„Unser Wirtschaftswunder – Die wahre Geschichte“, ein Film von Christoph Weber, lief erstmals im Sommer 2013 in der ARD-Reihe „Geschichte im Ersten“ über die Mattscheiben. Wer sich den Beitrag anschaut, erhält eine sehr spezielle Lehrstunde in Sachen Wirtschaftswunder.

Gelegentlich wird der Beitrag in den Spartenprogrammen der öffentlich-rechtlichen ARD gezeigt. Auf YouTube ist er rund um die Uhr anzuschauen, wo er bislang rund 28.000 Mal angeklickt wurde.

Der Film will den Zuschauer auf eine Recherche mitnehmen, die einem denkbar einfachen Muster folgt. Der Autor formuliert eine These, besucht einen Fachmann, wird aufgeklärt und muss erkennen: Alles gelogen! Nächste These, gelegentlich ein anderer Experte, neue erschütternde Wahrheiten – bis sich Weber zum Ergebnis durchgefragt hat, das schon in den Eingangssequenzen des Beitrags unausgesprochen vorgegeben wurde. Das „deutsche Wirtschaftswunder“ ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass die Bundesrepublik Schulden erlassen bekam und ehemalige Kriegsgegner – zum Beispiel Griechenland – Reparationsforderungen zurückstellten. Dementsprechend entwickelt der Film am Ende aus einer steilen These die Botschaft: Wenn wir heute Griechenland die Schulden erlassen würden, wäre alles im Lot.

Nur Mythen und Legenden

Mit ausgewählten Gesprächspartnern dieses Ergebnis herauszuarbeiten und alles, was jemals über das Wirtschaftswunder gesagt, gezeigt und geschrieben wurde, ins Reich der Mythen und Legenden zu verweisen, funktioniert nur durch Zuspitzung, Verkürzung und Verdrehung. Zu Beginn des Films wird beispielsweise der vermeintliche Fleiß der Deutschen in der Nachkriegszeit marginalisiert, indem betont wird, dass auch Menschen außerhalb Deutschlands diese Tugend besitzen. Belegt werden soll ein europaweites Wirtschaftswunder mittels Wachstumszahlen. Inwieweit die gezeigten Wachstumsraten von 8,5 Prozent in Deutschland und von 5 Prozent in Frankreich eine europäische Gleichmäßigkeit dokumentieren, bleibt allerdings offen. Dass vielleicht darüber hinaus Produktivitätsvergleiche oder Pro-Kopf-Zahlen ebenso Beachtung und Eingang in die Interpretation finden könnten – geschenkt. Festzustehen hat am Ende dieser Sequenz nur: Der Fleiß der Deutschen ist nur Stammtischgerede. Was wohl die Großeltern- und Wiederaufbaugeneration davon hält?

Die nächste Richtigstellung einer Falschmeldung aus der Wirtschaftswunderzeit lautet: Deutschland war „keineswegs flächendeckend so verwüstet wie behauptet“. Dies soll belegen, dass die bundesdeutsche Wirtschaft „nicht von Null“ gestartet sei. Woher diese Fehlinterpretation stamme? Vor allem aus den Wochenschauen in den Kinos, die immer nur Trümmer und Ruinen zeigten. Das ist insofern bemerkenswert, dass der Autor den Wochenschau-Machern unterschwellig Manipulation durch Bilder vorwirft. Wie war das nochmal mit dem Glashaus und den Steinen?

Weiter geht’s: Die D-Mark-Einführung – alles durch Amerika geschehen. Der später oft auch „Vater der D-Mark“ genannte Ludwig Erhard hat an dieser Stelle seinen ersten Auftritt und wird gleich in die richtige Perspektive gerückt: Bei den Diskussionen deutscher Fachleute zur Währungsreform – als „Konklave von Rothwesten“ bekannt – sei er nicht einmal anwesend gewesen! Und hier die erschütternde Wahrheit aus dem Terminkalender des Stiftungsarchivs: Das stimmt. Allerdings: Seine Arbeit als Vorsitzender der „Sonderstelle Geld und Kredit“ endete Anfang März 1948. Am 2. März war Erhard zum „Direktor der Verwaltung der Wirtschaft“ in der Bizone gewählt worden. Dumm nur, dass das Konklave zur Währungsreform am 20. April begann. Am Ende des Konklave, nach 49 Tagen, gaben die deutschen Wissenschaftler im Übrigen zu Protokoll: „Die drei Besatzungsmächte tragen für die Grundsätze und Methoden der Geldreform in ihren Zonen die alleinige Verantwortung.“

