linke und AfD betrachtet.

Besonderes Augenmerk dieser Betrachtung liegt auf drei Aspekten: Wettbewerb, Ordnungspolitik, Soziale Marktwirtschaft. Die Erwähnung dieser Schlüsselworte allein hat zwar wenig Aussagekraft zur tatsächlich praktizierten Politik. Aber sie geben eventuell Hinweise auf politische Leitlinien für die nächste Legislaturperiode.

Soziale Marktwirtschaft – Schlagwort für Sonntagsreden

Ein erster Blick offenbart: Auch die neue Wahlperiode wird in Bezug auf Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft mager ausfallen.

  • Im „Regierungsprogramm“ von CDU/CSU taucht der Begriff lediglich zweimal auf (zum Vergleich: „Angela Merkel“ wird namentlich fünfmal genannt).
  • Die SPD nennt die „soziale“ Marktwirtschaft fünfmal und verbindet mit dem Begriff vor allem Sozialpolitik.
  • Zweimal fällt der Begriff mit klein geschriebenem Adjektiv bei den Grünen, davon einmal als Kombination „soziale und ökologische“ Marktwirtschaft.
  • Die FDP gibt sich − wenig überraschend − am stärksten marktorientiert: Hier wird Soziale Marktwirtschaft siebenmal aufgeführt. Auch der Bezug auf „marktwirtschaftliches“ Handeln fällt hier besonders häufig.
  • Die Linke findet Soziale Marktwirtschaft – auch ohne Adjektiv davor – nicht erwähnenswert.
  • Im AfD-Wahlprogramm schließlich findet der Suchende einmal die „soziale Marktwirtschaft“.

Insgesamt fühlte man sich bei der Konzeption der Wahlprogramme in den Parteizentralen – mit Ausnahme der Liberalen – nicht von Überlegungen herausgefordert, das ansonsten in zahlreichen politischen Sonntagsreden gern genutzte Schlagwort „Soziale Marktwirtschaft“ für die kommenden vier Jahre mit Inhalten zu füllen.

„Weil aber Mode über den Tag hinaus weder ein Bekenntnis abverlangt noch eine programmatische Festlegung erfordert, lässt sich schließlich sagen, dass das, was sich auf dem Feld der Parteipolitik abzeichnet, eben auch nur den Zeitgeist widerspiegelt.“
(Ludwig Erhard 1970)

Ordnungspolitik und Wettbewerb

Entsprechendes ließe sich auch mit „Ordnungspolitik“ oder „Wettbewerb“ durchexerzieren. Dass zum Beispiel „Die Linke“ mit Ordnungspolitischem wenig anzufangen weiß, überrascht nicht. Dass dieser Begriff im Programm von CDU/CSU nicht vorkommt, schon.

Bemerkenswert ist auch die Konnotation von „Wettbewerb“ in den Programmen. Während die FDP hierin eindeutig ein Instrument für Innovation und Fortschritt sieht, drucksen die anderen Bewerber ein wenig herum: Für CDU/CSU ist der Wettbewerb zwar weitgehend akzeptabel, aber das vorhandene Level kann immer noch korrigiert und hin zu besserer „Wettbewerbsfähigkeit“ geregelt werden. Im „Regierungsprogramm“ der SPD − auch hier sieht man sich zu mehr als einem Wahlprogramm berufen − wird über Wettbewerb, der hier und da noch herzustellen oder zu verbessern sei, geschrieben. Bündnis 90/Die Grünen wollen in vielen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft einen „fairen“ Wettbewerb bei Regierungsbeteiligung etablieren. Die AfD sieht sich an drei Stellen ihres Programms bemüßigt, den Wettbewerb zumindest zu nennen. Den Gegenpol zur FDP bietet in diesem Zusammenhang Die Linke. Hier ist bei rund 20 Nennungen Wettbewerb immer negativ besetzt: Unterbietungs-, ruinöser oder neoliberaler Wettbewerb lauten im Programm die gängigen Interpretationen.

Vollbeschäftigung! Aber wie?

Vollbeschäftigung ist eines der Grundziele der Sozialen Marktwirtschaft. Wenn alle in Eigenregie ihren Lebensunterhalt und ihre Vorsorge managen sollen, ist Vollbeschäftigung unabdingbar. Wer ohne Arbeit ist, hat kein Einkommen, um den Alltag selbständig zu gestalten. Wie schwer ein Vergleich der sechs Wahlprogramme fällt, lässt sich an diesem Thema und in Bezug auf die soziale Sicherung, vor allem im Alter, besonders gut belegen:

