CHINA, DEUTSCHLAND UND DIE USA JUSTIEREN IHRE BEZIEHUNGEN – WAS WASHINGTON ÜBER PROTEKTIONISMUS UND GLOBALISIERUNG WISSEN SOLLTE

– – – Der nachfolgende Beitrag ist zuerst in der Börsen-Zeitung vom 24. März 2017 erschienen. – – –
Seit jeher wurde darüber philosophiert, wie der freie Handel so organisiert werden kann, dass er für alle Schichten und Akteure in der Gesellschaft nützlich ist und Wohlstand schafft. Neuerdings ist zudem viel die Rede davon, dass Globalisierung, Nationalstaat und Demokratie womöglich strukturell einfach nicht zusammenpassen, dass sie ein „Trilemma“ darstellen und immer nur zwei der drei Ziele miteinander vereinbar seien. Der neue US-Präsident Donald Trump hat mit seinem protektionistischen Kurs diese Debatte neu entfacht.

Die Trumponomics als Wirtschaftspolitik des „America first“ greifen tief in die gewohnten politischen Abläufe der Mächtigen dieser Welt ein. Zu schweren Irritationen führt der oft ungehobelte Stil des neuen US-Präsidenten. Wir werden Zeugen einer grundlegend neuen politischen und ökonomischen Plattentektonik. Ob sich Länder dagegen wehren können, zu vulkanischen Subduktionszonen zu werden, wie das Donald Trump für Amerika befürchtet, und ob sich andere Länder über die USA schieben werden, wie dies von China gemutmaßt wird, wird erst die Zukunft zeigen. Mental sind wir längst im Paradigma des Wirtschaftskriegs gefangen.

Es lohnt sich deshalb, über die wesentlichen Veränderungen des Welthandels zu berichten, zu schauen, welchen Beitrag die Theorie leistet, wie sie mit dieser Plattentektonik in Verbindung steht, und zu überlegen, welche Empfehlungen zu geben sind. Eine Reihe von ökonomischen Theorien erfasst die widersprüchlichen Vorstellungen über die Mechanismen des Handels und ihre Folgen für den Wohlstand:

(1) Die erste große Welle der Internationalisierung erfolgte durch Staaten und die durch sie belehnten großen Handelsgesellschaften. Tragende Idee war der Merkantilismus, der vortrug, Außenhandelsüberschüsse müssten erzielt werden, um damit Edelmetalle als Gegenwert zu erhalten, womit wiederum der Geldumlauf möglichst inflationsfrei erhöht und die Expansion der Wirtschaft vorangetrieben werden könne. Gold ohne Leistung macht aber allein nicht glücklich, wie zu Beginn der Neuzeit vor allem Spanien belegte, dessen Fülle von Staatspleiten mit dem Raubgold aus den Kolonien gerade nicht vermieden wurde. Die Durchsetzung des merkantilistischen Konzepts und die dadurch ausgelösten ökonomischen Konflikte waren daher meist auch militärische Konflikte: Merkantilismus und Imperialismus waren Schwestern europäischer Expansion.

Große Verteilungskonflikte

Es ist vor allem der Nationalstaat, der für seine Bürger eine Schutzposition beansprucht, sein Wohl (hier mit der Metapher der tektonischen Platte belegt) ist mit dem Wohl der Unternehmen und der Bürger aufs Engste verknüpft. Um dieses zu sichern, schickt er die Schutzbefohlenen auch in den Krieg: Napoleons Imperialismus zählt ebenso dazu wie die Opiumkriege in Fernost. Die grundlegende Maxime lautete: Ein Vorteil kann meist nur zulasten des Konkurrenten erzielt werden.

Tatsächlich haben Länder wie England über Jahrhunderte versucht, ihre Verteilungskonflikte zulasten anderer Länder zu lösen: Der demografische Druck wurde ebenso abgeleitet wie die Karriereaspirationen der Mittel- und Oberschicht.

(2) Schon damals stand diese merkantilistische Auffassung im Widerspruch zu einer ganz anderen Theorie – der des Physiokratismus, der staatliche Eingriffe in den Wirtschaftsprozess, und damit auch in die imperialistische Handelspolitik, vehement ablehnte. „Laissez faire, laissez passer, le monde va lui même“, lautet die Devise, die Vincent de Gournay prägte und die tatsächlich dem chinesischen Daoismus von Lao Zi und dem „Wu Wei“ entlehnt ist – und übrigens in der Deregulierung ihre Wiederauferstehung feierte. Wir fragen uns: Ist die Ökonomie Teil eines harmonischen Systems? Wurde durch permanente Eingriffe so viel Harmonie zerstört, dass das System irreparabel beschädigt ist und ein Befreiungsschlag erforderlich wird?