Punkt für Punkt zur wahren Wahrheit

Nächster Punkt auf der Liste: Mithilfe des Marshall-Plans wurden „ganze Fabriken wieder aufgebaut“ und… – Moment: Hieß es im Film rund sechs Minuten vorher nicht, Zerstörungen hätte es kaum gegeben und Wiederaufbau wäre eher nur vereinzelt nötig gewesen? Na, egal, wird schon stimmen, dass die Amerikaner sich den Marshall-Plan ausgedacht hatten, um Rohstoffe absetzen zu können, „die man im eigenen Land produzierte“. Dann mal ‘ran und ein paar Kilo Eisenerz produziert… Wozu überhaupt das Ganze mit dem Plan? Reine Propaganda der Amerikaner, um gegen die Kommunisten zu agitieren.

Weiter wird beschrieben, was sonst noch eine Rolle für das Wirtschaftswunder gespielt hat: Geflohene Facharbeiter waren wichtiger als der Marshall-Plan. Warum und wovor sie unter Lebensgefahr wegliefen – wen interessiert denn so etwas? Nicht nur die geflohenen Facharbeiter bildeten dann auch prompt „grenzenlos unterwürfige Belegschaften“, verehrten ihre Wirtschaftskapitäne vorbehaltlos, die eine „Arbeitsorganisation aus Sicht des Führerprinzips“ betrieben. Diese Aussage wiederum ist höchst beachtenswert, denn rund acht Minuten vorher erklärte ein ehemaliger VW-Vorstandschef, dass man selbstverständlich nach den neuesten amerikanischen Managementmethoden den Konzern gelenkt habe. Aber irgendwas mit „Führer“ macht sich immer gut.

„Führerprinzip“ war nur logisch für diese Nachkriegs-Wirtschaftskapitäne, denn sie entstammten, so klärt der hierzu befragte Fachmann auf, zu großer Zahl aus „Speers Kindergarten“, waren also zu Zeiten des Nationalsozialismus durch Albert Speer geprägt worden. Das und die Tatsache, dass deutsche Unternehmen, zum Beispiel VW, „mindere Qualität zu günstigen Preisen“ produzierten, führte zu „riesigen Gewinnen“. Der einzig genannte „Kapitän“ ist übrigens VW-Lenker Heinrich Nordhoff, ab 1948 Generaldirektor der Volkswagenwerk GmbH, andere Namen fallen nicht. Da durch den großen Mangel an fast allem die Produktionsanlagen wie von selbst liefen, waren Unternehmer in diesen Aufbaujahren eigentlich sogar überflüssig, wie dem staunenden Zuschauer erläutert wird. Und so waren alle eine große, glückliche Familie, und wenn sie nicht gestorben sind, dann…

Gewinner, Verlierer und Ludwig Erhard

Halt, nicht so schnell: „Standen wirklich alle Deutschen auf der Gewinnerseite des Wirtschaftswunders?“, so fragt der Autor. Selbstverständlich gab es nicht nur Gewinner, und das wird plakativ am Beispiel von Rosenthal Porzellan gezeigt: Verlierer waren beispielsweise ehemalige Inhaber arisierter Betriebe. Die Rückgabe enteigneter Unternehmen verlief schleppend und wurde vielfach durch Seilschaften aus Wirtschaft und Politik hintertrieben. Im Fall von Rosenthal hieß einer dieser Hintertreiber – Trommelwirbel, Tusch – Ludwig Erhard! Belegen soll das ein „amerikanisches Geheimdokument“, dessen Fund als Sensation deklariert wird. Erhard hatte Rosenthal beraten und dafür Geld bekommen. Ein ehemaliger CIA-Mitarbeiter bestätigt, dass man Erhard daher als bestechlich einstufte und er für die Amerikaner unglaubwürdig war.

