Vor 40 Jahren, am 5. Mai 1977, verstarb Ludwig Erhard im Alter von 80 Jahren. Beim Staatsakt am 11. Mai 1977 sprach unter anderem der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt. Wir dokumentieren eine – leicht gekürzte – Fassung seiner Ansprache. Die Originalfassung ist erschienen in: Ludwig Erhard – Erbe und Auftrag, Aussagen und Zeugnisse (herausgegeben von Karl Hohmann, veröffentlicht von der Ludwig-Erhard-Stiftung, Econ Verlag 1977).

Als Ludwig Erhard am 4. Februar dieses Jahres sein 80. Lebensjahr vollendete, haben ihm die Deutschen jene Hochachtung erwiesen, die sein Lebenswerk verdient – ein Werk, dessen Wirkungen über seinen Tod weit hinausreichen. Ludwig Erhard hat seinen Platz in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland schon zu Lebzeiten gefunden.

Er war der Schüler von Franz Oppenheimer gewesen, den man eher zu den freiheitlichen Sozialisten als zu den Liberalen zählen darf. Seine wirtschaftspolitische Heimat fand Ludwig Erhard jedoch bei den Vertretern der Freiburger Schule, bei den sogenannten Neoliberalen. Die Lehren Euckens und Hayeks waren für ihn – der Bundestagspräsident hat es schon berührt – ebenso wie für seinen Weggefährten Alfred Müller-Armack – die Leitbilder, nach denen er sich sehr weitgehend gerichtet hat.

Das hat schon die Denkschrift über die Möglichkeiten des Auf-und Umbaus der deutschen Wirtschaft erkennen lassen, die er 1943 und 1944 während der nationalsozialistischen Diktatur Carl Goerdeler schickte. Sie zeigte zugleich seinen Willen zum politischen Handeln nach Kriegsende. Als vor wenigen Monaten der Bundespräsident zur Feier von Ludwig Erhards 80. Geburtstag zum Abendessen gebeten hatte, wurde auch über jene Denkschrift gesprochen. Wer sie in diesen Tagen liest, wird finden: Sie imponiert noch heute und lässt die Konsequenz, die gedankliche Geradlinigkeit über mehr als 3o Jahre erkennen.

Die Überlegenheit des Marktes gegenüber staatlichem Dirigismus war für Professor Erhard bestimmende wirtschaftspolitische, ja bestimmende weltanschauliche Überzeugung. Auf ihr beruhte zum Beispiel der Entschluss, einen Tag nach der von den Alliierten angeordneten Währungsreform, nämlich am 2o. Juni 1948, die Bewirtschaftungsbestimmungen für über 400 Warengattungen aufzuheben. Er verkündete dies den Bürgern in einer Rundfunkrede mit den Worten: „Ab heute ist der einzige Be­zugsschein die Deutsche Mark!“

Wie wir heute wissen, wurde diese Entscheidung, die viele damals für ein höchst gefährliches Wagnis hielten und die auch bei Unternehmern Skepsis, Zweifel auslöste, das Signal zu einem neuen wirtschaftlichen Aufbruch.

Mit dem Beginn der fünfziger Jahre, zunächst und vorübergehend gefährdet durch die weltwirtschaftlichen Konsequenzen des Korea-Krieges, kam der Erfolg. Die Leistung des deutschen Volkes beim Wiederaufbau, das Tempo und Ausmaß des wirtschaftlichen Aufstiegs haben alle überrascht, möglicherweise auch ihn selbst. Das Ausland war es, das das Wort vom „deutschen Wirtschaftswunder“ geprägt hat. Er selbst sprach vom „Wohlstand für alle“, vor allem sprach er von „Sozialer Marktwirtschaft“.

Dies waren einfache und zugleich eingängige Formeln – Formeln, deren Botschaft bereitwillig und von vielen lange unterdrückt und gegängelt gewesenen Menschen aufgenommen und verstanden wurde. Sie trugen zur Popularität des damaligen Bundeswirtschaftsministers viel bei, ebenso sein anscheinend unzerstörbarer Optimismus, für den seine Zigarre quasi ein äußeres Symbol in jenen Jahren gewesen ist. Das Vertrauen in seine Botschaft war ohne Zweifel eine der wichtigsten An­triebskräfte bei der gewaltigen Aufbauleistung unseres Volkes nach dem Kriege.