(3) Handel zum Vorteil und damit zum Frieden aller, besonders in republikanischen Gesellschaften, das war der dritte Kontrapunkt, den die damalige Zeit setzte. Montesquieu sprach vom „commerce doux“, Immanuel Kant verwies auf die Friedensfähigkeit der Republik als vom Volk bestimmte Staatsordnung. Die Verwerfungen des Handels durch den Versuch, Napoleons Exporte nach England zu blockieren, lieferten David Ricardo die Referenz für die ökonomische Theorie der komparativen Standortvorteile: Unter Vollbeschäftigungsbedingungen zählen nicht absolute, sondern relative Kostenvorteile, um Handel für alle vorteilhaft zu machen und friedensschaffend zu wirken.

Diese „Win win“-Situation stellt bis heute das dominante Paradigma der Freihandelsbefürworter dar. Aber ist es richtig? Was geschieht, wenn keine Vollbeschäftigung herrscht und starke Länder schwache ausbeuten können und wenn Länder die künftigen Erträge aus dem Freihandel im Sinne der Handelserwartungstheorie als negativ ansehen? Könnte das erklären, weshalb man dann lieber früher als später den Konflikt gegenüber dem bedrohenden Land wagt, solange die eigenen Karten noch gut sind? Oder alternativ: Mauern baut, um sich zu schützen, solange dies noch geht? Wurde nicht die forcierte Einigung Europas damit begründet, den Unwägbarkeiten der Globalisierung rechtzeitig etwas entgegenzusetzen? Machen Trump oder Xi Jinping das anders?

Garant für Wohlstand

Halten wir fest: Bereits vor über 200 Jahren stand die Zweischneidigkeit des Handels für die Verteilung von Wohlstand in der Diskussion. Faktisch war der Nationalstaat ein Garant für Wohlstand. Allerdings gibt es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend mehr Begründungen, Handel zu gestalten. Diejenigen, die für den Freihandel nach außen vehement kämpften, waren die Gleichen, welche die größten Manipulationen an ihm vornahmen, vornehmlich England als politisches Zentrum und dominante Wirtschaftsmacht des 19. Jahrhunderts. Ist dies die Blaupause für China heute? Sucht Donald Trump den Weg zurück? Den wesentlichen Theorierahmen dafür liefert ein heute fast vergessener Ökonom: Friedrich List.

(4) Ihm gelang es als einem der Ersten, einen Zusammenhang zwischen einerseits einer nationalen Innovations- und damit auch Handelsstrategie und andererseits den Wohlstandseffekten – und damit auch der Zustimmung zu den Regierenden – darzustellen. Er postulierte die Fähigkeiten des Staats, durch eine geschickte Infrastruktur-, Bildungs- und Zollpolitik arme Länder in reiche zu verwandeln. Seine Ideen lieferten die Grundlage für die ökonomische und politische Entwicklung Deutschlands zu einem wirtschaftlichen Kraftzentrum ab Mitte des 19. Jahrhunderts, was Konflikte mit England wohl unvermeidbar machte. Beide waren die größten Handelsnationen und -partner; aber jeder fragte sich auch, ob sich daraus nicht fatale Abhängigkeiten entwickeln konnten. England als bedeutende Handelsmacht wollte seine Technologie schützen und erzwang das Label „Made in Germany“; Deutschland benötigte als am stärksten expandierendes und importabhängiges Industrieland der Welt sichere Handelswege, die es bedroht sah, weshalb es eine Flotte aufbaute, die England als Provokation ansah.

Diese strategische Lage ähnelt massiv der in Fernost heute, worauf der frühere US-Außenminister Henry Kissinger regelmäßig hinweist. Und auch die deutsche Wirtschaftspolitik der damaligen Zeit stellt die Blaupause für den Aufstieg Chinas und den der großen und kleinen Tigerstaaten ab den siebziger Jahren bereit, weshalb Friedrich List dort heute zu den bekanntesten deutschen Ökonomen zählt.

Aus seinen Erkenntnissen entwickelte sich die moderne neue Außenhandelstheorie, welche die Vorteile des strategischen Handels betont und auch zeigt, weshalb es möglich ist, dass es Unternehmen gut, Ländern und Beschäftigten aber schlecht gehen kann – Erkenntnisse, mit denen sich nicht allein Donald Trump konfrontiert sieht.

Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman brachte es auf den Nenner: „Competitiveness: a dangerous obsession?“ Das Konzept der Wettbewerbsfähigkeit lasse sich nicht problemlos von Unternehmen auf Staaten übertragen, sagt er. Darum machen erfolgreiche Unternehmen dem Staat auch nicht problemlos Steuereinnahmen und Mittel zum Aufrechterhalten von Sozialstandards verfügbar – was etwa der „Rust Belt“ in den USA besonders schmerzhaft erfahren musste.

Wenn der Wohlstand nicht mehr bei allen ankommt, dann rüsten die Benachteiligten politisch auf. Weil die Grenzen der Umverteilung durch schwindende Möglichkeit gesetzt sind, globale Unternehmen zu besteuern, und die Steuerkonkurrenz der Länder auf soziale Belange keine Rücksicht nimmt, führen Steuerdumping und Steueroasen faktisch zur Deglobalisierung. Großen Ländern fällt es dann leichter als kleinen, ihre Größeneffekte auszuspielen – von riesigen Binnenmärkten, die das eigene Land stabilisieren und für kleinere Länder ein Lieferanreiz sind, bis hin zu Kostendegressionseffekten, nicht nur in der Industrie, sondern auch in den Finanzmärkten. Steckt dies hinter den Trumponomics?

(5) Globalisierung ist mehr als Internationalisierung. Hinzu tritt nämlich der Verfall der Informationskosten, und die Welt wird flach, wie der Ökonom Thomas Friedman ausführt. Arbeitsteilung kann in kleinste Einheiten fragmentiert werden, und die Industrie 4.0 wird die Optionen der Unternehmen beträchtlich erweitern, dort zu produzieren, wo die einzelnen Aufgaben am günstigsten zu erledigen sind.

Konkurrenz der Arbeiter

Nach der Konkurrenz der Staaten und der Konkurrenz der Unternehmen entwickelt sich damit eine Konkurrenz der Beschäftigten. Früher boten der Nationalstaat und starke Gewerkschaften Schutz. Heute fällt dies beiden zunehmend schwer. Abschottung hilft nur scheinbar, aber die Deglobalisierung benachteiligt vor allem Einkommensschwache, die aber wiederum von billigen Importen besonders profitieren. Der Ökonom Dani Rodrik vermutet deshalb in seinem „Globalization Trilemma“, dass sich Globalisierung, Nationalstaat und Demokratie ausschließen: China praktiziert Globalisierung und Nationalstaat und verzichtet auf Demokratie; die jüngsten Plebiszite in der Schweiz hatten zum Ziel, die Globalisierung zurückzudrehen und waren deutlich nationalstaatlich und demokratisch. Die EU ist der Versuch, Demokratie und Globalisierung zu vereinen – weshalb sie mit nationalstaatlichen Strukturen im Konflikt steht.

Praktisch verfolgen alle Länder eine Politik, um den Strukturwandel in einer flachen Welt erträglich zu machen, allerdings auf unterschiedliche Weise. Die einen schotten ihre Agrarmärkte ab (Europa), die anderen begrenzen die Beteiligung des Auslands am Produktivkapital (China), wieder andere erklären alles zu strategischen Industrien (USA). Kein Land ist ohne Protektionismus! Die noch vorhandene Offenheit im Warenhandel könnte sehr bald stark zurückgehen, wenn Kreislaufwirtschaft und 3-D-Druck ganze Wertschöpfungsketten neu verorten. Die wirtschaftlichen Anpassungen hierauf werden massive Wohlstandsverlagerungen erzeugen. Will sich Donald Trump schon heute dagegen wappnen?

Demokratie inkompatibel?

(6) Wichtige institutionsökonomische Gründe sprechen für diese Inkompatibilität, weil auf Demokratie, auf den Nationalstaat oder auf die Globalisierung ausgerichtete Institutionen häufig völlig unterschiedlichen Organisationsprinzipien genügen. Die wesentlichen Transaktionsstrukturen und -kosten unterscheiden sich fundamental. An der politischen Oberfläche wird dies an der Debatte sichtbar, ob Schiedsgerichte oder ordentliche Gerichte Konflikte lösen sollen (TTIP), ob der Arbeits­kräftebedarf der Unternehmen der Bereitschaft der Bevölkerung, Migration zu akzeptieren, unter- oder überzuordnen ist (Schweiz), ob im Notfall die Europäische Zentralbank oder das Parlament über Rettungshilfen entscheidet (Deutschland). Tatsächlich zeigten die Nobelpreisträger Robert Mundell und Marcus Fleming, dass sich freier Kapitalverkehr (Globalisierung), monetäre Autonomie (Nationalstaat) und eine Steuerung der Wechselkurse (fiskalische Demokratie) ausschließen.