Erhard war tatsächlich als Berater für Rosenthal tätig. Und dass er ab 1942 als Selbständiger – der im Übrigen auch eine Familie zu ernähren hatte – in Sachen Unternehmensberatung unterwegs war, ließe sich leicht nachlesen oder in der Stiftung erfragen. Man hätte dort auch einen Brief von Erhard an das „Office of Military Government for Germany, US (OMGUS)“ einsehen können, in dem Erhard seine Beratertätigkeit für Rosenthal „ab 1940/41“ darlegt. Im Brief spricht er sich aus wirtschaftlichen Gründen gegen die umgehende Rückabwicklung „zum jetzigen Zeitpunkt“ aus; dass eine Restitution anstand, wurde dagegen nie ausgeschlossen. Weiterhin hätte man freundliche Briefe zwischen Rosenthal und Erhard nachlesen können, die in den Nachkriegsjahren ausgetauscht wurden. Dass die Amerikaner ihre Beziehungen zu Erhard einstellten, lässt sich anhand zahlreicher Treffen von Amerikanern mit Erhard ad absurdum führen, bis hin zum Besuch John F. Kennedys 1963 in Bonn. Dass im Archiv der Stiftung einige von US-Universitäten verliehene Ehrendoktorate liegen, sei nur am Rande erwähnt.

Der Film endet dann nach knapp 45 Minuten nach einer etwas ausführlicheren Darstellung der schon am Beginn sich abzeichnenden Belehrung: „Es waren also die Griechen und andere Länder Europas“ sowie die Furcht der USA vor dem Kommunismus, die das Wirtschaftswunder möglich gemacht haben.

Grübelnder Autor auf Bilderreise

Um dieses Statement zu äußern, mussten viele Erkenntnisse aus jahrzehntelanger Beschäftigung mit der deutschen Wirtschaftsgeschichte vermeintlich zurechtgerückt werden. Es ist ja richtig, daran zu erinnern, welche Impulse der Korea-Krieg für die Ausfuhr deutscher Güter setzte, oder darauf hinzuweisen, welche Bedeutung die Flucht von Facharbeitern aus der DDR hatte. Der Marshall-Plan mag überschätzt worden sein; dass er aber ausschließlich der amerikanischen Angst vor einem kommunistischen Europa geschuldet gewesen sein soll, dazu hätte man noch ein paar andere Experten befragen können. Deren Antworten wären vermutlich erhellender gewesen, als dabei zuzusehen, wie der Autor während einer Autofahrt vor sich hin sinniert oder in ästhetisch ansprechenden Bildeinstellungen Industrieanlagen erklettert. Alles ist metallisch grau-blau, sodass altes Filmmaterial und aktuelle Szenen beinahe ineinander übergehen. Überhaupt unterstellt der Film in seiner Bildsprache mehr Enthüllendes, als tatsächlich gefunden und dokumentiert werden kann – sogar dann, wenn zu den Gesprächspartnern Wirtschaftshistoriker wie Werner Abelshauser und Albrecht Ritschl, Peter Sichel, der frühere Leiter der CIA in Berlin, oder Carl Hahn, der ehemalige VW-Vorstandschef gehören. Außerdem: Welche Lehren ergeben sich daraus für das eingangs angerissene Thema, die Euro-Krise?

Wer sich den Filmbeitrag ohne Pause ansieht, an dem fließt das Gezeigte vorbei und vermittelt den Eindruck: Alles Lüge! Keine Frage, die Dokumentation erfüllt insofern ihren Zweck. Mancher wird erschrocken innehalten und denken: „Kannst Du mal sehen, sogar der olle Erhard…“ Das funktioniert, weil Informationen weggelassen (oder nicht recherchiert), in andere Zusammenhänge gestellt oder schlicht unterschlagen werden. Hat der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht einen Bildungsauftrag? – Ach, lassen wir das.

Zumindest in einem Punkt stellt der Autor die richtige Frage: „Was wäre, wenn es auch eine ganz andere Sicht der Dinge gäbe?“

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