Aber natürlich hätten seine wirksamen Worte, seine wirksamen Reden – hier im Bundestag und in tausend Versammlungen im Lande – allein nicht ausgereicht; entscheidend war vielmehr die wirtschaftspolitische Freisetzung aller Kräfte und aller Antriebe: bei den Arbeitern, bei den Angestellten, bei den Betriebsräten und Gewerkschaften genauso wie bei den Unternehmensleitern und den Banken, im Handwerk und Handel. Wir Sozialdemokraten waren häufig ganz anderer Meinung als Ludwig Erhard. Wie viele meiner politischen Freunde habe auch ich mich bisweilen sehr über ihn geärgert – wir haben scharf gegen ihn gestritten und auch polemisiert. Aber ich weiß schon seit Langem – und ich habe ihm dies in den letzten Jahren auch sagen können, zuletzt an jenem Abend beim Bundespräsidenten, von dem ich sprach: Der schnelle wirtschaftliche Wiederaufstieg nach 1948 wäre ohne Ludwig Erhard so nicht möglich gewesen. Und ohne die Grundlage des wirtschaftlichen Aufstiegs erscheint es nachträglich kaum vorstellbar, dass ein solides demokratisches inneres Gefüge unseres Staates so schnell hätte entstehen können.

„Der schnelle wirtschaftliche Wiederaufstieg nach 1948 wäre ohne Ludwig Erhard so nicht möglich gewesen.“ (Helmut Schmidt, 1977)

Gewiss bleibt immer aufs Neue darum zu ringen und zu entscheiden, wie wir zugleich dem sozialstaatlichen Auftrag des Grundgesetzes dienen sollen, an den wir verfassungsrechtlich gebunden sind, und zugleich die wettbewerbswirtschaftliche Ordnung ausbauen, für die wir uns politisch entschieden haben.

Ebenso gewiss ist, dass ohne wirtschaftliche Stabilität, ohne stetigen wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt weder ein kontinuierlicher innerer demokratischer Prozess noch eine zielstrebig auf die Verfolgung unserer eigenen Interessen gerichtete Außenpolitik für diesen Staat möglich sind. Dass seine Wirtschaftspolitik Erfolg hatte, ist wahrscheinlich der wichtigste Beitrag Ludwig Erhards zur Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland gewesen.

Ludwig Erhard hat zu seinen Amtszeiten mehr Zustimmung und Anerkennung, mehr Popularität erfahren als die meisten anderen deutschen Politiker in diesem Jahrhundert. Gleichwohl ist seine Arbeit als Bundeskanzler heute vor etwas mehr als zehn Jahren zu Ende gegangen, weil er von ihm selbst erkannte wirtschaftspolitische Notwendigkeiten, denen er entsprechen wollte, letztlich nicht mehr meistern konnte.

Dies hatte sich schon eine gewisse Zeit vorher angekündigt: Man drängte seine Ratschläge, seine Meinungen, seine Mahnungen, seine Vorschläge beiseite – und zwar auf mehreren Seiten sowohl des politischen als auch des wirtschaftlichen Spektrums. Dabei spielte auch eine Rolle, dass ihm ein ungestörtes Vertrauensverhältnis zu den Gewerkschaften und den Organisationen der Arbeitnehmerschaft nicht gelungen war.

Gewiss hatte Ludwig Erhard die Gefahren, die in den sechziger Jahren die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes bedrohten, schon lange heraufziehen sehen. Er hatte sich den Konzentrationstendenzen, der einseitigen Vermögensakkumulation in großen Unternehmen mit dem Entwurf seines ersten Kartellgesetzes entgegengestemmt. Die Eigeninteressen der Gruppen und Verbände hatten aber in den parlamentarischen Gremien sein ursprünglich scharfes Schwert weitgehend abgestumpft.

Als er, entsprechend ihrem tatsächlich gewachsenen Werte, die Deutsche Mark aufwerten wollte, fiel wegen des erbitterten Widerstandes in unserer Industrie die Aufwertungsrate erheblich zu niedrig aus; die »importierte Inflation« konnte nicht ausreichend eingedämmt werden.

Trotz alledem – und viele andere Beispiele ließen sich anführen – hat man dann Ludwig Erhard für die Rezession der Jahre 1966 und 1967, die im Gegensatz zur weltweiten Rezession nach 1974 fast ausschließlich auf unser Land beschränkt war, die alleinige Verantwortung zuschieben wollen.