Im Fokus der Attacken

Was folgt hieraus? Die Vorstellung von Donald Trump, mit einer Antiglobalisierungspolitik Wohlstand für die bisher „Abgehängten“ zu schaffen, dürfte auf lange Sicht nicht aufgehen. Leider wird ihm aber auch mehr Globalisierung nicht helfen, denn die Begünstigten der neuen Wachstumszentren der USA werden, wie die bisherigen Erfahrungen zeigen, kaum zum Teilen bereit sein. Seine vorherrschende Taktik, Deals zu machen, folgt der Idee ertragreicher Einzelverhandlungen, die sich durch das Fragmentieren der Handelsmöglichkeiten geradezu anbietet. Insgesamt dürfte die damit erzeugte Komplexität in politische Kompliziertheit umschlagen und kontraproduktiv wirken. Seine tektonische Platte dürfte also noch mehr unter Spannung geraten.

Etwas tritt hinzu, was gerade in den USA einen neuen wirtschaftlichen Aufstieg, der in den Worten von Ludwig Erhard „Wohlstand für alle“ gewährleistet, nachhaltig erschwert: Es hilft nicht, die besten Universitäten der Welt zu haben, Spitzentechnologien für die Welt auch auf Basis hoch talentierter Migranten aufzubauen, Weltmeister bei Nobelpreisen zu sein – auch hier ist die Migrationsbasis bedeutend –, wenn der Qualifikationsunterbau marode ist. Deutschland ist hier geradezu das Gegenstück zu den USA, und China entwickelt sich in eine ähnliche Richtung. Darum stehen beide Länder mit den Folgen dieser Strategie – den Außenhandelsüberschüssen – auch im Fokus der Attacken von Donald Trump.

Das Auseinanderklaffen einer wachsenden Bevölkerung mit akademischen Abschlüssen und einer Arbeiterschicht mit im Weltmaßstab fehlangepassten Qualifikationen wird dann zum Menetekel, wirkt zerstörerisch. Staatsphilosophisch betrachtet erinnert dies an den griechischen Historiker Polybios, der vor den Folgen von Wohlstand und der Anmaßung der Eliten warnte und dessen Ideen vom amerikanischen Philosophen Eric Hoffer aufgegriffen wurden: Wenn eine intellektuelle Elite kein Wirkungsfeld besitzt und eine Unterschicht sich von dieser verlassen fühlt und insbesondere an die Wirksamkeit der Vielzahl der Wirtschafts- und Sozialprogramme nicht mehr glaubt, dann entsteht eine gefährliche Mischung mit der Folge einer Dekonstruktion der Institutionen. In den USA geschieht dies, und in Europa war dieses Unterfangen mit ein Grund für den Brexit.

Was tun? Zunächst sollte Donald Trump – ganz wie China, Taiwan, Singapur oder Südkorea zuvor – Friedrich List lesen und eine Bildungsrevolution von ganz unten einleiten. Von Walter Eucken kann er lernen, das Erratische in der Wirtschaftspolitik, das seit Zeiten seiner Vorgänger Tradition hat, dringend zugunsten der „Stabilisierung der Erwartungen“ zurückzufahren. Schließlich ist der Abschied von der Vorstellung einer Allmacht des Staats – „God’s own country“ – einzuleiten, die vor allem in den wirtschaftlichen Außenbeziehungen gilt. Sie sind zu entpolitisieren.

Ludwig Erhards Lehren

Oder, um mit Ludwig Erhard zu sprechen: „Je weniger der Austausch von Waren und Dienstleistungen zwischen den Staaten als Instrument staatlicher Politik gehandhabt wird, desto geringer ist auch die Gefahr einer Vergiftung der internationalen Atmosphäre. … Die nüchternen kaufmännischen Überlegungen rücken dann in den Vordergrund; der ehrliche Wettbewerb der Leistung kann sich zwischen den Volkswirtschaften entfalten.“

Der Autor des Beitrags, Prof. Dr. Ulrich Blum, ist stellvertretender Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung und Vorsitzender ihres Wissenschaftlichen Beirates.

DRUCKEN
DRUCKEN