  • CDU und CSU wollen bis 2025 Vollbeschäftigung erreichen und den Mindestlohn von bürokratischen Hemmnissen befreien. Da die Rente bis 2030 sicher sei, soll eine Kommission bis Ende 2019 ergründen, wie es unter Beibehaltung der drei Säulen – gesetzliche, berufliche und private Altersvorsorge – nach 2030 weitergehen soll. Wie der Wähler bei einem derart weiten Zeithorizont daraus etwas für seine nähere und mittelfristige Zukunft ableiten soll, bleibt das Geheimnis des „Regierungsprogramms“.
  • „Wir sorgen für sichere Arbeit mit dem Ziel der Vollbeschäftigung in Deutschland“, das behauptet die SPD. Wie das gelingen soll? Dank eines Rechtes auf Weiterbildung. Dabei soll ein neues Arbeitslosengeld Q – „Q“ für Qualifizierung – geschaffen werden. Es soll verhindern, dass Arbeitslose in die Hartz-IV-Sicherung fallen. In der Rentenfrage soll umgehend eine große Reform in Angriff genommen werden. Das Rentenniveau von 48 Prozent wird garantiert, eine Solidarrente für Geringverdienende soll eingeführt werden.
  • Die Linke fordert längere Bezugsdauern für das Arbeitslosengeld I. Hartz IV soll abgeschafft und stattdessen durch eine Mindestsicherung von 1.050 Euro ersetzt werden. Eine Erhöhung des Mindestlohns (auf 12 Euro/Stunde), eine Mindestrente für Geringverdiener in Höhe von 1.050 Euro, höhere Mütterrente, Absenkung des Renteneintrittsalters auf 65 sowie ein Rentenniveau von 53 Prozent ergänzen den Forderungskatalog.
  • Bei den Grünen geht es darum, den Mindestlohn und die Hartz-IV-Sätze „menschenwürdig“ anzuheben und Sanktionen für Hartz-IV-Bezieher abzuschaffen. Die Rentenversicherung wird umgebaut in eine „Bürger*innenversicherung“, sodass alle – Abgeordnete, Minijobber, nicht anderweitig versicherte Selbständige – in diese Kasse einzahlen. Eine Garantierente für Geringverdiener und pflegende Angehörige gehört ebenso in den Vorhabenkatalog.
  • Die FDP wiederum plant, anstelle der einzelnen sozialen Sicherungen alles in ein „Bürgergeld“ zu bündeln. Der Mindestlohn soll entbürokratisiert werden. Die Bürger können ab dem 60. Lebensjahr selbst entscheiden, ob und wann sie in Rente gehen wollen. Um einen gesicherten Lebensabend zu gewährleisten, sollen betriebliche und private Vorsorge vom Staat gefördert werden.
  • Die AfD schließlich fordert, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I an die Dauer der Erwerbszeiten zu knüpfen. Zudem sollen mehr Steuergelder in das Rentensystem transferiert werden. Wer 45 Jahre gearbeitet hat, kann abschlagsfrei in Rente gehen. Zuverdienste als Rentner sind ohne Anrechnung auf die Rentenbezüge möglich.

Die Frage, wie Vollbeschäftigung geschaffen werden kann, ist mit diesen divergierenden Feststellungen und Forderungen kaum zu beantworten. Vage bleibt zudem bei allen Vorhaben, wie die jeweiligen Maßnahmen finanziert werden sollen.

„Parteiprogramme sollten tiefer wurzelnde, über Legislaturperioden hinausreichende Bekenntnisse und nicht Sonderangebote vor Wahlen sein.“
(Ludwig Erhard 1970)

Demokratische Debatte? Fehlanzeige

Beim Versuch einer Gesamtschau der Programme lässt sich feststellen, dass die Vorstellungen der beiden Noch-Großkoalitionäre am geringsten divergieren. In den beiden Programmen wird nahezu alles breit abgedeckt − vieles eher kurz gestreift −, was der politische Wortbau- und Wortsetzkasten hergibt: Arbeitsmarkt, Europa, Steuergerechtigkeit, Welt, etc. p.p. − alles zu finden.

Die „kleinen Vier“ decken dagegen eher unterschiedliche Schwerpunkte ab, sodass ein Vergleich erst recht erschwert wird: Die FDP hat ihren Bundestagswahlkampf weitgehend auf die Bildung − nicht weniger als die „weltbeste“ − fokussiert. Die Grünen setzen ihren Schwerpunkt auf Umwelt- und Klimapolitik, fast alle übrigen Politikfelder werden dem untergeordnet. Die Linke sieht künftige politische Aufgaben vor allem in der Umverteilung. Die AfD schließlich kann sich nur vorstellen, dass alles Nationale im Vordergrund zu stehen hat.

Interessante, zukunftsweisende wirtschafts- und gesellschaftspolitische Entwürfe über den Tag hinaus oder gar ein Leitbild sucht der Interessierte vergebens. Kollektivistisches Denken überwiegt, nach dem Individuum wird kaum gefragt. Ein grundsätzlicher demokratischer Streit um den „richtigen“ Weg in die nähere Zukunft: Fehlanzeige. Die Hunderte Seiten sind wenig hilfreich für die Wahlentscheidung, weil eine programmatische, an Grundsätzen orientierte Argumentation fehlt. Noch schlechter allerdings, als sich den Kopf über die Politik der kommenden vier Jahre zerbrechen zu müssen, wäre, keine Wahl zu haben.

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