Die Ereignisse im Zusammenhang mit seinem Rücktritt als Bundeskanzler haben Ludwig Erhard, nicht nur den Politiker, sondern mehr noch den Menschen getroffen, den verletzbaren Menschen getroffen, der er doch auch war. Er wurde dem hartherzigen Urteil auch solcher Zeitgenossen und Weggenossen unterworfen, die sich seinen Appellen am härtesten widersetzt hatten, und musste nun – wie viele Politiker – ertragen, dass Dank nur dem gesagt wird, der den Erfolg festhalten kann.

Dies alles liegt über ein Jahrzehnt zurück. Heute sollte jedermann erkennen, dass jedermann ihm Dank schuldet. Nicht nur die Freunde, sondern auch die damaligen Gegner in seiner eigenen Partei; nicht nur die stillen Freunde, sondern auch die lauten Gegner in meiner Partei. Bei den Freien Demokraten, mit denen er über die längste Strecke seines politischen Weges zusammengearbeitet hat, wird sich wohl kaum einer erst überwinden müssen, um diesem Manne an seiner Bahre nicht nur Respekt, sondern auch Dank zu bezeugen.

Ludwig Erhard hat eine Lebensleistung vollbracht, wie sie nur wenigen vergönnt und gegeben ist. Dass er nicht schon auf dem Höhepunkt seiner Leistung seine Ämter und seine Aufgaben in die Hände Jüngerer hat legen dürfen, liegt in der Natur eines demokratischen Staatswesens. Dieser Umstand darf unseren Blick nicht trüben und kann seine Lebensleistung nicht verdunkeln.

Professor Erhard hat sich immer als ein Mann verstanden, der dem Ganzen diente. Und darin hat er gewiss recht gehabt. Wenn er schon über weite Jahre seiner Amtszeit in den Bundesregierungen fast zweier Jahrzehnte nie ein enger Parteimann gewesen war – der Herr Bundespräsident hat dies berührt –, so ist er schließlich im letzten Jahrzehnt seines Lebens mit seinen politischen Interessen, seinen politischen Neigungen, aber eben auch seinem wirtschaftspolitischen und seinem menschlichen Rat weit über den Rahmen seiner Partei hinausgegangen, der er gleichwohl nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich stets die Treue hielt.

Wenn man in den letzten Jahren für die Bundesregierung zu ökonomischen Fragen hier im Bundestag in kontroverser Weise zu sprechen hatte, dann war es oft sehr tröstlich, dass Ludwig Erhard gerade gegenüber in einer der ersten Reihen saß und aufmerksam zuhörte, sodass der Sprecher hier an diesem Pult von Erhards Gesicht ablesen konnte, dass er Interesse fand – und auch Widerspruch – und auch Zustimmung. Dies kam auch vor.

Wenn es ein Vermächtnis Ludwig Erhards gibt, dann muss man es, dann darf man es vielleicht so verstehen: Die staatlichen Instanzen haben die Verpflichtung, die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen so zu entwickeln, dass sich die gestaltenden Kräfte der Menschen im Markte frei entfalten können. Dabei sind wir aber verpflichtet, immer aufs Neue die Frage zu stellen, ob die alten Bedingungen auch neuen Anforderungen gerecht werden oder ob sie geändert oder ergänzt werden müssen. Denn letzten Endes – und das wusste Ludwig Erhard ganz gewiss, und dem galten seine moralischen Appelle – geht es nicht um Markt oder Wettbewerb um ihrer selbst willen. Sondern letzten Endes und schließlich geht es um das Ganze der Person wie der Gesellschaft, es geht um soziale Gerechtigkeit und um sozialen Frieden.

Dazu brauchen wir Zuversicht und Vertrauen. Ludwig Erhard hat sein Vertrauen nie aufgegeben, sein Vertrauen auch in die zukünftige Leistung des deutschen Volkes. Im Gegenteil: Er hat es stets ausgestrahlt, und er hat es auf andere übertragen können. Dieses Zukunftsvertrauen, das er hatte, das auf sittliche Grundwerte gegründet war, das er anderen gegeben hat, das war und das bleibt gerechtfertigt.

Ludwig Erhard soll uns darin ein Vorbild bleiben. Wir verneigen uns vor ihm in Respekt und in Dankbarkeit.

Kranzniederlegung am 4. Mai 2017

Am 4. Mai 2017 legten unter anderem der Vorsitzende der Ludwig-Erhard-Stiftung und der Bürgermeister von Gmund am Tegernsee im Beisein von Ilse Aigner MdL Kränze an Ludwig Erhards Grab nieder. Sie gedachten damit des Todes von Erhard am 5. Mai 1977. >> weiterlesen

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